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6 Seiten

La sensation des beignets

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Hannes setzte zu seinem Stoß an. Es war keine einfache Situation. Um die weiße Kugel in die gewünschte Richtung zu bugsieren, musste er halb auf dem Tisch sitzend eine akrobatische Höchstleistung vollbringen. Dabei fiel es ihm schon so schwer genug, den richtigen Angriffspunkt und die Geschwindigkeit hinzubekommen. Außerdem behinderte ihn seine schwere Lederjacke. Er dachte aber nicht daran, sie auszuziehen. In ihren großen Taschen befanden sich zu viele materielle und persönliche Wertgegenstände. Alte Kinokarten, das Ladegerät seines Handys, Libro-Rechnungen, Kugelschreiber, eine Zahnbürste, zwei abgelaufene Kondome, sein Fotoapparat und ein Diktiergerät, um nur einige wenige davon zu nennen.
Ruckartig auf dem Tisch Hin und Her rutschend, nutzte er die Zeit die es brauchte bis er sich endlich in die richtige Position gebracht hatte, um sich den Club einmal genauer anzusehen. Sein Freund Hermann war, den Kö eng an den Körper haltend, um niemandem aus Versehen damit eins überzuziehen, zur Tür gewandert, eine Gruppe eben eingetroffener Kumpels begrüßend. Die Luft in dem großen, länglichen Raum, gefüllt mit überwiegend jungen Spielern die, wenn sie nicht abseits tranken und sich lautstark miteinander unterhielten, um die vielen Billardtische herum Stellung bezogen hatten, war heiß und stickig und die von oben auf die Tische strahlenden, breiten Lampen bildeten zusammen mit den Zigarettenautomaten neben den Toiletten und einigen Spots über der Bar die einzige Beleuchtung. Popmusik tönte aus den vier Boxen, von denen in jeder Ecke eine angebracht war. Eine junge Kellnerin war in ihrer Aufgabe, einige leere Bierflaschen aufzusammeln, verharrt und beobachtete ihn. Als er ihren Blick bemerkte und ihn gleich darauf erwiderte, senkte sie schnell den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Sie kam ihm bekannt vor, er hatte sie schon mal gesehen, was in dieser Gegend nicht verwunderlich war. Die Stadt war nicht klein, aber die Orte an denen Jugendliche einfach nur herumhängen konnten beschränkten sich auf einige Teile des Stadtrands.
Rechts von ihm gröhlte eine Gruppe beurlaubter Bundesheer-Soldaten über irgendeinen dreckigen Scherz, links vereinigte ein Pärchen sich in einem langen, leidenschaftlichen Kuss. Hannes seufzte. Er fühlte sich hier völlig fehl am Platz. Dieser neuerliche Anfall einer kleinen Depression ließ in ihm jede Motivation schwinden, noch weitere fünf Minuten mit den Vorbereitungen zu seinem nächsten Stoß zu verbringen. Er probierte es einfach auf gut Glück und sprang dann schnell vom Tisch, teils um wieder eine normale Körperhaltung einzunehmen, bevor sich bleibende Muskelkrämpfe und Schäden an der Wirbelsäule einstellten, teils um den Lauf der Kugel gespannt zu verfolgen. Er versenkte die schwarze Acht und verlor damit weitere fünf Euro an Hermann. ‚Was für eine Überraschung.’, dachte er sarkastisch.
Sein Freund war wie aus dem Nichts wieder neben ihm aufgetaucht und klopfte ihm fröhlich auf die Schulter.
„Lass uns was trinken.“
Sie setzten sich an die Bar. Hermann bestellte ein Bier, Hannes Cola. Mit einem Arm auf den Tresen gestützt, nippte er an seinem Getränk. Es schmeckte stark verdünnt.
Hermann versuchte eine ganze Weile lang, irgendwie ein Gespräch zu beginnen, immerhin hatten sie sich schon seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen. „Und, hast du einen Ferialjob?“, „Weißt du schon, was du studieren wirst?“, „Was willst du denn werden?“, „Gehst du zum Bundesheer oder machst du Zivildienst?“, „Wann machst du denn den Führerschein?“
„Nein.“, „Weiß noch nicht.“, „Ich hab keine Ahnung.“, „Da hab ich mich nicht drüber informiert.“, mehr konnte Hannes zu seinem Leidwesen nicht antworten. Wieder spürte er all die ignorierten und auf später verschobenen Entscheidungen besonders stark. Schließlich erreichte seine Stimmung den Punkt, an dem ihm nur noch eines übrig blieb. Er griff in die linke Innentasche seiner Jacke, holte die Kamera hervor, hielt sie sich auf sein Gesicht gerichtet vor die Augen und drückte ab.
Hermann nahm einen großen Schluck und starrte ihn über den Rand seines Glases hinweg an.
„Du fotografierst noch immer?“, fragte er.
Hannes nickte.
„Also machst du noch immer dieses… Selbst…findungs… ding… durch?“
Er hatte Probleme damit, den Satz über die Lippen zu bekommen und bediente sich einer ausladenden Gestik - diese esoterisch angehauchten Themen waren ihm schon immer unangenehm gewesen.
Hannes drehte sich auf dem Barhocker in Hermanns Richtung, sah ihm tief in die Augen und stellte so bedeutungsschwanger wie möglich fest: „Ich bin ununterbrochen damit beschäftigt. Ich kann an nichts anderes denken.“
Hermann nahm einen weiteren Schluck, ließ sich dabei viel Zeit. Er wägte seinen nächsten Satz vorsichtig ab, schließlich wollte er niemanden aus Versehen angreifen oder verletzen.
„Glaubst du nicht…“, sagte er dann, „ dass du dich damit nur aus der Verantwortung ziehst? Diese Suche nach dem Sinn des Lebens oder der Wahrheit oder was auch immer, dass du sie nur als Ausrede benutzt? Ich kenne niemanden, der die Antworten auf solche Fragen schon mit 18 gefunden hat. Ich kenne aber einige, die das Erwachsenwerden verschlafen haben und jetzt darunter leiden.“
Hannes hätte schon nach den ersten Worten kontern können. Das Warten, bis Hermann fertig war, verstärkte lediglich den Druck und die Energie, die sich plötzlich in ihm aufbauten. Schließlich sprach er viel, viel lauter als beabsichtigt.
„Ich kann nicht… verstehst du mich? Ich kann mich um nichts kümmern, so lange mir Antworten fehlen. Ich brauche sie. Allein schon die Berufswahl ist mir nicht möglich, wenn ich mich selbst nicht kenne. Ich brauche Erfahrung, Wissen, Gefühl, nenn es wie du willst, um daraus zu lernen und mich darin zu finden und erkennen. Und ich sollte gar nicht hier in einem Schuppen sitzen, der ohnehin nicht zu mir passt. Nein! Ich sollte da draußen sein.“, er zeigte, den Arm ausgestreckt, auf ein Fenster, hinter dem man außer einigen trostlosen, vom Licht der Straßenlaternen angestrahlten Fassaden nichts erkennen konnte, „Da draußen. Jetzt. In dieser Nacht. Und nach der Person, dem Ding oder dem Gedanken suchen, der mich aus dieser Krise reißt. Ich sollte, ich sollte… ich weiß nicht. Nackt im Fluß schwimmen. Schaufenster einschlagen. Ein Mädchen vögeln. Jedenfalls nicht hier sitzen und verdammtes, grausliches Cola trinken.“
Hab ich das eben wirklich gesagt?
Bis auf das ununterbrochene Dudeln der Popmusik im Hintergrund war es schlagartig still geworden. Einer der Soldaten begann scherzhaft, Beifall zu klatschen und die anderen folgten seinem Beispiel. Ein Grinsen breitete sich über Hermanns Gesicht aus.
„Dann geh doch.“, sagte er, mit einem plötzlichen Lachen den Kopf schüttelnd.
„Mach ich.“, murmelte Hannes. Er stellte den Kragen seiner Jacke hoch, bahnte sich einen Weg zur Tür.

Energisch trat er in die Nacht hinaus, doch seine Schritte verlangsamten sich schnell, teils, weil ihm ein kühlerer Wind entgegenschlug, als er erwartet hatte und er seine Lederjacke zuknöpfen musste, teils, weil er nicht wirklich wusste, wo er nun eigentlich hin sollte.
So blieb er schließlich einige Meter von dem Club entfernt, mitten auf dem Parkplatz stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Kieselsteine knirschten unter seinen Stiefeln. Der Vollmond war zusammen mit einigen Sternen durch einen Riss in der ansonst dichten, undurchdringlichen Wolkendecke, die bis an den Horizont reichte, sichtbar und erleuchte das weitläufige Gebiet des Stadtrands ein wenig.
Einfamilienhäuser. Ein alter, riesiger Gemeindebau. Lagerhallen. Eine Firma, die Gartenmöbel herstellte, in einem länglichen, containerartigen Bau untergebracht. Gleise, die durch einen kleinen Regionalbahnhof führten. Und man konnte einen Teil der Ebene erkennen, mit ihren vielen, unzähligen Getreidefeldern, auf denen zu dieser Jahreszeit nichts wuchs.
Das Rauschen des Windes, gelegentlich ein vorbeifahrendes Auto, viel mehr war nicht zu hören. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber es schien ihm, als würden ein paar vereinzelte Regentropfen sein Gesicht berühren. Hannes war glücklich. Auf eine ruhige, seltsame Art und Weise. Jede Erregung, die ihn gerade eben noch angetrieben hatte, fiel von ihm ab und machte einer grenzenlosen Ruhe platz.
Er ignorierte das Geräusch der sich öffnenden und wieder zufallenden Tür, auch die langsamen Schritte. Bis diese schließlich genau hinter ihm stoppten. Er wandte sich um.
Zu seiner großen Überraschung sah er sich wieder der jungen Kellnerin gegenüber, die sich schnell eine Jacke übergeworfen und ihm, aus Gründen, die ihr selber nicht völlig klar waren, eigentlich mehr aus einem reinen Impuls, einem Gefühl heraus, gefolgt war.
Er meinte, eine besondere Tiefe in ihrem Blick zu erkennen. Dieses Gesicht, das ihm bisher kaum aufgefallen war, Mund, Augen, das dunkle, im Wind wehende Haar...
Bevor auch nur ein Wort zwischen ihnen gefallen war, öffnete Hannes seine Jacke so schnell wie möglich wieder, griff nach der Kamera und schoss ein Foto von ihr. Sie öffnete kurz erstaunt den Mund, lächelte dann verlegen und wurde tatsächlich ein wenig rot.
„Hi. Ich bin Anna.“, sagte sie und reichte ihm die Hand. Er nahm diese mit einem grüßenden Nicken entgegen. „Hannes.“
Die Situation amüsierte ihn, während es ihr eher peinlich zu sein schien. Er schmunzelte und hob die Augenbrauen, in der Hoffnung, sie durch eine freundliche Reaktion auf ihre Bekanntschaft vielleicht zu entspannen.
Unfähig, ihm ihr Verlangen nach einem Gespräch mit ihm zu erklären, suchte sie angestrengt nach ihrem nächsten Satz. Sie wusste nicht recht, ob sie ihn mit einer witzigen Bemerkung zum Lachen bringen, einfach auf etwas zum Trinken einladen oder vielleicht auf andere Art sein Interesse wecken sollte.
Hannes merkte inzwischen, dass er die Kamera noch immer in Händen hielt und steckte sie wieder in die Innentasche zurück.
„Was… ähm… was hat es mit diesen Fotos eigentlich auf sich?“, fragte sie.
Der Gedanke daran deprimierte ihn wieder, trotzdem wollte er die Frage beantworten. Er erzählte gerne davon, denn es bestand immer die Chance, dass jemand es schaffte, ihm durch einen guten Rat aus seiner Krise zu helfen. Als Anna merkte, wie sich seine Gesichtszüge verfinsterten, wollte sie schon das Thema wechseln, doch er kam ihr zuvor.
„Es gibt - ich bin mir nicht sicher, wo - einen Stamm Indios, die davon überzeugt sind, dass man, wenn man fotografiert wird, einen Teil seiner Seele verliert. Er wird im Bild festgehalten.“
Die Hände in den Hosentaschen, richtete er seinen Blick auf den Mond über ihnen und sprach dann weiter.
„Ich bin jemand, der sich über sich selbst nicht im Klaren ist, nicht weiß, wie er mit sich umgehen soll. Was tragisch ist, da ich der einzige Mensch bin, mit dem ich bis an den Rest meines Lebens auskommen muss. Ich versuche auf viele verschiedene Arten, etwas zu finden, nachdem ich mich richten kann. Einen Weg für mich.“
Er lachte bitter.
„Die Fotos sind sicherlich die absurdeste Methode, aber auch die einzige, die ich seit Jahren kontinuierlich betreibe. Vielleicht gelingt es mir irgendwann, den Teil von mir auf ihnen zu finden, den ich so dringend kennen muss. Vielleicht werde ich in vielen Jahren das Gesicht dieses jungen Mannes betrachten und etwas darin erkennen. Eine… ich weiß nicht… eine Wahrheit, die ich momentan einfach nicht begreifen kann. Natürlich, wenn die Geschichte der Indios stimmt, verliere ich mit jedem Foto mehr meiner Seele. Aber mittlerweile bin ich bereit zu glauben, dass emotional leer zu sein und Bescheid zu wissen besser ist, als voller in verschiedene Richtungen strebender Gefühle zu sein und zu verzweifeln.“
„Und was ist mit Liebe?“
Er hatte sie fast vergessen, mehr für sich selbst geredet. Ihr Einwurf verwirrte ihn.
„Liebe? Was ist mit Liebe? Ich darf gar nicht daran denken. Wie kann ich denn jemals jemand anderen voll und ganz lieben, wenn ich nicht einmal mit dem Menschen in mir selbst zurecht komme?“
„Ja. Und was sagen dir die Fotos nun?“
Ihre Stimme war erschreckend kühl und sachlich geworden. Hannes musste tief durchatmen, bevor er antworten konnte.
„Ich… ich habe sie mir noch nicht angesehen. Um ehrlich zu sein, habe ich noch keinen davon entwickeln lassen.“
Sie nickte nur, drehte sich um und ging.
Er starrte ihr nach, bis sich die Tür des Clubs hinter ihr schloss. Dann holte er seine Kamera wieder hervor, visierte sich selbst an und drückte ab. Der Film surrte und spulte sich zurück.

Zwei Jahre lang hatte er fotografiert. Es hatte eine Woche gedauert, bis er alle seine Filme wieder gefunden hatte. Nach drei Tagen waren diese entwickelt gewesen. Aber es hatte nur wenige Sekunden gebraucht, bis er sich wie ein Idiot vorkam.
Er hatte die Möbel und Kartons in seinem Zimmer beiseite geschoben und die Bilder über den gesamten Fußboden nebeneinander aufgelegt. Auf seinem Bett stehend überblickte er sie und schüttelte ungläubig den Kopf.
Auf so gut wie allen war nichts zu erkennen. Nicht einmal der schemenhafte Umriss von etwas oder jemandem. Sie zeigten nur völliges Schwarz. „Unterbelichtet“ hatte man Hannes gesagt. Er wusste, dass das nicht möglich war. Zumindest nicht bei sämtlichen 300 Fotos.
Bis auf ein einziges. In der rechten, hinteren Ecke des Raumes, das vorletzte Bild. Es zeigte ein Mädchen, nachts und in diesem Moment unfassbar schön.
Er schüttelte weiter den Kopf, blickte in die Schwärze, an deren Stelle er selbst hätte sein sollen und dann wieder auf das Mädchen, immer und immer wieder.
Er wusste, dies sollte ihm etwas sagen. Aber was?
 
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Kommentare  

wow... sehr schön, gefällt mir gut...

*Becci* (23.11.2002)

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