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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 6/ Der Pfingstsonntagsbraten der Engel mit der Laute und Erichs trauriges Schicksal

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 6

Der Pfingstsonntagsbraten der Engel mit der Laute und Erichs trauriges Schicksal

Panisch rannte Rosi die weiße Treppe hinauf. „Ja, ja“, schluchzte sie verzweifelt, „Ich bin schuld. Ich bin schuld. Ich hätte besser auf Schneeweißchen und Rosenrot aufpassen sollen.“
Rosi sehnte sich unwahrscheinlich nach Trost. Sie fühlte sich so einsam. So verlassen. So unendlich traurig. Was sollte sie nur machen? Runter zur Familie? Die, wie die Barbaren, bestimmt noch immer am Tisch saßen und genüsslich Schneeweißchen und Rosenrot auffraßen. Auf keinen Fall. Schon der Gedanke daran, brachte sie einer Ohnmacht nahe. In ihre Kammer? Zu dem Pferdekopf mit den traurigen Augen über ihrem Bett? Nie und nimmer. Sie war selbst schon traurig genug. Aber sie könnte ja auch zu dem Bild gegenüber schauen. Dem Bild mit dem Jungen, der sicher über eine Brücke geht. Weil ein Engel über ihm seine Flügel ausbreitet? Vielleicht. Aber am Abend würden Jutta und Bertraud Johanna kommen und schlafen wollen. Bestimmt. Wie immer. Tief und fest. Als wäre nichts geschehen.
"Oder", überlegte Rosi weiter, "ich könnte ja auch sofort ins Bett gehen. Ich könnte meinen Kummer einfach weg schlafen. Wie Else mal gesagt hatte."
Doch das war alles Unsinn. Kummer einfach weg schlafen. Schön wär's. „Am hellichten Tag wird nicht geschlafen“, hatte Else auch mal gesagt. Also wurde am hellichten Tag nicht geschlafen. Und wenn man den Kummer einfach weg schlafen könnte, gäbe es auf der Welt keinen Kummer. Immer diese dummen Sprüche.
Vor dem Verschlag setzte sich Rosi auf den Boden. Im Verschlag schlief jetzt Karlchen. Früher hingen da die Bilder von Dürer. Ihrem Lieblingsmaler. Der Feldhase. Die Weltkugel. Die betenden Hände.
Betende Hände. Die hingen jetzt über dem Bett im Elternschlafzimmer. Die anderen Bilder standen irgendwo auf dem Boden.
Rosi musste daran denken, wie sie die wertvollen Bilder damals, nach Kriegsende, auf dem Plumpsklo versteckt hatte. Und die Amis hatten sie nicht entdeckt. Sie hatten gar nicht auf dem Plumpsklo gesucht. Es war ein gutes Versteck. Damals gab es Schneeweißchen und Rosenrot noch nicht. Auch nicht Zippi und Zappi. Es gab überhaupt keine Ziegen. Es gab gar nichts. Nur Hunger. Krankheit. Amis. Heimkehrer. Krüppel. Flüchtlinge. Und Traurigkeit. Eine große Traurigkeit.
Bei diesen Gedanken schossen Rosi wieder die Tränen aus den Augen. Sie stand auf und ging ins Elternschlafzimmer. Die „Betenden Hände“ hingen in der Mitte an der Wand vor dem weißen Metallehebett. In dem Else schon mit Karl, ihrem richtigen Vater, geschlafen und in dem sie alle sechs Kinder geboren hatte. In dem sie jetzt mit dem gruseligen Richard schlief. Dem Richard, der Schneeweißchen und Rosenrot geschlachtet hatte. Bestimmt hatte er sie geschlachtet. Wer sonst. Und zwar in der Nacht. Wer hätte es sonst tun sollen. Gestern lebten sie ja noch. Und sie tollte mit ihnen auf dem Feld um die Wette.
Wieder schluchzte Rosi laut auf. Irgendwie wütend, starrte sie zu den „Betenden Händen.“

Alfred Dürer war Rosis Lieblingsmaler. Der von Fräulein Dahlke wohl auch. Also von Tante Paula. Begeistert hatte sie der Klasse erzählt, dass er siebzehn Geschwister hatte. Er war das dritte Kind. Und ein begnadeter Künstler und Selbstdarsteller. „Er hat Hunderte Selbstpoträts gemalt“, sagte Tante Paula. „Aber noch mehr Tier- und Pflanzenbilder. Bis ins kleinste Detail. Und alles wissenschaftlich seziert“, scherzte sie. „Na, ich will damit sagen, er hat die Natur abgebildet. Vielleicht besser, als wir heutzutage mit einem Fotoapparat.“
Tante Paula war eine gute Zeichenlehrerin. Manchmal spazierte sie mit der ganzen Klasse zu den Wiesen und lehrte die Kinder, wie man Gräser und Blumen zeichnet. Bestimmt nach Dürers Vorbild.

Noch immer betrachtete Rosi die betenden Hände. Warum eigentlich. Was erhoffte sie? Trost konnten sie ihr jedenfalls nicht spenden. Es waren Hände. Einfach nur Hände. Warum hingen sie überhaupt da. Über dem Ehebett. Bei diesem Gedanken erschien plötzlich vor Rosis innerem Auge ein anderes Bild von Alfred Dürer. Der Engel mit Laute. Sie sah förmlich den Engel vor sich. Und er hatte ein anderes Gesicht, als der Engel in ihrer Kammer. Er hatte kein pausbäckiges Kindergesicht. Der Engel mit der Laute hatte ein Frauengesicht. Von ganz besonderem Liebreiz. Mit feingliedrigen Händen spielte der liebreizende Engel die Laute. Dabei sang er ein trauriges Lied.
Das Lied kannte Rosi. Und sie sang es leise mit.

In einem kühlen Grunde
In Einem Kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad
Mein Liebchen ist verschwunden, das dort gewohnet hat
Mein Liebchen ist verschwunden, das dort gewohnet hat

Sie hat mir Treu versprochen, gab mir einen Ring dabei
Sie hat die Treu gebrochen, das Ringlein sprang entzwei
Sie hat die Treu gebrochen, das Ringlein sprang entzwei

Hör ich das Mühlrad gehen, ich weiß nicht, was ich will
Ich möcht am liebsten sterben, da wär‘s auf einmal still
Ich möcht am liebsten sterben, da wär‘s auf einmal still
*
Zärtlich und traurig verklangen die letzten Akkorde. Die letzten Worte. ‚Dann wär‘s auf einmal still‘.
Die Engelfrau mit dem lieblichen Gesicht legte langsam ihre Laute auf den Stein vor sich. Dann trat sie aus dem Bild heraus. Wie in Zeitlupe, schritt sie auf Rosi zu. Mit einem weißen Taschentuch, das mit weißer Spitze umhäkelt war, wischte sie ihr die Tränen vom Gesicht.
„Dann wär‘s auf einmal still“, flüsterte die Engelfrau.
In diesem Augenblick kam Freia die Treppe herauf gerannt.
Die Engelfrau verschwand.
Rosi stand noch in der Tür zum Elternschlafzimmer. Noch immer starrte sie wie gebannt zu dem Bild mit den betenden Händen.
„Es sind Hände“, sagte sie zu Freia, die an ihr hochsprang und leise winselte. „Nur Hände. Tote Hände.“
Rosi setzte sich wieder auf den Fußboden vor dem Verschlag. Freia leckte ihr die Hände und das Gesicht. Mit ihren großen feuchten Hundeaugen sah sie Rosi traurig an. Dann machte sie eine Geste mit ihrem Kopf, als wolle sie sagen: „Komm, wir gehen.“
Rosi hörte auf, Freia über ihr weiches, weißes Fell zu streicheln und stand auf.
„Na gut“, sagte Rosi. „Wo soll‘s nun hingehen? Du weißt, zu den anderen können wir nicht mehr.“
Freia sah Rosi wieder an, als würde sie sie verstehen und rannte die Treppe hinab. Rosi hinter ihr her. Im Flur hielt sie kurz inne. Sie lauschte in Richtung Wohnzimmer. Empört vernahm sie die Stimmen aus der Stube. Das Lachen und Erzählen. Als wäre nichts passiert. Als wäre nicht vor einigen Minuten für sie eine Welt untergegangen. Eine Welt, in die sie nicht zurückkehren wollte und konnte.
Freia stand vor der Tür zum Hof. „Ist ja gut“, sagte Rosi zu Freia. „Ich weiß jetzt, was wir machen.“
Rosi öffnete die Tür und ging zum Schuppen. Sie holte ihr Fahrrad und die Leine für Freia aus einer Ecke. „So“, sagte sie, „wir radeln jetzt nach Ziegelroda. Hier vermisst uns sowieso niemand.“
*
Der Weg nach Ziegelroda war Rosi ja bekannt. Sie musste an ihre erste Fahrt mit Gruselrichard denken. An seine Augenklappe. Sein blechernes Ziegenbocklachen. Und an seinen schrecklichen Tod. Gerade, als sie sich näher gekommen waren. Und wieder kamen ihr die Tränen. Es war alles zu traurig.
Kurz vor Hardisleben stieg Rosi ab. Sie lehnte ihr Fahrrad an einen blühenden Zwetschgenbaum, der mit vielen anderen blühenden Zwetschgenbäumen entlang der Straße in einer Reihe stand, und setzte sich an den Wiesenrand. Freia legte sich artig neben sie. „Ja Freia“, sagte Rosi zu Freia, „das ist die Stelle, an der ich mal eingeschlafen bin. Da wollte ich auch nach Ziegelroda. Nachdem ich mit Jutta das Kräftemessenspiel gespielt habe. Die arme Jutta. Um ein Haar hätte ich sie erwürgt. Sie war schon ganz blau im Gesicht. Und ihre Augen traten aus den Höhlen. Stell dir das mal vor.“
Freia hob ihren Kopf und winselte leise. So, als würde sie alles verstehen, was Rosi ihr mitteilte. „Ja“, sprach Rosi leise weiter, „und dann hat mich der Robert aus Rastenberg gefunden und nach Hause gebracht. Und Mama hat gesagt, sie habe keinen Robert aus Rastenberg gesehen.“
In Erinnerungen versunken, saßen Rosi und Freia am Wegesrand und hingen weiter ihren Gedanken nach.
Plötzlich sprang Freia auf und lief aufgeregt im Kreis um Rosi herum. „Ja“, sagte Rosi und stand auch auf, „wer weiß, was passiert wäre, wenn Else nicht rechtzeitig gekommen wäre. Aber nun ab mit uns. Nach Ziegelroda. Bevor es dunkel wird.“
*
Rosi und Freia waren noch nicht am Tor angelangt, da bellte Bello schon wie verrückt. „Was ist denn los Bello“, hörte Rosi Karl sagen. „Warum machst du denn so einen Lärm?“
Doch Bello hörte nicht auf zu bellen. Er sprang aufgeregt am Tor auf und ab und Karl schob von innen den Riegel zurück. Wie eine Rakete schoss Bello auf Rosi zu. Fast hätte er sie umgeworfen. „Bello, Bello“, begrüßte Rosi Bello. „Ich bin wieder da. Ja, da freust du dich. Ich mich auch. Und ich habe dir eine Freundin mitgebracht. Guck mal, das ist Freia.“
Aufmerksam beschnupperten sich Bello und Freia. Dann spazierten sie einträchtig zum Hof. Und bestimmt liefen sie hinter das Haus und tollten auf der Wiese herum.
„Scheinbar verstehen sie sich auf Anhieb“, dachte Rosi zufrieden.
Als Rosi das Tor erreicht hatte, hatte sich Karl schon auf die grüne Bank gesetzt. Jetzt stopfte er, wie gewohnt, seine unentbehrliche Pfeife.
Rosi setzte sich neben Karl. Bedächtig machte Karl einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. Sogleich schwebten die weißgrauen Wölkchen um Karl und Rosi herum. Und der süßlich herbe Duft des Tabaks hüllte sie in einen leichten Nebel.
Eine Weile saßen Karl und Rosi schweigend nebeneinander.
Karl rauchte seine Pfeife. Rosi wärmte sich an dem vertrauten Gefühl, das sie immer in Karls Nähe empfand. Einem Gefühl von Heimat. Von Heimat und Geborgenheit. Ohne viel Worte.
„Na mein Mädel“, brach Karl nach einigen tiefen Zügen das Schweigen, „was treibt dich denn so unverhofft hier her?“
Bei diesen Worten fing Rosi wieder an zu weinen. Nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte, erzählte sie Karl die traurige Geschichte.
„So ist das Leben“, sagte Karl. "Leben und Sterben. So nah beieinander. Komm, gehen wir rein.“
Karl und Rosi standen auf. Und erst jetzt bemerkte Rosi die große Traurigkeit, die auch Karl umgab. Irgendetwas stimmte auch hier nicht.

Die ganze Familie hatte sich in der gemütlichen Wohnküche versammelt. Doch die Wohnküche erschien Rosi jetzt nicht so gemütlich, wie sie sie in Erinnerung hatte. Auch in ihr hatte sich die Traurigkeit ausgebreitet.
Auf dem alten Sofa saßen dicht nebeneinander Helene und Wally. Zwischen ihnen Billy. Über Billys Gesicht flossen die Tränen. Ab und zu wischte sie sie mit beiden Händen aus den Augen. Doch es nützte nichts. Immer Wieder flossen sie unter ihren Händen über ihr verweintes Gesicht.
Von böser Ahnung gepackt, stand Rosi eine Weile regungslos in der Tür. Helene, Wally und auch Billy starrten sie an, als sei sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
„Wo ist denn Erich?“, fragte Rosi zaghaft.
Helene stand auf und ging die paar Schritte auf Rosi zu. Auch ihre großen dunkelblauen Augen schwammen in Tränen. Mit beiden Händen fasste sie an ihren dicken Haarknoten und zog eine lange Haarnadel heraus. Gleich darauf steckte sie sie wieder hinein. „Kind“, sagte sie. Helene zog Rosi fest an an sich. „Wo kommst du denn her?“, flüsterte sie erschrocken.
„Ich, ich …“, stotterte Rosi.
Doch Helene hatte wohl gar keine Antwort erwartet. Sie wusste ja, wo Rosi herkam. Sie wusste nur nicht warum. Aber das Warum erschien Rosi in Anbetracht der Trauer, die in der Küche herrschte, völlig nebensächlich. Sogar die alte Katze auf der Fensterbank schien zu trauern. Sie lag nicht ausgestreckt, wie sonst, vor dem Fenster, sondern saß, eingerollt, wie ein Igel, wie gelähmt einfach unbeweglich da.
Vor dem Fenster wogte fast unmerklich das Tabakfeld im lauen Abendwind. Und der Himmel über ihm wurde langsam rötlich vom Schein der untergehenden Sonne.
„Was ist mit Erich Oma?“, fragte Rosi wieder.
Da sprang Billy auf. Stürmisch umarmte sie Rosi und zog sie neben sich auf das alte, durchgesessene Sofa. „Erich, Erich, mein Erich“, schluchzte sie, „ist im Krankenhaus. Und die Ärzte sagen, er stirbt.“
Sybille und Rosi hielten sich ganz fest. In Rosis Herz tobte ein wilder Schmerz. „Erich stirbt. Erich stirbt“, dachte sie entsetzt. „Bestimmt, weil er einen Splitter im Bein hat. Von einer Granate aus dem Krieg. Und weil er Bluter ist und nicht operiert werden kann. Wie Karl gesagt hatte.“

***

Fortsetzung folgt
 
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