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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 3/ Die Russen und die Neue Zeit/Episode 9/ Das Weizenfeld und die durchgeknallten Kühe

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 9

Das Weizenfeld und die durchgeknallten Kühe

Wally steckte Rosi in den Waschzuber. So nannte sie eine alte Zinkwanne, die genauso aussah, wie die Badewanne in Brühl 18, und in der sie manchmal Bello badete. Wenn er zu verdreckt war.
„So sagte sie, „nun aber schnell. Damit du wieder ein Mensch wirst.“
Wally nahm eine alte Bürste mit Stiel, schmierte sie mit Kernseife ein und schrubbte Rosi solange damit von Kopf bis Fuß, bis sie am ganzen Körper knallrot war. „Fertig“, sagte sie dann. „Deine Sachen sind futsch. Ich gucke mal, ob ich noch einen Schlüpfer und ein Kleid für dich finde.“
Karl war mit den Kühen und Jutta und Karlchen schon auf der Straße. Bello sprang in den Waschzuber, als wolle er sagen: „Das ist meiner.“
Wally kam mit einem Schlüpfer und einem frischen blauen Kleidchen zurück. „So, zieh das an“, sagte sie. „Und dann ab. Bello, du auch.“

*

Karl hatte Schecke und Schicke eingespannt. Er saß schon auf dem Kutschbock vor dem Wagen. Der Kutschbock war ein vor den Wagen genageltes stabiles Brett mit einer kurzen Lehne. Darauf hatten zwei Erwachsene oder ein Erwachsener und ein Kind Platz.
Jutta und Karlchen hockten im sogenannten Heuwagen. Zwischen zwei Sensen, zwei Sicheln und zwei Hungerharken. Auch einige alte Kartoffelsäcke lagen im Wagen herum.
„Die Säcke könnt ihr als Decke nehmen“, sagte Karl. „Damit es nicht zu hart ist für eure Popochen“, lachte er.
Ausgelassen sprang Bello zu Jutta und Karlchen in den Wagen und legte sich zu ihren Füßen. „Runter mit dir Bello “, schimpfte Karl. „Du läufst nebenher. Und du, Rosi, kommst zu mir. Auf den Bock.“
Gehorsam sprang Bello vom Wagen. Rosi kletterte zu Karl auf den Kutschbock.
„Na du kleiner Stinkbock“, scherzte Karl, während er die Zügel locker in die Hand nahm, „bist du wieder sauber?“ Schmunzelnd zog er die Zügel an und sagte: „Hühh!“
Sofort setzten sich Schecke und Schicke in ihren gemütlichen Kuhtrab.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten brachte Karl die Kühe mit einem „Brr!“ zum Stehen. „Absteigen Kinder“, sagte er. „Wir sind da.“

Das Weizenfeld wogte wie ein goldgelbes Meer im kaum zu spürenden Wind im Morgensonnenschein. Die Hälfte des Weizens hatte Karl schon gemäht. In ordentlichen Reihen standen die Puppen vor einem Wiesenstreifen mit Blumen, Bäumen und Sträuchern. Himbeeren. Brombeeren. Hagebutten. Sogar Schlehen. Und einigen Vogelbeerbäumen.
Der noch nicht gemähte Weizen mit den wunderschönen Ähren und dem langen Stroh reckte sich stolz der Sonne entgegen. Auf dem Stück Wiesenstreifen vor dem Weizenfeld blühten noch Mohn- Margariten- und Kornblumen. Hummeln und Bienen und Schmetterlinge huschten emsig darüber. Manchmal vergruben sie sich auch in den duftende Blüten.
Karl spannte die Kühe ab. „Bringt mal Schecke und Schicke in den Schatten“, sagte er. „Zu dem Wiesenstreifen mit den Bäumen. Dort können sie in Ruhe grasen.“ Karl lehnte eine Sense, eine Sichel und den Hungerharken an den Wagen. „Lauft schon mal vor“, sagte er: „Sie laufen euch hinterher. Sie kennen den Weg.“
„Kommt“, forderte Rosi Schecke und Schicke auf, „wir gehen in den Schatten.“
Als hätten die Kühe Rosi verstanden, setzten sie sich in Trab. „Muuh. Muuh“, muhten sie im Duett.
Karl stapfte inzwischen zu dem stehenden Weizen. Er platzierte Sense, Sichel und Hungerharken auf den Stoppeln vor dem stehenden Weizen. Dann brach er einige Körner aus einer goldgelben Rispe und roch daran. „Riecht gut“, sagte er zufrieden. Vorsichtig rieb er einige Körner zwischen seinen Fingern. „Ja, sagte er, „die Körner sind trocken. Die Feuchtigkeit ist raus.“

*

Schecke und Schicke grasten auf dem schattigen Wiesenstreifen vor sich hin. Manchmal hoben sie ihre Schwänze mit dem lustigen Puschel am Ende und vertrieben damit die lästigen Schmeißfliegen. Und die vielen anderen Fliegen und Insekten, die sich wie selbstverständlich auf die dicke Kuhhaut setzten. Die grüngelbblau schimmernden Schmeißfliegen, die Rosi auf dem Mist im Brühl so liebte, flogen kurz auf, kamen aber sofort wieder zurück und sonnten sich auf der Haut von Schecke und Schicke. Die kleinen Insekten ließen sich sowieso nicht stören. Manchmal kam auch ein Schmetterling angeflogen. Ein wunderschöner Pfauenauge. Der hatte sich bestimmt verirrt. Denn, kaum, dass er saß, flog er auch schon weiter. Und zwar zu einer Blume auf dem Wiesenstreifen.
Karl mähte Furche um Furche den Weizen. Ab und zu lüftete er seine graue Schiebermütze und wischte sich mit einem blauweißkarierten Taschentuch, das er aus seiner Westentasche zog, den Schweiß von der Stirn. Dann reckte und streckte er sich und mähte, gleichmäßig, wie eine Maschine, weiter seinen Weizen.
Jutta knotete Seile aus den Ährenbüscheln und band sie um die Ährenbüschel, die Rosi und Karlchen hinter Karl aufhoben. Zusammen errichteten sie dann die Puppen, die aussahen, wie gemütliche Zelte aus Stroh.
Als die Sonne am höchsten stand, zog Karl seine Taschenuhr, die an einer Kette in seiner Hosentasche verstaut war, hervor und sagte: „Mittagszeit Kinder. Jetzt ist erstmal Schluss. Wally müsste auch gleich kommen.“
Wie aufs Wort, kam pünktlich zwölf Uhr Wally auf ihrem Fahrrad angeradelt. Auf dem Gepäckträger hatte sie einen Korb mit Essen und Trinken.
Es wurde auch langsam Zeit. Die Kinder waren fast verdurstet. Rosi war schon mehrmals schwarz vor Augen geworden. Das ständige Bücken war wirklich nichts für sie.

Wally lehnte ihr Rad an den Heuwagen und nahm den Korb vom Gepäckträger. Damit ging sie geradewegs zu den Kühen auf dem Wiesenstreifen. Unter einem Schlehenbaum stellte sie ihren Essenskorb ab. „Kommt essen!“, rief sie fröhlich. „Mahlzeit!“
Wally breitete ein Tuch auf das Gras mit den Blumen. Dann holte sie Teller, Tassen und Besteck aus dem Korb und legte sie auf das Tuch. „Ich habe eine schöne Erbsensuppe gekocht“, sagte sie. „Mit Würstchen. Und Leberwurstbemmen geschmiert. Her mit euren Tellern.“
Wally schöpfte die Linsensuppe mit den Würstchen in die Teller. Das Stullenpaket mit den Leberwurststullen blieb im Korb. Ebenso die Kanne mit dem Tee.
„Ihr könnt euch selbst weiter bedienen“, sagte Wally. „Und essen auch. Ich muss zurück. Erich wecken. Der hat auch Hunger. Und die Oma auch.“ Wally nahm ihr Fahrrad und radelte zurück.

Schecke und Schicke schienen satt zu sein. Sie hatten für heute genug gefressen. Ihre schweren Euter hingen fast bis zur Erde. Träge vom vielen Grasen, hoben sie nur noch langsam ihren Schwanz, um die Fliegen und die anderen Insekten, die immer noch munter auf ihren Rücken hin und her liefen, zu verscheuchen.
„Schecke will sich hinlegen. Guckt mal“, sagte Rosi. „Die ist bestimmt satt und müde.“
„Und ob“, stimmte Karl ihr zu. „Essen macht halt müde.“
Tatsächlich legten Schecke und Schicke sich fast gleichzeitig ins Gras.
„Kühe brauchen viel Schlaf“, sagte Karl. „So zehn bis vierzehn Stunden am Tag.“
„Sollen wir etwa solange hier warten?“ Karlchen rollte vor Schreck mit seinen Augen. „Bis die wieder aufwachen?“
„Keine Sorge“, lachte Karl. „Nach einer halben oder auch ein oder manchmal zwei Stunden, stehen sie wieder auf. Wenn sie nur kurz geschlafen haben, recken und strecken sie sich. Dann legen sie sich wieder hin und drehen sich auf die andere Seite.“
„Und warum schlafen die Kühe so lange?“, fragte Rosi ungläubig.
„Das Leben einer Kuh ist ziemlich anstrengend“, sagte Karl. „Schon, weil sie so schwer ist. Außerdem sind Kühe Wiederkäuer. Sie fressen nur Kräuter und Gras. Um satt zu werden, müssen sie also den ganzen Tag fressen. Und dann wiederkäuen. Das tun sie hauptsächlich im Schlaf. Manchmal auch im Stehen. Wenn sie vor sich hindösen“, schmunzelte Karl. „Je öfter sie sich ausruhen, desto mehr Milch geben sie.“
„Warum denn das?“, wollte Jutta wissen.
„Weil dann die Euter besser durchblutet werden“, sagte Karl. „Und nicht so schwer nach unten hängen. Wie beim Stehen.“
„Und wie viel Milch sollen sie geben?“, fragte Rosi.
„So vier bis sechs Liter sollten es schon sein“, sagte Karl, während er aufmerksam Schecke und Schicke beobachtete, „denn drei Liter pro Kuh müssen wir ja an die Molkerei abgeben. Für die Bevölkerung. Den Rest brauchen wir. Für Butter und Käse.“
„Und für den Quark und die Molke“, ergänzte Rosi. „Aber nachdem sich die Kälbchen satt getrunken haben.“
„Opa“, sagte Karlchen, „ich bin auch müde und satt. Ich will mich auch unter den Baum legen.“
„Ich auch.“
Jutta sprang auf und lief Karlchen hinterher. Unter den Baum legten sich Jutta und Karlchen neben Schicke und Schecke. Es dauerte nicht lange und sie waren eingeschlafen.

Rosi räumte das Geschirr und die Suppenschüssel in den Korb. Die Kanne mit dem Tee und die Becher ließ sie stehen. „Die brauchen wir noch“, sagte sie. „Was nun Opa?“
„Wir zwei alleine können wohl nicht viel ausrichten“, sagte Karl. „Legen wir uns also auch unter den Baum. Ein kurzes Mittagsschläfchen kann ja nicht schaden.“
Als Karl aufwachte, schliefen die Kinder noch. Schecke und Schicke standen auf dem Wiesenstreifen und dösten vor sich hin. Erschrocken schaute Karl auf seine Taschenuhr.
"Fünfzehn Uhr!", sagte er erschrocken.
Das kurze Mittagsschläfchen hatte fast drei Stunden gedauert.
„Aufstehen. Aufstehen“, weckte Karl die Kinder. „Wir fahren zurück. Es ist jetzt zu heiß geworden. Wir machen morgen ganz in der Früh weiter.“

*

Karl spannte die Kühe ein. Jede auf eine Seite der Deichsel. Rechts Schecke mit ihrem braun gescheckten dicken Bauch. Links die braune, etwas schlankere, Schicke.
Vor dem grünen Tor zog Karl die Zügel an. Die Kühe blieben stehen. „Halt mal die Zügel fest“, sagte Karl zu Rosi. „Ich denke, weil es ja noch nicht soo spät ist, fahren wir noch schnell in den Streuobstgarten und laden das Heu auf.“
„Oh ja!“, freuten sich die Kinder.
„Ihr nicht“, sagte Karl. „Ihr könnt Wally und Oma helfen. Die Schweine brauchen frisches Stroh. Die Kühe auch. Die müssen auch noch getränkt werden. Und, wenn es geht, gestriegelt. Ich komme mit. Ich habe nicht mehr genug Tabak.“
Gesagt, getan. Karl und die Kinder verschwanden hinter dem grünen Tor. Rosi saß gehorsam auf dem Kutschbock und hielt die Zügel fest in ihren Händen. „Muh, muh, muh“, fiel ihr plötzlich ein altes Kinderlied ein. Lauthals trällerte sie los:
„Muh, muh, muh, ruft die bunte Kuh.
Wir geben ihr das Futter.
Sie gibt uns Milch und Butter.
Muh muh, muh.
Ruft die bunte Kuh.“

Irgendwie schien der Gesang den Kühen nicht zu gefallen. Schecke und Schicke scharrten unruhig mit den Hufen. Die Deichsel schwankte bedrohlich hin und her.
Unbeeindruckt trällerte Rosi weiter: „Muh Muh, muuhhh …“
Die Kühe machten einen Satz nach vor und rannten los. Rosi konnte die Zügel nicht mehr anziehen. Nur mit Mühe halten. „Brrrr!“, schrie sie entsetzt. „Brrr! Schecke! Schicke. Halt!“ Doch Schicke und Schecke gehorchten nicht. „Hüh!“, schrie Rosi aus Versehen. Und gleich danach: „Hot“. Danach alles durcheinander. "Hüh! Hot! Anhalten! Stehen bleiben!"
Doch es nutzte nichts. Wie die wilde Jagd rasten die Kühe den leichten Abhang der Hauptstraße hinunter. Rosi hatte noch nie Kühe so rennen sehen. Verzweifelt zerrte sie an den Stricken. Die Kühe zerrten auch. Schecke zerrte nach rechts. Schicke nach links. Die Deichsel starr zwischen ihnen. Rosi konnte die Zügel nicht mehr halten. Die Kühe rannten nach links. In den Straßengraben. Vor einem Telegrafenmast machten die Kühe Halt. Der Heuwagen kippte um. Rosi plumpste in den Graben. Genau zwischen Schecke und Schicke.

In der Zwischenzeit waren Karl, Helene, Wally, Karlchen, Jutta und einige Dorfbewohner die Straße entlang gerannt. „Rosi! Rosi!“, riefen sie. „Bleib, wo du bist. Rühr dich nicht von der Stelle!"
Natürlich blieb Rosi, wo sie war. Wo sollte sie auch hin. Und rühren konnte sie sich schon gar nicht. Sie lag ja genau unter der Deichsel, die in Schieflage geraten war. Zwischen Schecke und Schicke. Und die hatten nichts Besseres zu tun, als „Muuh“ zu muhen und in stoischer Ruhe das Gras aus dem Graben zu fressen.

***

Fortsetzung folgt
 
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