Episode 15
Die Ausreißerfantasien die Seiltänzer und die Ohrfeigen
Langsam neigte sich der Sommer seinem Ende zu. Die Tage wurden schon kühler. Und die Nächte länger. In einer Woche würden die Sommerferien zu Ende sein. Und Jutta, Karlchen und Bertraud ein neues Schuljahr beginnen. Nur Rosi wusste noch immer nicht, wie ihr Leben weiter gehen sollte. Ohne die Schule. Und so ganz ohne Plan.
Irgendwie kam sich Rosi vor, wie ein Blatt im Wind. Ja, Blatt im Wind. Das drückte ihr Gefühl aus. Ein Blatt, das im Wind hin und her geschubst wird. Ein einsames Blatt. Das nicht wusste, wohin die Reise gehen sollte.
In den letzten Tagen hatte Rosi nur noch einen Gedanken. Fort. Einfach weg. Weg von Brühl 18. Dem Haus, in dem es kein Schneeweißchen mehr gab. Kein Rosenrot. Und keine Freia. Dem Haus, über dem ein vorwurfsvolles Schweigen lag. Dem Haus, in dem das Lachen verstummt war. Aber wo sollte sie hin? Sie konnte doch nicht nach Ziegelroda wollen. Wie damals, als sie Jutta bei dem Kräftemessespiel fast erwürgt hätte. Und der Robert aus Rastenberg sie mit seinem Fahrrad zurück gebracht hatte. Von dem Else immer noch behauptete, dass es ihn nicht gab. Sie wäre allein gekommen. Na, klar. So ein kleines Mädchen. Allein in dunkler Nacht.
Rosi schüttelte sich. Wie Freia ihr nasses Fell. Wenn sie sie aus lauter Übermut mit dem Schlauch abgespritzt hatte.
Bei diesem Bild kamen Rosi wieder die Tränen. 'Aus und vorbei', rief sie sich selbst zur Ordnung.
Wütend wischte sich Rosi die Tränen aus dem Gesicht. Was gewesen ist, ist gewesen. Damit musste sie leben. Aber nicht hier. Hier in Brühl 18. Ziegelroda war aber auch keine Option. Sie war kein kleines Mädchen mehr. Helene würde sie nicht verstehen. "Das Leben ist kein Wunschkonzert", hörte sie Helene sagen. "Der Mensch denkt. Gott lenkt."
Und Karl würde mit seiner ruhigen Stimme sagen, während er seine Pfeife stopft: "Aber Mädchen. Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Alles renkt sich wieder ein. Rede mit deiner Mutter."
Karl hatte gut Reden. Mit Else reden. Doch nicht darüber. Sie würde sie womöglich einsperren. Um ihr die Flausen auszutreiben. Ja, einsperren, wie Richard ihre geliebte Freia. Nur, weil sie läufig war und angeblich ein Mädchen gebissen hätte. Was bis heute nicht bewiesen war.
Mit aller Gewalt versuchte Rosi, die wieder aufkommenden Tränen zurück zu halten. Dieser Mord an Freia, über den niemand in Brühl 18 mehr sprach, würde sie wohl ein Leben lang verfolgen. Jedenfalls in diesem Haus. Und deshalb musste sie fort. Doch mit Wally konnte sie auch nicht darüber reden. Sie sah alle Dinge sowieso am pragmatischsten. Sogar Erichs Tod. Jeder Krieg fordert halt seine Opfer, war ihre Meinung. Und über sie, Rosi, würde sie sich auch nur lustig machen. Sie als unverbesserliche Spinnerin abstempeln.
Nein. Nichts ging. Es war einfach zu traurig.
Rosi fühlte sich mit ihrem Kummer allein. Niemandem konnte sie sich anvertrauen. Vielleicht aber doch?
*
"Ich halte es einfach nicht mehr hier aus", sagte Rosi einige Tage später zu Jutta und Karlchen.
Die Kinder saßen schon eine Weile auf den Stufen vor der blauen Tür in Brühl 18. Bisher hatten sie kein Wort gesprochen. Jeder hing so seinen Gedanken nach.
Else war mit den Kleinen im Schwimmbad. "Die Mittagssonnenstrahlen genießen", hatte sie nach dem Mittagsessen gesagt. "Kommt doch mit. Das Geschirr lasst stehen. Das könnt ihr auch später abwaschen."
So ein Spruch von Else war schon was. Und höchst selten. Sonst musste bei ihr alles sofort sein.
Doch die Kinder hatten keine Lust, die Mittagssonnenstrahlen zu genießen. Sie wollten erst am späten Nachmittag ins Schwimmbad. Schnell noch einige Runden schwimmen. Und dann mit Else und den Kleinen gemeinsam nach Hause gehen.
"Kann ich verstehen", sagte Jutta jetzt. "Ich auch nicht. Aber was sollen wir machen?"
"Ich glaube, ich haue ab", sagte Rosi.
"Und wohin bitte?" Jutta schüttelte ihren Kopf und sah Rosi mit ihren großen, braunen Augen neugierig an.
"Ja, wohin?", fragte auch Karlchen. "Ich bleibe jedenfalls hier", stellte er klar. "Man muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Außerdem müssen wir ja wieder in die Schule. Stimmt's Jutta?", wandte er sich an Jutta.
"Genau", nickte Jutta.
"Keine Sorge", sagte Rosi. "Ich habe doch auch gar nicht gesagt, dass ihr mit sollt. Nur, dass ich abhauen will."
"Und wohin bitte?", wiederholte Jutta.
"Das weiß ich doch auch nicht", seufzte Rosi. "Ist doch nur so ein Gedanke.
"Aha", neckte Karlchen Rosi. "Nur so ein Gedanke. Wo bleiben denn deine sprichwörtlichen Ideen?"
"Ja", sagte Jutta, "du hast schon lange keine mehr gehabt. Wo sind sie nur hin? Diese wunderschönen Ideen."
"Quatschköpfe!" Rosi sprang auf. "Mir blitzt da doch so eine Idee durch den Kopf. Kommt mit. Wir gehen zum Marktplatz."
"Oh ja", freute sich Jutta. "Um fünfzehn Uhr laufen doch wieder die Seiltänzer über das Seil. Und ein Karussell steht da auch."
*
Auf dem Marktplatz gab es eine Sensation. Eine Truppe Seiltänzer hatte dort seine Zelte aufgeschlagen. Wie man so sagt. Direkt neben dem Karussell. Mit einzelnen Pferden. Und Pferdekuschen. Mit zwei Pferden davor. Alles in Rot und Gold und dunklem Blau. Sehr prunkvoll. Und wunderschön anzuschauen.
Das Karussell drehte sich unentwegt. Während der Kassierer hin und her sprang und von jedem Kind zehn Pfennige einsammelte.
Die Zelte waren allerdings nur ein Zirkuswagen. Der stand jetzt auf dem Platz zwischen Kirche und Rathaus. Die Seiltänzer hatten ein dickes Seil von der Kirchturmkuppel über den Marktplatz bis zum Rathaus mit der Wetterfahne gespannt. Jeden Tag so zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr führten sie ihre Kunststückchen auf dem Seil vor. Eine Woche lang. Dann würden sie wieder weiter ziehen.
Als Rosi, Jutta und Karlchen auf dem Marktplatz ankamen, war die Vorstellung schon im vollen Gange. Ein Pärchen tanzte munter über das Seil. Gelassen zeigte es seine Kunststückchen. Die Frau hatte ein goldenes, enges Oberteil an. Dazu trug sie ein ganz kurzes Röckchen aus rosa, blauen und gelben Rüschen. Sie hatte keine Schuhe an. Leichtfüßig hüpfte sie barfuß über das dicke Seil. Ab und zu schlug sie einen Purzelbaum. Manchmal auch mehrere hintereinander. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, zeigte sie einen Spagat. Und danach drehte sie sich mehrere Male um sich selbst. Wie ein Kreisel. Dabei wehten ihre langen, schwarzen Haare lustig im leise aufkommenden Wind.
Diese Kunststückchen wiederholte die Seiltänzerin, bis sie am Ende des Seils über dem Rathaus angelangt war.
Der junge Mann war gekleidet wie Eulenspiegel. Mit seinem rotgrünen, gezackten Wams. Und der Mütze mit den zwei langen Zipfeln. Nur die langen, spitzen Schuhe fehlten. Er war barfuß. Wie die Tänzerin. Galant balancierte er hinter ihr und versuchte, alle Kunststückchen nachzumachen. Was nicht immer gelang und ein fröhliches Lachen bei den Zuschauern auslöste. Als auch er am Ende des Seils angekommen war, verneigte er sich mehrmals. Zusammen mit der Seiltänzerin. Dann warfen sie ihre Kusshändchen ins Publikum. Und die Menschen klatschten begeistert Beifall.
Der Marktplatz hatte sich zusehend gefüllt. Die Leute und viele Kinder wollten die Seiltänzer bewundern. Es war schon was. So viele Meter über der Erde auf einem Seil herum zu tanzen. Ganz ohne Netz.
"Du könntest dich ja bei denen verstecken", neckte Karlchen Rosi. "Und als blinder Passagier mit reisen", spottete er. "Ich verpetze dich auch nicht."
"Das würde ich auch gern." Jutta schaute sehnsüchtig zu den Seiltänzern. "So ein Zigeunerleben ist bestimmt total aufregend und abenteuerlich", sagte sie.
Der Seiltänzer hatte seine Eulenspiegelmütze abgenommen. Mit der Öffnung nach oben, hielt er sie den Zuschauern entgegen. Und dieser oder jener warf einige Münzen hinein.
"Ja", sagte Rosi. "Aber die haben doch nur den einen Wagen. Und das eine Pferd. Da warte ich lieber, bis mal wieder ein Zirkus hier auftaucht."
"Genau", sagte Karlchen. "Mit einem riesengroßen Zelt. Vielen Wagen. Wilden Tieren. Und lustigen Clowns", schwärmte er. "Wie im vorigen Jahr der Zirkus. Vor dem Loh."
"Das war was", sagte Rosi. "Aber da durften wir doch sowieso nicht rein."
"Ja", stimmte Jutta zu. "Weil wir mal wieder kein Geld hatten."
"Habt ihr jetzt Geld?", fragte Rosi. "Für die armen Seiltänzer?"
Rosi kramte in ihrem Murmelsäckchen. Else hatte ja, als das Murmelspielen vor langer Zeit oben am Kleffer anfing, die Säckchen genäht. Für Rosi ein rotes. Für Jutta ein blaues. Für Karlchen ein gelbes. Jetzt waren die Säckchen natürlich ganz schön abgenutzt. Aber sie erfüllten noch immer ihren Zweck. Und die Kinder trugen sie immer bei sich.
"Ich habe fünfzehn Pfennige", freute sich Jutta.
"Und ich zehn", sagte Karlchen.
"Gut", sagte Rosi. "Ich habe auch fünfzehn. Das können wir spenden."
"Dann ist ja unser ganzes Geld weg", überlegte Jutta.
"Macht nichts", sagte Rosi. "Dann müssen wir halt wieder ein bisschen nibbern. Oder murmeln", schlug sie vor.
"Klar", war Karlchen einverstanden. "Die Seiltänzer müssen ja auch leben."
"Schade, dass die Margeritenzeit vorbei ist", sagte Jutta.
"Nächstes Jahr ist auch noch ein Jahr", tröstete sie Rosi. "Da können wir wieder in die Wiesen."
"Das glaubst du doch wohl selbst nicht", zweifelte Jutta. "Du willst doch weg. Und wenn du weg willst, gehst du weg", sagte sie traurig.
In diesem Moment gesellte sich ein größere Junge aus der ehemaligen 8a, also Rosis Parallelklasse, zu Rosi, Jutta und Karlchen.
"Hallo Max", begrüßte ihn Rosi. "Willst du auch spenden?", lachte sie.
"Hab ich schon", sagte Max. "Und bestimmt mehr als du. Sehen wir uns heute Abend am Kleffer?"
*
Max war sehr beliebt bei den Mädchen. Er war sportlich, musikalisch und immer fröhlich. Irgendwie erinnerte er Rosi an Pawel. Max hatte Rosi schon mehrmals gefragt, ob sie nach achtzehn Uhr doch mal zum Kleffer kommen wolle. Klar wollte sie. Doch das eine Mal, an dem sie es versucht hatte, ging schief. Else hatte zugestimmt unter der Bedingung, dass sie all ihre Geschwister mit nehmen und achtzehn Uhr dreißig wieder zu Hause sein sollte. Na schön.
Rosi fragte sich nur, wie das gehen sollte. Die anderen Kinder, die ja jetzt zu den Erwachsenen gehörten, nach der Konfirmation, würden sie bestimmt auslachen. Elfriede, ein Mädchen aus der 8a, hatte gesagt: "Das ist ganz spannend. Auf der einen Seite gehen die Jungs spazieren. Auf der anderen Seite die Mädchen. So ungefähr wie in der Tanzstunde. Wo die Mädchen auf der einen Seite sitzen. Und die Jungs auf der anderen."
"Und was soll daran so spannend sein?", hatte Rosi neidisch gefragt.
"Na, das Gefühl", hatte Elfriede erwidert. "Das Gefühl. Wenn es so im Bauch kribbelt. Und man ganz schwache Beine bekommt. Wenn die Jungs die Mädchen so ansehen."
"Ich frag mal meine Mutter", hatte Rosi versprochen. "Mal sehen, ob die mich lässt."
Rosi wollte unbedingt wissen, was da oben am Kleffer los war. Wenn sie nicht da war. Sondern ins Bett musste. Besonders neugierig war sie auf das Gefühl. Das Kribbeln im Bauch. Und natürlich auf die Blicke der Jungs.
Also marschierte Rosi mit ihrem Rattenschwanz zum Kleffer. Und, wie befürchtet, wurde es nichts mit dem Kribbeln im Bauch. Und schwachen Beinen. Bei den Blicken der Jungs. Die Blicke gab es schon. Aber höhnische. Ohne Kribbeln im Bauch.
"Spielst du wieder den Rattenfänger von Hameln", spotteten einige Jungs. Oder: "Geh mal schön nach Hause zu Mama. Und schlaf schön."
"Der Klügere gibt nach", sagte Rosi überheblich. "Kommt Kinder."
Ohne die Jungs noch eines Blickes zu würdigen, zog Rosi mit ihrem Rattenschwanz wieder ab. Die wenigen Meter in Brühl 18.
Else war zufrieden. Rosi traute sich nie wieder nach achtzehn Uhr zum Kleffer. Aus Angst verspottet zu werden. Dann womöglich aus der Haut zu fahren und wieder eine Prügelei anzufangen. Damit der Teufel in ihr wieder frei gelassen werden konnte.
*
Plötzlich schlug die Kirchturmuhr fünf Mal.
"Mensch", sagte Karlchen erschrocken. "Wir wollten doch ins Schwimmbad. Mutti abholen."
Karlchen rannte los. Rosi, Jutta und Max hinter ihm her. Als sie im Kleffer ankamen, sahen sie Else mit den Kindern vom Spitalberg in den Brühl einbiegen. Gitti und Walti saßen im Handwagen. Else hatte sich vor die Deichsel gespannt. Bertraud schob von hinten. Alle trällerten voller Inbrunst:
"Hab mein Wage vollgelade
Voll mit alten Weibsen
Als wir in die Stadt nei kamen
Hubn sie an zu keifen
Drum lad ich all mein Lebetage
Nie alte Weibsen auf mein Wage
Hü Schimmel hüjaho
Hü Schimmel hü ... "
Fröhlich holperte Else mit dem Handwagen und der Kinderschar über das Kopfsteinpflaster. Hin zu Brühl 18.
'Wenigstens ein Lichtblick. Nach der Zeit des Schweigens', dachte Rosi erfreut.
Schnell liefen Karlchen, Jutta und Rosi den Hügel hinunter. Else entgegen. Hinter ihnen rannte Max. Und bevor Rosi etwas tun oder sagen konnte, zog Max sie blitzschnell in den Hauseingang neben Brühl 18. Also vor das Haus, in dem Frau Schwede mit ihren Kindern wohnte.
"Du bist das schönste Mädchen in ganz Buttstädt", sagte Max. Ganz nah an Rosis Mund. So, als wolle er sie küssen. "Kommst du nun nachher zum Kleffer?", flüsterte er.
Just in diesem Moment stand Else in der Tür. Patsch. Patsch hatte Max zwei Ohrfeigen im Gesicht. So, dass ihm vor Schreck der Mund offen stand und er kein einziges Wort heraus brachte.
"Das sage ich deinen Eltern", schrie Else Max an. "Lass die Finger von meinem Kind!"
Wutentbrannt zerrte Else Rosi zu Brühl 18. "Und du", wütete sie weiter, "bist ein ganz verdorbenes, hinterhältiges Ding. Wir reden gleich noch ein Wörtchen."
***
Fortsetzung folgt