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Die Kinder von Brühl 18/Teil 2/Essensmarken und Stoppelfelder/Episode 13/Herr Mayer mit y und der Frühling

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 13

Herr Mayer mit y und der Frühling

Dieser Frühling war, wie die Frühlinge vor diesem Frühling, etwas Wunderbares. Es war wie ein Erwachen. Ein neues Leben. Ein Leben aus Hoffnung. Und Neugier.
Herr Mayer mit y war auch ganz aus dem Häuschen. Kaum, dass er die Klasse betreten und die Kinder begrüßt hatte, ging er zu den Fenstern. Er öffnete alle drei ganz weit. Dann atmete er tief durch und sagte: „Ist das nicht wunderbar, Kinder? Riecht ihr den Frühling? Vernehmt ihr sein Singen? Umarmt euch sein ganz besonderer Duft?“
Herr Mayer mit y stellte sich wieder vor die Klasse. „Und nun Kinder“, forderte er die Kinder auf: „Erhebt euch. Atmet tief durch. Denkt nicht mehr an die Schrecken des Winters. Die Kälte. Den Hunger. Den Krieg. An eure löchrigen, viel zu dünnen Sachen. An das stundenlange Anstehen nach einem Laib Brot. In bitterster Kälte.“

Andächtig lauschten die Kinder den Worten ihres Lehrers. Wie recht er doch hatte. Genauso war es gewesen. Die Kinder konnten ein Lied davon singen.
Auch Rosi musste jede Woche in ihren dünnen Sachen und den zu kleinen, löchrigen Schuhen in eisiger Kälte in einer langen Schlange anstehen. Um ein Brot für die Familie zu bekommen. Bei Bäcker Weise. Unten, am Brückentor. Manchmal packte ihr Frau Weise noch einige Semmeln dazu. „Schönen Gruß an deine Mama“, sagte sie freundlich. „Es kommen auch wieder bessere Zeiten.“
Bessere Zeiten? Ja, die würden kommen. Ganz bestimmt. Davon waren alle überzeugt. Und das machte den Menschen Mut, diese Zeit zu überstehen. Else sagte auch oft: „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“
Das Lichtlein waren in Rosis Falle die zusätzlichen Semmeln. Rosi dachte jetzt mit Schaudern an die schrecklichen Frostbeulen an ihren Händen und Füßen. Die noch lange schrecklich weh taten. Und fürchterlich juckten. Sie dachte an das vor Kälte am ganzen Körper Zittern. An das schmerzhafte Kribbeln ihrer Füße, wenn sie sie vor dem kleinen Kanonenofen in der Stube aufwärmte und Else dann sagte: „Bis du heiratest, ist alles wieder gut.“
Aber ein Gutes hatte das Brot kaufen doch gehabt. Bei dieser Gelegenheit war Rosi nämlich jedes Mal zu ihrem geliebten Marktbrunnen gegangen. Und zwar auf dem Rückweg. Mit dem Brot. Und den Semmeln. Dieser Umweg musste sein. Der Marktbrunnen mit dem Engel und dem Teufel mit dem Kind auf der Waage zog Rosi noch immer magisch an. „Na du Teufel“, sagte sie schadenfroh zu dem Teufel in seiner Schale, „da sitzt du nun. Fast auf der Erde. Mit dem Mühlstein. Und der Knabe sitzt oben. Und lächelt auf dich herab.“
Ja, ja, ein Kind wiegt schwerer als der Teufel.

Irgendwie hatte der Gang zum Brunnen und der Blick zur Kirchturmspitze mit dem Engel und der Flöte etwas Tröstliches. Etwas Unerschütterliches. Etwas, das immer da sein würde. Schade war nur, dass Rosi nicht in den Brunnen schauen konnte. Die Stufen, die zu ihm führten, waren zu sehr vereist. Und niemand würde auf die Idee kommen, Pfennige auf das Eis im Brunnen zu werfen.

Rosi seufzte tief auf. „Schrecklich“, sagte sie. „Ganz schrecklich.“
„Ja“, erwiderte Herr Mayer mit y, „Aber all dies ist Vergangenheit. Wer von euch kennt ein schönes Winterlied?“
Fast alle Kinder reckten ihre Arme in die Höhe.
„Na Bärbel“, forderte Herr Mayer mit Y Bärbel auf, „welches Winterlied gefällt dir am besten?“
Bärbel rutschte schon die ganze Zeit auf dem Platz neben Rosi, also Reihe eins, Sitz drei, hin und her. Sie hatte sogar schon mehrmals mit den Fingern geschnippst, damit Herr Mayer mit y auf sie aufmerksam werden sollte. Das tat sie immer, wenn sie unbedingt etwas sagen wollte. Meistens hatte sie damit Erfolg. So auch diesmal.
Bärbel sprang auf und sagte: „Winter Ade, scheiden tut weh.“
„Sehr gut“, freute sich Herr Mayer mit y. „Wer von euch kennt dieses Lied?“
Fast alle Kinder meldeten sich.
„Gut. Dann werden wir dieses schöne Winterlied jetzt singen.“
Herr Mayer mit y ging zum Lehrerpult. Vorsichtig zog er die Schublade, in der seine Lehrerutensilien und eine Flöte verborgen waren, hervor. Er nahm die Flöte heraus und stellte sich vor die Klasse.
„Ich begleite euch auf der Flöte“, sagte er. „Also. Winter ade!“

Herr Mayer mit y spielte auf seiner Flöte. Alle Kinder sangen begeistert:
Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Aber dein Scheiden macht,
dass mir mein Herze lacht.
Winter ade!
Scheiden tut weh.

Gerne vergess‘ ich dein,
kannst immer ferne sein.
Winter, ade!
Scheiden tut weh.

Gehst du nicht bald
nach Haus,
Lacht dich der Kuckuck aus.

Winter ade!
Scheiden tut weh.

Zufrieden legte Herr Mayer mit y seine Flöte zurück in das Fach unter dem Lehrerpult.
„So Kinder“, sagte er. „Ihr lebt. Ich lebe. Wir leben. Es wird Frühling. Und Frühling ist Hoffnung.“

Nach einigen gymnastischen Übungen begann der Unterricht. Diesmal brachte Herr Mayer mit y den Kindern das Frühlingsgedicht – Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte - von Eduard Mörike näher.
„Eigentlich heißt dieses wunderschöne Gedicht ja Er ist‘s“, sagte Herr Mayer mit y, „aber bekannter ist es durch die erste Zeile geworden. Und das ist ja auch verständlich. Was meinst du, Rosi“, wandte er sich an Rosi, die still auf ihrem Platz Reihe eins, Sitz zwei saß und andächtig den Worten des Herrn Mayer mit y lauschte.
„Ja, ist viel schöner“, stotterte Rosi erschrocken. Herr Mayer mit y hatte sie aus ihren Träumen geweckt. Der lange Winter war vorbei. Sie sah das „blaue Band“, also den blauen Himmel über sich. Sie bewunderte die aufbrechenden Knospen des Fliederbaums hinter dem Mist. Und sie schwelgte im betörenden Duft der Tausenden Fliedersternchen im Mai. Sie vernahm die fernen Harfenklänge, die den Frühling ankündigten und Sehnsüchte weckten. Sehnsüchte nach Frieden. Und Liebe. Und sie sehnte sich nach den blauen Veilchen, die noch, versteckt unter Gras und Moos, schlummerten.
„Aber - Er ist‘s - ist auch schön“, sagte Rosi. „Diese Überschrift macht neugierig. Und wenn man dann weiß, dass es der Frühling ist, weiß man, dass er schon mal da war. Und immer wieder kommt.“
„Das hast du sehr gut durchdacht“, lobte Herr Mayer mit Y, „dadurch bekommt die Aussage etwas Beständiges. Der Frühling war schon mal da. Er wird heiß erwartet. Er kommt jedes Jahr wieder. Und sei der Winter noch so lang. Und kalt“, schmunzelte Herr Mayer mit y. „Der Frühling erfüllt unsere Sehnsucht nach Beständigkeit.“

Herr Mayer mit y erzählte den Kindern noch etwas über den Dichter und sagte abschließend: „Und nun Kinder, lest den Text dieses wunderschönen Gedichts, den ich an die Tafel geschrieben habe, noch einmal in aller Ruhe durch. In der nächsten Deutschstunde könnt ihr dann berichten, was ihr dabei empfunden habt.“
Weil es kein Schreibpapier und somit auch keine Hefte gab, schrieb Herr Mayer mit y immer das, das die Kinder besonders interessieren sollte, an die Tafel. Die Kinder in der dritten Klasse benutzten ja keine eigenen Schiefertafeln mehr. Die waren nur für die Erstklässler gedacht.
Das an die Tafel schreiben hatte auch sein Gutes. Die Kinder mussten sich die Texte gut einprägen. Sie konnten sie ja nirgends nachlesen. Es gab noch keine neuen Schulbücher. Weil die Druckereien fast alle zerstört waren. Wie Herr Mayer mit y den Kindern erklärt hatte. Die aus der Nazizeit durften nicht mehr benutzt werden. Deshalb gab es auch keine Hausaufgaben. Auch die Tintenfässer am oberen rechten Rand der Bänke waren leer. Logisch. Ohne Papier brauchte man keine Tinte. Auch wenn einige Kinder noch Federhalter aus der Kriegszeit in ihren Griffelkästen aufbewahrten.
Rosi hatte auch einen. Mit einer langen kostbaren Feder, wie Else immer betonte. Sie hatte ihn von Otto, dem Prediger, geschenkt bekommen und sollte ihn in Ehren halten. Das tat sie natürlich.
Ein schönes, altes verschnörkeltes Tintenfass mit himmelblauer Tinte gehörte auch dazu.
Benutzt hatte sie die kostbaren Dinge nur ein einziges Mal. Weil es kein Schreibpapier gab, hatte sie versucht, einige Sätze auf den freien Rand des Thüringer Wochenblatts zu schreiben. Doch es war ein Fehlversuch. Kaum, dass sie ein Wort geschrieben hatte, zerlief die Tinte. Und der Zeitungsrand war zerfetzt. Und nicht nur der Rand. „Du machst aber auch nur Blödsinn“, hatte Richard ärgerlich gesagt. „Ich hoffe, du lässt in Zukunft diesen Unsinn. Jetzt kann ich mir denken, was hier gestanden hat. Die Tinte klickert doch überall hin. Die ganze Zeitung ist versaut.“
Klar ließ Rosi diesen Blödsinn Unsinn in Zukunft. Sie hatte ja noch ihren Kopf. Und da passte so einiges rein.

Herr Mayer mit y öffnete wieder alle Fenster. Sein Blick schweifte über den nahen Rossplatz, auf dem die alten Bäume schon die ersten grünen Blattspitzen zeigten.
„Vielleicht sind mit dem „blauen Band“ ja auch Bänder und Fahnen gemeint“, murmelte er. „Fahnen, die im Wind flattern. Und eine neue Zeit ankündigen.“

***

Fortsetzung folgt
 
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