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Imhotep, der Junge aus Heliopolis - Kapitel 28

Romane/Serien · Spannendes
Kapitel 28 – Tragödie im Königspalast


Noch bevor der Hahn krähte und die Morgenröte den Himmel in violette Farben tunkte, eilte Bürsa durch die Nebengebäude des Königspalastes und klopfte kräftig gegen die Türen der Höflinge. Bürsa wirkte gehetzt und hatte für morgendliche Grüße nichts übrig, denn heute war Tutanchamuns neunzehnter Geburtstag und schon am Vormittag würden die ersten Gäste erscheinen. Alles musste unbedingt perfekt hergerichtet werden. Zahlreiche Segelschiffe aus Theben, Assuan und aus der heiligen Nekropole Abydos hatten bereits in der Nacht im Hafen von Peru-nefer geankert. Selbst der Vizekönig von Nubien, einige Abgeordnete aus Mittanni sowie aus dem persischen Reich waren eingeladen worden.
Die vertrauten Zofen der Königin waren, wie jeden frühen Morgen bevor die Sonne aufging, bereits wach und fleißig. Neferu und Chenut schminkten Nelitites bei Kerzenschein vor einer Silberschale, weil die Jüngste für ihre extravagante Erscheinung stets ihre Unterstützung und die meiste Zeit benötigte. Sogar Menhabne war in der frühen Morgenstunde in ihrem Schlafgemach anwesend und grad dabei dem Mädchen unzählige Haarteile in ihre Perücke einzuflechten, wobei Nelitites ihre Artgenossinnen allerdings Anweisungen gab. Nelitites hatte wiedermal eine konkrete Vorstellung, wie sie auf dieser wichtigen Festlichkeit erscheinen würde.
Das gestrige Gezanke mit dem Nesthäkchen war längst vergessen. Die Zofen waren wie Geschwister zueinander, denn ihnen war ihre privilegierte Position durchaus bewusst. Neid und Unmut duldete Anchesenamun unter ihren Vertrauten nicht, schließlich mangelte es ihnen weder an Lebensqualitäten, noch wurden sie von der Königin unterjocht. Selbst die Dienerschaft im Königspalast verhielt sich gegenüber den Vertrauten stets respektvoll und trachtete danach, ihre Freundschaft zu gewinnen. Niemand durfte ohne Zustimmung der Königin ihre Dienste jeglicher Art beanspruchen, selbst wenn ein Herrscher aus einem anderen Königreich zu Besuch erschien und sich in eine der hübschen Zofen verguckte – die Vertrauten der Königin waren für jede Person absolut tabu. Dafür war es den vertrauten Zofen aber nicht gestattet, eine Liebschaft anzufangen oder sich gar zu vermählen, insofern die Königin nicht zustimmte oder es gar anordnete.
Menhabne hatte es einmal gewagt, sich auf ein heimliches Techtelmechtel mit dem Küchenmeister der Palastküche einzulassen. Aber Anchesenamun konnte man selten etwas verheimlichen und als sie schließlich dahinter gekommen war, hatte sie diesen weitaus älteren Mann bespitzeln lassen und herausgefunden, dass er bereits vermählt war und eine Familie ernähren musste. Der Küchenmeister war offensichtlich ein Schürzenjäger gewesen, denn er hatte in den Schänken stolz damit geprahlt, dass er eine Vertraute der Königin rumkriegte und hatte sogar Wetten abgeschlossen, dass er die anderen vertrauten Weiber ebenfalls erfolgreich verführen würde. Daraufhin hatte die Königin ihren Küchenmeister auspeitschen lassen und ihn zur lebenslangen Zwangsarbeit in den Steinbrüchen verurteilt. Anchesenamun hatte zwar nach drei Monaten Gnade walten lassen, aber dafür hatte sie den Küchenmeister samt seiner Familie aus Ägypten verbannt. Menhabne hatte das Schlimmste befürchtet, hatte sich tief vor Anchesenamun verbeugt und bitterlich weinend um Verzeihung gebeten, weil sie die Königin enttäuscht und betrogen hatte.
Anchesenamun war zwar eine liebenswerte Königin, die stets bemüht war gerecht zu handeln, aber wenn sie zornig war oder enttäuscht wurde, reagierte sie meistens unbarmherzig und radikal. Sie hatte Menhabne ein einziges und auch ein letztes Mal gewarnt und sie damit bestraft, ihr die Augen geöffnet zu haben, denn ihre Liebe zu diesem älteren Mann war aufrichtig gewesen. Die Wahrheit hatte Menhabne zutiefst bestürzt und ihr fester Glaube an die wahre Liebe untergraben. Zudem musste sie sich seitdem stets verschleiern, sobald ranghoher Besuch erwartet oder im Palast ein Fest gefeiert wurde. Dies hatte Menhabne auch als Strafe aufgefasst und nicht, dass die Königin meinte, dass ihre Zofe hübscher aussehen würde, als sie selbst. Aber manchmal verlangte Königin Anchesenamun von all ihren Vertrauten – außer von Bürsa –, dass sie sich tagsüber verschleiern sollten, dann, wenn sie missgelaunt und mit allem unzufrieden war. Dann war es ihren Zofen nicht einmal gestattet, zu sprechen, weil die Königin niemanden sehen und hören wollte. Nelitites fürchtete sich ganz besonders vor dem Zorn der Königin. Für sie war diese Kleiderordnung die allerschlimmste Strafe, weil sie unbedingt gesehen und bewundert werden wollte. Aber selbst wenn sich das Modepüppchen verschleiern musste, weil die Königin schlecht gelaunt war oder das Nesthäkchen ihre Nerven wiedermal zu sehr strapaziert hatte, fiel sie mit ihren selbstgeschneiderten, farbenprächtigen Burkas trotzdem auf, sowie mit ihren kunstvollen Hennabemalungen, die ihre Hände und Füße schmückten, und zog somit trotzdem wiedermal alle Blicke auf sich, sodass einige hohe Damen gar überzeugt wurden, dass eine Burka auch durchaus reizvoll, geheimnisvoll und vor allem schick aussehen konnte.

Nelitites` neue Haarpracht beanspruchte einige Stunden, denn diesmal hatte sie entschieden, dass sie eine kunstvolle, spiralgelockte Perücke trägt, wobei seitlich unzählige lange geflochtene Haarteile zu einem einzigen langen Zopf gebunden werden sollten. Doch obwohl Neferu und Chenut naserümpfend mit ihren Köpfen schüttelten und ihr davon abrieten, malte sich Nelitites mit einem Kajalstift einen Schönheitsfleck auf die Wange.
„Neli, was machst du denn da schon wieder? Dieser komische Punkt auf deiner Backe sieht ja wie ein Muttermal aus. Findest du das etwa schön?“, fragte Chenut verwundert. „Jede Frau ist doch glücklich, wenn ihr Gesicht makellos aussieht.“
„Lasst sie doch, Neli hört doch sowieso nicht auf uns“, schaltete sich Menhabe schnippisch ein. „Soll sie sich doch wieder zum Gespött machen lassen.“
„Ach, was wisst ihr schon davon? Später machen es mir sowieso wieder alle nach“, konterte Nelitites und streckte ihnen die Zunge raus. „Und du, Menhabne, brauchst dir sowieso keine Gedanken darüber zu machen, wie du dich schminken sollst und welches Kleid du trägst. Eine schlichte Burka steht dir ja immer gut“, kicherte das Nesthäkchen schadenfreudig, woraufhin Neferu und Chenut sich belustigt die Hände vor ihre Münder hielten und prusteten. Menhabne lächelte erhaben und drehte sich dabei mit ausgebreiteten Armen einmal um ihre Achse.
„Tja, ich muss mich verschleiern, weil ich eben die Hübscheste von euch bin. Jeder hohe Herr wird denken, ich sei noch attraktiver als unsere Königin. Somit werdet ihr, ihr gemeinen Biester, gar nicht beachtet.“
Daraufhin empörten sich die Zofen lachend und bewarfen Menhabne mit Kuscheltiere, die von Nelitites jeden Morgen nach dem Aufstehen liebevoll auf ihre Bettdecke aufgestellt wurden. Menhabne stellte sich hinter das Nesthäkchen, die immer noch auf dem Schemel hockte und in die Silberschale blickte, knuddelte sie und forderte sie auf, dass sie ihr langes Haar flechten und ihre Augenlider schminken soll. Nelitites schaute sie verdutzt durch den Spiegel an und grübelte.
„Ja aber … aber wozu denn, Menhabne? Das verstehe ich jetzt nicht. Man wird dich unter der Burka doch sowieso nicht erkennen. Ich hab jetzt keine Lust, dich zu schminken und dein Haar zu machen. Ich bin noch nicht ganz fertig“, antwortete sie spitz.
Menhabne verdrehte genervt ihre Augen und tätschelte auf ihr Bein.
„Hop-Hop, jetzt aber geschwind runter vom Schemel, du kleine freche Göre. Ich bin jetzt dran. Du tust gefälligst, was ich dir sage, sonst lege ich dir einen lebenden, dickenfetten Skarabäus (Mistkäfer) in dein Bett, der dir nachts über dein Gesicht krabbeln wird“, sprach sie fies grinsend in ihr Ohr, und schmatzte auf ihre Wange. Daraufhin weitete Nelitites erschrocken ihre Augen, stand sofort auf und bürstete Menhabnes lange Haarpracht. Allein nur dieser Gedanke, dass man ihr irgendein Krabbelviech ins Bett legen würde, und sei es nur spaßhalber gemeint, machte sie sofort gefügig.
Plötzlich platzte Bürsa herein und klatschte energisch in ihre Hände, woraufhin die Zofen sofort stramm vor ihr standen. Bürsa diktierte jeder Dame schnell sprechend, welche Aufgabe sie zu erledigen hätten, wobei Nelitites sie ehrfürchtig anblickte und nervös mit ihren Augenlidern zwinkerte. Dann eilte Bürsa wieder hinaus, ohne dabei die Tür zu verschließen.

Jede Zofe und jeder Palastdiener blieb kurz stehen, um sich vor Bürsa zu verneigen und ihr einen guten Morgen zu wünschen, wenn sie an ihnen vorbei marschierte. Manchmal tadelte sie ihre Untertanen und schimpfte, weil die Kleidung ihrer Meinung nach völlig zerknittert war und sie solch ein schlampiges Aussehen nicht duldete. Dann schickte sie die Dienerschaft in ihre Gemächer zurück, um sich umzuziehen. Danach sollten sie sich aber wieder sofort bei ihr melden, damit sie die neue Kleidung kontrollieren konnte.
Im Speisesaal war der dreißig Meter lange Tisch bereits gedeckt, trotzdem richtete Bürsa einige Servietten sowie das Besteck und schob hier und da einen Stuhl zurecht. Als sie schließlich im Thronsaal erschien, war sie sichtlich schockiert. Auf der Couchgarnitur lümmelten einige junge Herren herum, die offensichtlich die Nacht zum Tage gemacht hatten, und vergnügten sich mit nackten Sklavinnen. Sie hatten mitten in der Nacht die Wüstenoase verlassen, um ihre private Feier im Königspalast fortzuführen. Nachdem aber die meisten Haremsdamen irgendwann ermüdet waren, waren die Herren einfach dreist hinauf zum Thronsaal gezogen, um sich dort weiter zu amüsieren. Die halbhohen Tische waren völlig verschmutzt, zahlreiche geleerte Weinamphoren lagen auf dem Boden und die Wasserpfeife rauchte vor sich hin. Als Bürsa mit einem Besen auf die Herrschaften zornig zuging, sprangen die splitternackten Sklavinnen sofort auf und flitzten aus dem Thronsaal hinaus. Einer der Trunkenbolde hielt seinen Kelch in die Höhe und lallte: „Ein Proschit auf Eje, der reschtmäschige Thronfolger von Äschypten!“
Bürsa runzelte die Stirn. Was meinte dieser junge Banause bloß damit, fragte sie sich kurz. Eje ist nicht der Thronfolger, sondern nur der ehemalige Wesir von Ägypten. Diese jungen Kerle hatte sie zuvor nie gesehen, was erlaubten sie sich bloß? Kurzerhand schlug sie ihm mit dem Besenstiel seinen Weinkelch aus der Hand, woraufhin der adelige Herr aufsprang und sie wütend anschaute.
„Ihr solltet euch alle was schämen, in dieser frühen Morgenstunde immer noch rumzuhurren! In wenigen Stunden werden hohe Herren mit ihren braven Familien hier erscheinen. Was für eine Schweinerei ihr Strolche veranstaltet habt. Macht, dass ihr schleunigst wegkommt, oder ich rufe die Palastwächter!“, brüllte Bürsa einschüchternd.
Der junge Mann entriss ihren Besen, zerbrach diesen über sein Knie und schubste sie. Plötzlich wirkten die jungen Männer putzmunter und nüchtern.
„Du wagst es in der Tat, in diesem Ton mit mir zu reden und mich einen Strolch zu heißen, du schäbige Magd? Weißt du denn nicht, wer ich bin? Ich bin Minchaef, ein Enkelsohn des Eje. Ich werde dich auspeitschen lassen! Oder besser noch, ich werde es auf der Stelle selbst tun!“
Um vor seinen Kumpanen glaubwürdig zu erscheinen, packte der junge Mann mit dem gepflegten Oberlippenbart die Zofe und zerrte sie hinüber zum Kellerabgang, aber ganz so einfach ließ sich die korpulente Bürsa nicht abführen. Sie befreite sich beherzt aus seinem harten Griff und blickte ihm warnend in die Augen.
„Nur zu, peitsche mich aus und verantworte deine unbedachte Tat vor der Großen königlichen Gemahlin. Dann wird dir aber die doppelte, wenn nicht gar die dreifache Pein bevorstehen, geehrter Minchaef. Das garantiere ich dir. Ich bin nämlich eine Vertraute der Königin, du Enkelsohn des Eje!“, fauchte sie ihm ins Gesicht. Dann grinste sie ihn erhaben an. Minchaef blickte verstohlen auf ihre Sandalen und sah einen goldenen Ring an ihrer Zehe haften. Daraufhin ließ er Bürsa finster blickend los, schubste sie erneut und forderte seine jugendlichen Freunde auf, dass sie gemeinsam mit ihm den Thronsaal verlassen sollten. Während die jungen Männer verdrossen hinaustorkelten, zog Minchaef seinen Dolch aus der Scheide und deutete mit der Klinge auf sie.
„Das wirst du mir eines Tages büßen, Weib!“, rief er Bürsa drohend zu.
Bürsa hatte die Hände auf ihrer üppigen Hüfte abgestützt und schüttelte verständnislos mit dem Kopf. Es war ihr schon mehrmals aufgefallen, dass insbesondre die jungen Adeligen wenig Respekt zollten. So etwas hatte es zu Echnatons Zeiten nicht gegeben, geschweige denn unter der Herrschaft von Amenhopis III. Diesbezüglich musste Pharao Tutanchamun unbedingt härter durchgreifen, denn diese Banausen waren nicht viel älter als er selbst. Darüber musste unbedingt mit der Königin diskutiert werden, meinte Bürsa. Diese Flegel hatten einen regelrechten Saustall hinterlassen und obendrein ihren Besen zerbrochen. Es musste alles schleunigst aufgeräumt und geputzt werden, und als Nelitites mit einem Bastkörbchen herbeigeschlendert kam, lockte Bürsa die jüngste Zofe mit dem Finger zu sich herbei. Das Nesthäkchen sah wiedermal aus, als wäre sie eine Prinzessin anstatt eine Zofe.
„Neli, sorge dafür, dass hier alles aufgeräumt und blitzblank geputzt wird. Und frage mich jetzt bloß wieder nicht, wo dies und das, wo der Putzlumpen und der Eimer und sonstiges steht, sowie wer dir dabei behilflich sein soll. Es ist mir nämlich schnurzpiepegal. Verschone mich vor deiner dämlichen Fragerei, verstanden?! Los, ausführen!“
Nelitites neigte ihren Kopf seitlich und blinzelte dabei verkrampft.
„Ich kann jetzt aber nicht, geehrte Bürsa, weil ich in den Garten will, um für die Königin ein paar Blumen zu pflücken“, sagte sie mit ihrer piepsigen Stimme.
„Dann machst du die Schweinerei eben danach weg!“
Nelitites überlegte kurz und blickte sie dabei unschuldig an.
„Das-das geht aber leider nicht, weil ich dann ganz schnell in die königliche Schneiderei muss.“ Bürsa senkte kapitulierend ihren Kopf, schnaufte genervt, machte einen abfälligen Wink und scheuchte sie davon. Nelitites` Ausrede hatte Priorität. Das Nesthäkchen hatte sich wiedermal geschickt vor unangenehmer Arbeit gedrückt. Wie so oft.
„Alles muss man selber machen“, murmelte Bürsa verdrossen vor sich hin.

Nelitites schlenderte über den Palasthof zum königlichen Garten hinüber, summte dabei ein Lied vor sich hin und machte plötzlich eine grausige Entdeckung. Sie ließ das Bastkörbchen einfach fallen, schlug ihre Hände auf die Wangen und kreischte laut. Immer und immer wieder. Ihre schrillen Schreie klangen entsetzlich, sodass man glaubte, ihr sei etwas zugestoßen. Bürsa schrubbte grad den Marmorboden, weil Wein verschüttet wurde, als sie Nelitites kreischen hörte. Die oberste Zofe verdrehte ihre Augen und stöhnte dabei genervt.
„Was ist denn nun schon wieder los? Hat ein Grashüpfer sie etwa angesprungen? Dieses junge Ding macht mich noch wahnsinnig!“
Anchesenamun schlummerte noch im Bett und öffnete ihre Augen, als sie dieses entsetzliche Gekreische hörte. Sie verhüllte ihren nackten Körper mit einem hauchdünnen Gewand und eilte schlaftrunken zum Balkon. Sie wuschelte sich ihre dichte Haarmähne aus dem Gesicht und blickte erschrocken hinunter. Tutanchamun lag splitternackt, mitten im Palasthof, regungslos auf dem Boden, direkt neben einen blutbefleckten Kalksteinblock. Sein schwarzer Hengst lief frei herum und wieherte. Als schließlich der Erste Leibarzt herbeieilte und Pharaos Brustkorb nach seinem Herzschlag abhörte, stellte er fest, dass der König auch nicht mehr atmete und seine Körpertemperatur gesunken war. Wortlos schüttelte er seinen Kopf.
Königin Anchesenamun rannte auf ihn zu, stürzte kniend nieder und nahm ihren Gemahl in ihre Arme. Sie keuchte und blickte ihn entsetzt an.
„Hör auf, Tut. Hör sofort mit dem Unsinn auf!“, flehte sie, während sie ihn mit feuchten Augen rüttelte, aber seine Glieder sowie sein Kopf hingen nur schlaff herab. Bestimmt wollte er sie wiedermal nur erschrecken. Gleich würde er mit geschlossenen Augenlidern schmunzeln und sich köstlich amüsieren, weil sie wiedermal auf ein seiner derben Scherze hereingefallen war, hoffte die Königin.
Die vertrauten Zofen rannten herbei und waren schockiert. Anchesenamun blickte verzweifelt zu ihren Vertrauten hoch.
„Nein … Bitte nicht. Sagt auf der Stelle, dass es nicht wahr ist“, schluchzte sie. „Mein geliebter Tut darf mich doch nicht verlassen! Er darf nicht tot sein!“
Sie hatte ihrer Mutter, Nofretete, doch damals geschworen, jederzeit auf ihren Halbbruder aufzupassen, damit ihm nichts geschieht. Aber als sich die Zofen umarmten und bitterlich weinten, realisierte Anchesenamun endgültig, dass ihr Gemahl nie wieder scherzen würde.
Die Königin hielt Tutanchamuns schlaffen Körper in ihren Armen, schunkelte ihn und weinte herzzerreißend. Der einzige Mensch, ihr Bruder, dem sie in dieser gefährlichen Welt bedingungslos vertrauen konnte und aufrichtig geliebt hatte, war nun nach Westen gegangen.
Der Leibarzt befahl zwei Palastwächter, dass sie Pharaos Leichnam sofort hinauf in das königliche Schlafgemach tragen sollten. Anchesenamun schrie ihre Trauer laut heraus, als ihre Zofen sie umarmten und gemeinsam mit ihrer Königin weinten. Bürsa stand nur apathisch da und verfolgte regungslos, wie Pharaos Leichnam weggetragen wurde.

Was für ein tragisches Unglück sich anscheinend zugetragen hatte. Es schien offensichtlich zu sein, dass der König auf den blanken Rücken seines Pferdes gestiegen war, um ein paar Runden im Hof zu traben. Dies tat er des Öfteren, obwohl ihm der Oberaufseher des Palasthofes davon jedes Mal abgeraten hatte. Ein Pferd wäre, aufgrund seines ungestümen Wesens, keinesfalls zum Reiten geeignet, sondern nur als ein Zugtier oder zum bespannen eines Streitwagens zu gebrauchen, meinte er. Sogar Bürsa war zuerst davon ausgegangen, dass Tutanchamun abgeworfen wurde und mit dem Kopf unglücklich auf dem Kalksteinblock aufgeschlagen war. Direkt an seinem Hinterkopf klaffte eine Wunde und geronnenes Blut haftete an seinen Ohren und seiner Nase. Zudem hatte der Pharao einen offenen Beinbruch erlitten, allein an dieser schweren Verletzung wäre er vermutlich irgendwann nach wochenlangen Qualen gestorben. Der Leibarzt bestätigte, dass Tutanchamun sofort tot war und er wenigstens nicht gelitten hätte.
Weitere Leibärzte waren mittlerweile im Schlafgemach des Pharaos erschienen. Tutanchamun lag auf seinem Bett und machte den Anschein, dass er nur schlafen würde. Während die Ärzte ihn vom geronnen Blut säuberten, sein gebrochenes Bein vorsorglich richteten und es mit Leinentüchern umwickelten, blickte Bürsa in seinem Schlafgemach verwundert umher. Diese ungewöhnliche Ordnung weckte ihr Misstrauen, weil sein Bettbezug frisch überzogen worden war und es schien, als hätte er diese Nacht gar nicht darin geschlafen. Tutanchamun war aber immer sehr unordentlich gewesen und hatte üblicherweise jeden Morgen ein regelrechtes Chaos hinterlassen. Meistens spielte er noch bis spät in die Nacht mit Anchesenamun oder mit seinen beiden Leibwächtern eine Partie Senet, wobei er überall Kerzen aufstellte. Oftmals las er auch abends einige Schriftrollen oder probierte seine neu geschneiderten Gewänder und Schmuck an, bis er müde ins Bett ging. Niemals räumte er etwas wieder davon zurück. Bürsa erinnerte sich, dass der Pharao am gestrigen Abend früh zu Bett gehen wollte, davor aber noch nach einer Amphore Wein und Weihrauchharz verlangt hatte. Wo aber waren die Weinamphore, die Messingschale und der Kelch geblieben und wer hatte sein Bett überzogen? Sie hatte es jedenfalls noch nicht veranlasst. Als merkwürdig empfand sie auch, dass der Pharao angeblich früher als sie selbst aufgestanden war, ohne dass sie dies bemerkt hatte. Denn Tutanchamun war ein Langschläfer, der meistens erst gegen Mittag aus dem Bett stieg, insofern keine wichtigen Termine im Audienzsaal geplant waren.
Während im Königspalast mittlerweile Aufruhr herrschte und das oberste Stockwerk sogar von Soldaten belagert wurde, verschwand Bürsa unbemerkt aus dem königlichen Schlafgemach, um den Unfallort genauer zu untersuchen. Minchaefs Aussage zufolge, dass Eje zum Thronfolger gewählt wurde ließ sie vermuten, dass die Großen des Landes letzte Nacht wiedermal abgestimmt hatten. Bürsa erinnerte sich, als vor über dreizehn Jahren ein Votum in der Wüste abgehalten worden war und man am nächsten Morgen Pharao Echnaton leblos im Thronsaal aufgefunden hatte, dass neununddreißig geleerte Weinamphoren für seinen Tod angeblich verantwortlich gewesen sein sollten. Obwohl die damaligen Leibärzte dies sogar amtlich bestätigt hatten, war Bürsa von dieser fragwürdigen Tatsache aber nicht überzeugt gewesen. Die damals achtzehnjährige Satamun hatte ihr jedoch davon abgeraten, diese heikle Angelegenheit weiterhin zu hinterfragen, falls sie weiterleben wollte. Erst nachdem die junge Tempelpriesterin herausgefunden hatte, dass Bürsa eine vertrauenswürdige Person zu sein schien, hatte sie ihr flüsternd erklärt, dass die neununddreißig Amphoren nur als Zeichen für die Götter dienten, dass Echnaton weder verstorben noch ermordet, sondern für die Götter geopfert wurde. Seitdem trug Bürsa dieses dunkle Geheimnis in ihrem Herzen und hatte es weder Anchesenamun noch Tutanchamun jemals gebeichtet, um sie vor einer möglichen Gefahr zu beschützen. Eine Mordanklage gegen einen mächtigen Großen des Reichs hätte das junge, unerfahrene Königspaar nur unnötig in Lebensgefahr gebracht. Bürsa wusste bereits nachdem der alte Pharao Amenophis gestorben war, dass im Grunde die Staatsmänner das Land regierten und der König nur als Prestige diente, für die Nachbarstaaten und für die Götter. Nur ein Pharao der sich bereits zu Beginn seiner Herrschaft auch gnadenlos durchzusetzen vermochte, wenn möglich noch irgendein Wunder vollbrachte, indem er monumentale Gebäude oder Statuen erschaffen ließ und dafür sorgte, dass die Nilschwemme nicht ausblieb, damit das Volk nicht hungerte, wurde respektiert und als einen lebenden Gott wirklich akzeptiert.

Bürsa strich mit ihren Händen mehrmals über den blutverkrusteten Kalksteinblock. Sie suchte nach einem Zeichen, nach einem Hinweis dafür, dass auch Tutanchamun für die Götter geopfert worden war. Plötzlich entdeckte sie im Sand etwas Dunkles. Sie scharrte mit dem Fuß, bis ein abgerissener Kobrakopf zum Vorschein kam. Bürsa runzelte die Stirn und versuchte die Situation logisch zu rekonstruieren.
Vielleicht wurde der Hengst, nachdem der Pharao auf dem blanken Rücken aufgestiegen war, von einer Kobraschlange aufgescheucht worden, wobei das Pferd mit seinen Vorderhufen hochgeschreckt war und die Schlange zertrampelt hatte und der König deswegen rücklings gestürzt war. Möglich, aber wo war dann der Schlangenleib geblieben? Zudem fehlten jegliche Spuren im Sand die darauf hinwiesen, dass sich eine Kobra über den Hof geschlängelt hatte. Dies könnte also durchaus ein Zeichen für die Götter sein, dass der Schutzpatron des Pharao versagt hatte, weil Tutanchamun des Throns nicht würdig sei, überlegte sie.
Bürsa nahm das Schlangenhaupt mit zwei Fingern und schleuderte es auf dem Komposthaufen. Die Königin durfte davon keinesfalls etwas erfahren, weil sie sofort Eje, dem sie schon immer verhasste Gefühle entgegengebracht hatte, des Mordes beschuldigen würde, zumal es sich herausstellen würde, dass er letzte Nacht zum rechtmäßigen Thronfolger gewählt worden war. Sie würde ihre Position erheblich überschätzen, das ganze Königshaus rebellisch machen und Ejes Hinrichtung fordern, was aber niemals vollstreckt werden würde. Sobald ein Pharao verstarb, war der Thronfolger unantastbar und wurde genauso wie ein König angesehen. Für eine Mordanklage mussten handfeste Beweise vorliegen und keine Indizien.
Sicherlich war es eine Verschwörung und irgendjemand war einflussreich genug gewesen, diesen Mord wie einen Unfall erscheinen zu lassen. Die Königin zu beseitigen, wäre demnach um einiges unproblematischer. Bürsa konnte die Königin also nur schützen, indem sie schwieg und sie weiterhin an ein tragisches Unglück glauben ließ. So wie sie all die Jahre zuvor geschwiegen hatte.

Mittlerweile war auch Satamun im Königspalast erschienen. Obwohl sie äußerst beunruhigt war, merkte man ihr es nicht an. Sie marschierte einfach quer durch die Empfangshalle und ignorierte jede Verneigung sowie die freundlichen Gesten, die man ihr entgegen brachte. Etliche Würdenträger des Ptah und selbstverständlich auch Amunpriester standen ratlos da und mutmaßten, was genau überhaupt passiert war. Als Satamun den Thronsaal betrat, blieb sie zuerst stehen und schaute sich mit regungsloser Miene um. Unzählige Priester und Höflinge hatten sich vor dem Treppenhaus versammelt und diskutierten aufgebracht miteinander.
Vor dem erhöhten Horusthron lagen unzählige Blumensträuße auf dessen Treppenstufen sowie auch auf dem gepolsterten Sitz, was in dieser Situation irritierend war und durchaus zu schrecklichen Vermutungen führte. Es war üblich, wenn Pharaos Geburtstag gefeiert wurde, dass vor dem Thron Blumensträuße niedergelegt wurden, aber wenn selbst auf dem Sitz welche lagen bedeutete dies, dass der Horusthron verwaist ist, weil der Pharao verstorben war. Aber zu Pharaos Geburtstagen wurden immer wieder Blumen auch auf dem Sitz abgelegt, weil der König ansonsten die Treppenstufen zum Thron gar nicht hätte besteigen können. Außerdem wurde noch keine offizielle Todesmeldung des Pharao verlautet, zudem wurden vor dem Thron bislang noch keine kniende Isis-Statuen aufgestellt worden, was dann nun wirklich eindeutig gewesen wäre.
Die Göttin Isis wurde meistens als eine junge, kniende Frau dargestellt, mit einem Thronsitz auf ihrem Haupt, wobei sie ein Anch-Kreuz in die Höhe hielt. Ein Anch-Kreuz war ein heiliges Symbol und bedeutet: Das Weiterleben im Jenseits sowie auch die Wiedergeburt; und die kniende Göttin Isis, dass sie um den verstorbenen Pharao trauerte, genauso wie sie um Osiris getrauert hatte.
Ein wirres Gemurmel erfüllte den Thronsaal, denn mittlerweile wusste jede anwesende Person, dass dem Pharao irgendetwas zugestoßen war. Was genau, war jedoch nicht bekannt. Nur Gerüchte gingen umher.
Vor dem Treppenaufgang sowie auf allen königlichen Etagen postierten Soldaten, die nicht einmal die ranghohen Tempelpriester und sogar weitläufige Verwandte des Pharaos hinauf ließen. Was genau war bloß geschehen und wie geht es dem Pharao, fragte sich jeder immer wieder. Einige verbreiteten das Gerücht, dass Tutanchamun über Nacht plötzlich sehr krank geworden war und nun mit dem Tod rang. Andere dagegen behaupteten, der Pharao sei vom Pferd gestürzt und ist schwer verletzt. Doch niemand wagte es zu behaupten, dass der König bereits tot wäre.
Satamun schaute sich um und als die Priesterschaft sie bemerkte, verstummten ihre Gespräche abrupt und starrten die großgewachsene Frau an. Wie üblich, wenn Satamun einen Tempel oder eben das Königshaus betrat. Sie zog stets alle Blicke auf sich, wo auch immer sie erschien, schließlich war sie die Vertraute des Hohepriesters und meistens war sie über die aktuellsten Ereignisse informiert, die sich im Königspalast zugetragen hatten. Jeder Priester und Priesterin kannte Satamun, zumindest vom Hörensagen, aber niemand wusste etwas persönliches über sie, außer der Hohepriester Ahmose und Tutanchamun.
Satamun erwiderte ihre Blicke schweigend, dann ging sie einfach quer durch die Menge, wobei die Leute einen Schritt zurücktraten, kniete sich vor dem Kneipbecken nieder und erfrischte ihr Gesicht. Erst als sie die regen Stimmen wieder vernahm und man sie offensichtlich nicht mehr beachtete, erhob sie sich und blickte über dutzende Kahlköpfe hinweg. Sie belauschte die wirren Gespräche, wie vermutet und spekuliert wurde. Satamun beobachtete, dass die Soldaten zwei weitere Leibärzte des Pharaos zur königlichen Etage passieren ließen. Sie trugen Truhen hinauf, darin keinerlei Medizin verstaut war sondern magisch wirkende Mixturen, Öle, Salben und Bandagen, wie jedem bekannt war. Ein Soldat winkte sogar den Oberpriester des Ptha herbei, der eine Schriftrolle in seinen Händen hielt, darauf heilige Textformeln geschrieben standen, flüsterte ihm etwas ins Ohr und ließ auch ihn verneigend die Treppenstufen zur königlichen Etage hinaufgehen. Hinter ihm folgten weitere Tempelpriester, die Messingschälchen in ihren Händen hielten, daraus Weihrauch qualmte.
Daraufhin ertönte ein aufgebrachtes Gemurmel, wobei sich die Priester entsetzt die Hände vor ihren Mündern hielten. Nun war jede weitere Aufklärung überflüssig und jede Hoffnung wurde augenblicklich zerschlagen, denn die Leibärzte beabsichtigten die Einbalsamierung vorzubereiten.
Jetzt war es gewiss und offiziell: Pharao Tutanchamun ist tot.
Die Priesterschaft kniete zugleich nieder und sprach im Einklang Gebete, was sich wie ein heiliger Choralgesang anhörte.

Was genau war eigentlich geschehen, fragte sich auch Satamun mittlerweile, nachdem sie das Gerücht eines angeblichen Reitunfalls aufgeschnappt hatte. Vielleicht war das Attentat gar nicht ausgeführt worden, weil ihnen die Götter zuvorgekommen waren und sich tatsächlich nur eine schreckliche Tragödie ereignet hatte, wofür niemand die Schuld trug. Aber als sie in Erfahrung brachte, dass die Wachhabenden der letzten Nacht sowie auch Tutanchamuns Leibwächter spurlos verschwunden waren dämmerte es ihr, dass der Pharao keineswegs vom Pferd gestürzt und tödlich verunglückt war.
Der Oberaufseher des Palasthofes, mit dem Tutanchamun ebenfalls stets ein vertrautes Verhältnis geführt hatte, sowie ein ranghoher Offizier, der für die Einteilung der Nachtwachen zuständig war, wurden gewaltsam abgeführt, obwohl sie lautstark protestierten und ihre Unschuld bei Amun beteuerten. Aber Köpfe mussten rollen, irgendjemand musste zur Verantwortung gezogen werden und augenblicklich büßen, immerhin war der Pharao inmitten des königlichen Hofes verunglückt. Die zwei unschuldigen Männer wurden von Soldaten sogleich ruppig zum Hinterhof gezogen, an die Palastmauer gestellt und ohne Anhörung mit dem Speer hingerichtet. Nur ranghohen Herren stand ein fairer Prozess vor dem Komitee zu.
Satamun wurde es mulmig zumute, weil man willkürlich irgendwelche Personen abführte. Mittlerweile verdächtigte sie die Leibwächter, dass sie Tutanchamun getötet hatten und wenn dem tatsächlich so war, wussten Haremhab und Ahmose nun sicherlich, dass sie dieses Attentat zu vereiteln versucht hatte. Jetzt stellte sie für einige hohen Herren eine große Gefahr dar, denn falls sie die Wahrheit über das Votum ausplaudern würde, würden die Herrschaften Maya, und wie sie alle hießen, sich vor dem Gericht des Komitees verantworten müssen. Aber selbst wenn der Hohepriester von ihrem Verrat noch nichts ahnte, wäre es nur eine Frage der Zeit wann Ahmose dahinterkommen würde. Innerlich war sie äußerst schockiert, so hatte sie doch den Mörder persönlich zum König geschickt.
Satamun nutzte den Augenblick der Bestürzung aus und schlich sich unbemerkt davon. Nun war es vorbei und es würde keinen Sinn mehr ergeben, wenn sie weiterhin loyal des zum Gott gewordenen Pharao Tutanchamun halten und sich hartnäckig darum bemühen würde, diesen Königsmord aufzudecken. Der Feind schien ihr einfach zu mächtig zu sein. Sie glaubte, dass Seth seine Fäden erfolgreich gesponnen und die einflussreichsten Männer des Landes für seine Zwecke benutzt hatte. Sich gegen einen Gott aufzulehnen, war zwecklos.
Sie hatte es damals in ihrer Vision deutlich gesehen und Tutanchamun gewarnt, dass ihn dunkle Mächte verfolgen und seine Diener ihn eines Tages meucheln könnten, wenn er den Stiergott Apis nicht an seinen Hörnern packt und ihn bezwingt. Was sie damit genau gemeint hatte war, dass er als König strenger durchgreifen müsste, um sich Respekt zu verschaffen. Doch Tutanchamun war noch sehr jung und benötigte für diese Erkenntnis Zeit, Zeit die man ihm nicht vergönnte.
Aber jetzt war es dringend ratsam, schleunigst zu flüchten und irgendwo unterzutauchen, um ein neues Leben in ein der abgelegenen Bauerndörfer anzustreben. Selbst in der Einöde gab es kleine Kapellen, wo sie regelmäßig Amun sowie allen anderen Göttern huldigen und ihr Priesteramt ausführen könnte. Unter den mittellosen Menschen hatte sie sich sowieso schon immer wohler und geborgener gefühlt. Sie beschloss, Memphis für immer zu verlassen und alle Großstädte wie Theben, Beni Hassan, selbst ihre Geburtsstadt Chemenu oder Heliopolis, zu meiden. Aber vorher wollte sie ihre verstaubte Priesterrobe wechseln, insbesondere benötigte sie das wertvolle Weihrauchharz und die belastende Schriftstücke, die sie selbst verfasst hatte, diese musste sie unbedingt vernichten.

Satamun schlich sich hinunter in das Kellergewölbe und eilte die verzwickten Gänge entlang, wobei sie stetig hinter ihre Schulter blickte. Sie rechnete jeden Augenblick damit, dass man sie plötzlich packte und verhaften würde. Als sie schließlich die Holztür zu ihrem Gemach öffnete, erstarrte sie vor Schreck. Der Hohepriester Ahmose hockte auf ihrem Stuhl und las in eine der Schriftrollen, welche sie aus der Palastbibliothek ausgeliehen hatte. Hinter ihm standen zwei Priester und verneigten sich kurz vor ihr. Zwei Soldaten durchwühlten ihr Bett, schlitzten mit ihren Schwertern die Matratze auf und durchstöberten auch ihren Schrein. Sie schütteten den Sack mit dem gehorteten Brot aus und durchforsteten es mit ihren Füßen. Irgendwo musste sie doch das Gold versteckt haben, welches der Pharao ihr bezahlt hatte, dafür, dass sie ihn über das Votum aufgeklärt hatte, glaubte der Hohepriester. Zwei weitere Soldaten, welche die Tür von innen bewachten, packten die Priesterin und stießen sie hinein. Dann verschlossen sie die Tür.
Ahmose zitierte einen Psalm aus der Schriftrolle des Amun.
„Ehret Mich und dienet Mir treu ergeben, o’ Du mein Vertrauter, und Ich segne Dich mit Meiner Liebe und achte stets auf Dein Wohlergehen. Stehe Mir ewig bei und Meine herrliche Saat wird für Dich fruchten, Du, mein treu ergebener Vertrauter. Denn Du wirst Dankbarkeit und Schutz von Mir ernten. Ich, dein Herr, möge Dich ewig behüten …“
„Sollte dein Pfad Dich auch durch die finstersten Täler führen, Ich, Dein Vertrauter, werde Dir jederzeit beistehen“, vervollständigte Satamun schnippisch seine Rede. Amuns Gesetze waren schließlich die ersten Schriftrollen, welche sie auswendig gelernt hatte.
„Amun-Re ist gütig. Der Gott, der Verborgene, der wie ein hartnäckiger Widder seine Herde zusammenhält, beabsichtigte mit der Ernennung eines Vertrauten, dass wir Menschen uns wie Brüder und Schwester in allen Notlagen gegenseitig verpflichten. Aber Amuns Wille wird vorsätzlich missverstanden, um einen Vertrauten für seine Zwecke zu missbrauchen, damit das eigene Gewand nicht besudelt wird. Schande über euch alle“, sprach Satamun beherrscht.
Ahmose starrte sie feindselig an, hüstelte kränklich und tupfte sich sein schweißglänzendes Gesicht mit einem Tuch ab. Dann schickte er, bis auf Hauptmann Djedefre und einen weiteren Soldat, jede anwesende Person mit einer Handbewegung hinaus. Schließlich durften nur die eingeweihten Personen davon wissen, dass der Pharao eigentlich für die Götter geopfert wurde.
„Du hast mich hintergangen, Satamun! Du warst mit dem Gottesopfer insgeheim nicht einverstanden und hattest den Pharao über das Votum aufgeklärt. Pharaos Leibwache hat uns alles erzählt. Beinahe wäre deine Heimtücke geglückt, wenn wir nicht des Königs Leibwächter arrangiert hätten zu tun, was getan werden musste. Ist dir eigentlich bewusst, was du mit deinem törichten Verhalten hättest anrichten können?“, fauchte Ahmose wütend. „Einige wichtige Männer des Landes, einschließlich meiner Person, hast du in Gefahr gebracht. Wäre deine Vereitlung geglückt, wären alle Führer Ägyptens mit einem Male hingerichtet worden. Dies hätte den Untergang unseres Reichs bedeutet!“, brüllte Ahmose und schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch. Dann hustete er.
Satamun blickte starr an dem Hohepriester vorbei und sagte kein Wort.
„Du bist eine Schande für Ägypten. Du hast den Kodex eines Vertrauten gebrochen, du hast mich betrogen … Mich, der Hohepriester des Amun. Du bist nicht nur eine Landesverräterin, sondern obendrein eine niederträchtige Diebin. Du hast Brot aus der Palastküche gestohlen, nur um es an die nutzlosen Armen zu verfüttern und hast somit dein Leben riskiert. Wie töricht du doch bist, erkenne ich erst jetzt.“
Der Hohepriester zog die Schublade heraus, griff hinein und hielt seine gefüllte Faust in die Höhe. Das Weihrauchharz polterte wie Edelsteine auf die Tischplatte nieder, als er seine Hand öffnete. Ahmose schnaufte abfällig bevor er fortfuhr.
„Selbst die Götter hast du bestohlen. Prinzessin Meritaton hatte dich letztens im Tempel beobachtet und mich von deiner Schandtat unterrichtet. Deine Anwesenheit hier im Königspalast missfiel ihr schon seit geraumer Zeit, aber was konnte sie schon dagegen unternehmen, wenn der Pharao dich geduldet hatte? Du siehst, dass ich über deine Unverschämtheiten längst Bescheid wusste, meine Teuerste.“
Ahmose tätschelte auf die aufgestapelten Papyrusblätter. Ein aufgesetztes Lächeln verzierte kurz sein faltiges Gesicht.
„Du hast unseren König jahrelang beeinflusst und ihn manipuliert, vielleicht ist es gar deine Schuld, dass es so weit kommen musste. Ist das etwa der Dank dafür, dass ich dich als meine Vertraute ernannt und wie eine eigene Tochter aufgezogen habe? Ich hatte dich, als du noch ein kleines Mädchen warst, aus der Gosse geholt und dein Leben gerettet. Du warst ein Niemand gewesen, und ich, der Hohepriester des Amun, hatte dich in die Gesellschaft wieder eingegliedert und dich ausgebildet. Ich habe dich wie eine eigene Tochter geliebt und sogar mehr Zeit mit dir verbracht, als mit meinen eigenen SÖHNEN!“, brüllte Ahmose cholerisch. Er tupfte mit einem Leinentuch sein Gesicht ab und lächelte.
„Ich hatte über dein unverfrorenes Benehmen trotz zahlreicher Beschwerden all die Jahre hinweggesehen und stets meine schützende Hand über dich gehalten. Selbst als du die Vermählung mit meinem jüngsten Sohn verweigert hattest, zeigte ich Verständnis, weil du ein Keuschheitsgelübde abgelegt hattest. Der Pharao musste dich offenbar nicht einmal mit Gold belohnen, dafür, dass du mich derart betrogen und belogen hast. Das ist unfassbar. Los, erkläre dich. Ich will deinen Verrat wenigstens ansatzweise nachvollziehen können!“
Satamun stand jedoch weiterhin wortlos vor dem sitzenden Hohepriester und starrte an ihm vorbei.
„Antworte mir gefälligst, du Tochter des Amun!“, forderte Ahmose sie wütend auf, doch Satamun regte sich nicht mehr. Innerlich hatte sie mit ihrem Leben schon abgeschlossen. Satamun wusste sowieso, dass keine Rechtfertigung sie jetzt noch vor einer Todesstrafe bewahren würde. Plötzlich stürmten zwei Soldaten atemlos herein und verneigte sich vor dem Hohepriester.
„Hochwürden“, sprach der Soldat aufgeregt, „etwas Seltsames geschieht. Wir haben Schlangen im Palast gefunden, die anscheinend tot waren. Bisher sammelten wir achtzehn Exemplare ein. Es waren Uräusschlangen. Sie bewegten sich nicht, weshalb wir vermutet hatten, dass die Kobras tot sind. Vielleicht schliefen sie aber nur. Wer will sie schon anpacken, um es herauszufinden?“ Der Soldat keuchte und rang einen Augenblick nach Atemluft, fuhr aber sogleich fort. „Hochwürdiger Ahmose, das ist aber noch nicht alles. Unter dem Bett des verstorbenen Pharaos, der Gott sei nun heilig und gesegnet, fanden wir noch eine weitere Kobra. Diese war jedoch ein wahres Ungeheuer, mindestens zehn Ellen lang. Ein Soldat war dennoch mutig genug gewesen, diese Bestie mit bloßen Händen hervorzuholen, weil er davon ausging, sie sei genauso wie die anderen Schlangen leblos. Da biss sie plötzlich zu. Wir haben sie sofort in Stücke gehackt. Ein Schlangenbeschwörer aus der Stadt meinte, dies sei eine Königskobra. Versteht Ihr, Hochwürden? Eine Königskobra!“
Alle anwesenden Personen im Raum, außer Satamun, weiteten erschrocken ihre Augen. Dieses mysteriöse Ereignis hatten eindeutig die Götter herbeigeführt.
„RUHE! Ich will davon nichts hören!“, unterbrach Ahmose wütend, weil es ihn ängstigte, und tastete sogleich seine überhitzte Stirn und Wangen ab. Selbst seine warmen Hände wirkten kühlend.

Die neunzehnte entdeckte Schlange, am Tage des neunzehnten Geburtstages von Tutanchamun, war eine quicklebendige Königskobra. Satamun lächelte, was äußerst selten war. Auf Ahmose wirkte sie wiedermal arrogant, als hätte sie einen Trumpf parat, dabei schnürte sich die Schlinge um ihren Hals nur fester zu.
„Nun, Hochwürden, diesmal haben die Götter offenbar Euch ein Zeichen gesetzt, statt Ihr ihnen. Osiris wird den Sohn des Re nach der Mundöffnung wohlwollend in seine Obhut nehmen, aber der König wird ewig leben und in unseren Herzen niemals in Vergessenheit geraten. Euch dagegen wird man schon sehr bald vergessen.“
Ahmose schnaufte abfällig und tupfte sich den Schweiß aus seinem Gesicht.
„Dein Hochmut ist zwar bemerkenswert und hatte dich all die Jahre respektvoll erscheinen lassen, aber das alles war nur eine Makerade. Die Wahrheit ist, dass du im Grunde schwach bist, weil du dich von deinen Gefühlen leiten lässt. So wie einst der Pharao handelte. Und das war sein Untergang, sowie auch deiner sein wird.“
„Und Eure Anmaßung, allen Göttern stets gerecht zu sein, ist die Eure Schwäche und wird sehr bald Euer Untergang sein. Denn die Götter wissen, dass Ihr nur nach Eurem eigenen Nutzen handelt und sie wissen ebenso, dass Ihr ein Königsmörder seid. Ihr alle seid des Mordes an unserem Pharao schuldig“, konterte Satamun. Sie neigte ihren Kopf seitlich, als sie seine kränkliche Erscheinung nun deutlicher wahrnahm.
„Geht es Euch nicht gut, Hochwürden? Blickt Ihr etwa schon nach Westen? Anscheinend sucht Euch Amuns Fluch heim. Ihr hättet lieber nicht das Brunnenwasser trinken sollen. Scheinbar war es verseucht“, sprach sie mit ihrer hellen Stimme geheuchelt lieblich. „Mir kam zu Ohren, dass noch weitere Personen plötzlich erkrankt sind. Und alle hatten sie aus dem Brunnen getrunken.“
Ahmose winkte ab.
„Das ist völliger Unsinn. Du willst mich nur verunsichern. Das Brunnenwasser wurde vorher von durstigen Kamelen geprüft. Wie immer“, lächelte Ahmose. „Es ist etwas anderes, nichts von Bedeutung. In ein paar Tagen bin ich wieder wohlauf, wovon du dich jedoch nicht überzeugen kannst, weil du dann nicht mehr leben wirst … Gnädigste.“
„Tja, umso mehr solltet Ihr Euch sorgen, denn ein Fluch der Götter sucht ausschließlich uns Menschen heim, aber doch niemals die Tiere“, lächelte sie.
Ahmose lehnte sich langsam mit weit geöffneten Augen zurück. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Ihre Prognosen hatten ihn schon immer beeindruckt und waren ihm nie geheuer gewesen, deshalb fürchtete er insgeheim Satamun, je älter sie wurde, und mied sie bereits jahrelang. Sie behauptete nun, er wäre verflucht, was ihn äußert beängstigte. Die Ägypter fürchteten nichts mehr als einen Fluch, weil dieser einem noch bis über den Tod hinaus verfolgen und gar jeden Verwandten über Generationen hinweg belasten würde.
„Schweigt, Satamun. Das ist nicht wahr! Amun würde mir dies niemals antun. Niemals! Ich bin der Hohepriester. Wenn überhaupt, dann war es Seth, der mich vergiftet hatte. Obwohl ich es nicht nachvollziehen könnte. Seth sollte doch stolz auf mich sein, weil ein unwürdiger Horus vom Thron gestoßen wurde.“
Satamun blickte ihn leicht schmunzelnd an.
„Ihr versteht Seth anscheint nicht. Seth ist kein böser Gott, wie er zu sein scheint. Er ist der Herrscher über der Wüste und ermöglicht das Leben in der Einöde. Seth erschafft Leben und sorgt dafür, dass es gedeiht. Es sind nur das Unwetter und die Sandstürme, die den Zorn des Seth ausmachen und ihn als schlechten Gott darstellen. Der Wüstengott ehrt Euch zwar, weil Ihr erfolgreich ward, aber er hasst Verräter, weil er selbst einer ist und sich selbst verabscheut und vom Hass zerfressen ist. Nur die gemeine Raffinesse beeindruckt ihn … und Hochmut. Seth wird mir also beistehen und mich retten“, konterte Satamun, obwohl sie insgeheim selbst nicht an ihre eigenen Worte glaubte. Ihr war momentan nur wichtig, Ahmose zu verunsichern und ihm Angst einzujagen.
Ahmose lachte und schüttelte verständnislos mit dem Kopf. Selbst im Angesicht des Todes war sie überheblich, anstatt dass sie um Verzeihung bat, um wenigstens zu versuchen, dass er ihr Leben verschonen würde. Als Satamun ihm einen Schritt entgegen trat, zogen der Hauptmann Djedefre und der andere Soldat sofort ihre Kurzschwerter und hielten diese überkreuzt, wie eine Schere, gegen ihre Kehle. Nur ein gleichzeitiger, kräftiger Schnitt wäre nötig, und Satamuns enthaupteter Körper würde abrupt zu Boden fallen. Doch dieser Tod war dem Hohepriester viel zu harmlos, denn sie würde viel zu schnell und schmerzfrei erlöst werden. Satamun sollte qualvoll leiden, bevor sie stirbt. Qualvoll und unwürdig sollte sie sterben, hatte Ahmose entschieden.
„Ich werde dich zum Tode verurteilen, Satamun. Meine Anklage lautet: Schwerer Diebstahl und Verrat an meiner Person. Das sollte genügen. Ich persönlich werde dafür sorgen, dass du weder mumifiziert, noch gesegnet, noch bestattet wirst. Somit werde ich deine Existenz komplett auslöschen.“ Ahmose grinste hämisch. „Aber bevor deine Hinrichtung vollzogen wird, sollst du es bitter bereuen, dass du mich hintergangen hast. Lass dich überraschen, meine Gnädigste. Lass dich überraschen.“
Hauptmann Diedefre verneigte sich vor dem Hohepriester und erklärte ihm, dass er sich nun auf dem Weg machen müsste, um rechtzeitig zum Treffpunkt am Nil zu erscheinen. Die zwei nubischen Leibwächter mussten unbedingt beseitigt werden. Dies wäre ein Befehl von Haremhab. Ahmose nickte.

Satamun senkte niedergeschlagen ihren Kopf. Dass man sie nicht mumifizieren und anständig bestatten würde, war für sie eigentlich das Schlimmste, was man ihr antun konnte, weil sie nach dem Ableben im Jenseits nicht mehr existieren würde. Aber nun deutete der Hohepriester an, dass ihr noch etwas Grausames bevorstünde, bevor man sie hinrichten würde. Diese Ungewissheit beunruhigte sie zwar sehr, aber sie wusste ihre Ängste zu verbergen. Ahmose blickte sie zornig an, weil es ihn fuchste, dass sie immer noch nicht um Gnade winselte. Zu gerne hätte er zugesehen, wie sie sich jammernd vor ihm niedergekniete und um Verzeihung gebeten hätte.
„Schafft sie weg! Aber unauffällig und sorgt dafür, dass sie mit niemanden redet“, sagte er und machte eine abfällige Handbewegung. Die Soldaten fesselten ihre Hände, führten Satamun ruppig ab und verschwanden mit ihr durch einen geheimen Ausgang.
 
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Kommentare  

Wahnsinnig spannend. Du kannst den Leser wirklich total in deine Welt entführen.

Jochen (15.07.2021)

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