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4 Seiten

Arachnophobie

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Das erste, was sie sah, als sie am Morgen im Bad das Licht einschaltete, war SIE.
Direkt oberhalb des Fensters sass sie, der behaarte Körper etwa so gross wie ein Zwei-Euro-Stück, die fetten, behaarten Beine fest in die Fäden ihres Netzes gehakt und schaukelte im Luftzug von der Tür her leise vor sich hin.
Sie stand wie eingefroren und starrte auf ihre Feindin. Die Haare am ganzen Körper, ganz besonders im Nacken, richteten sich pfeilgerade auf. Ihre Brustnippel zogen sich zusammen und wurden so hart, als wollten sie wie überlastete Druckknöpfe aus ihrem T-Shirt springen. Gleichzeitig spürte sie, wie ein bitter-saurer Geschmack in ihre Kehle hochstieg. Sie schluckte trocken.
Warum musste so etwas eigentlich immer ausgerechnet dann passieren, wenn Thomas, ihr Mann, nicht zu Hause war? Doch selbst wenn, so rief sie sich ins Gedächtnis, hätte er wohl kaum einen Finger gerührt, sondern darauf bestanden, dass sie das Problem selber in den Griff bekam. Albern hätte er sie gescholten, hätte gesagt, sie solle sich nicht so anstellen. Und vermutlich hätte er sich auch noch königlich amüsiert während er ihren Versuch beobachtete, ihres Ekels Herr zu werden.
Rückwärtsgehend wich sie in den Flur zurück und tastete nach ihrem Staubsauger, die Spinne dabei keinen Moment aus den Augen lassend. Sie kam sich tatsächlich ein bisschen albern vor als sie bemerkte, wie ihre Hände zitterten. So sehr, dass sie es nur mit Mühe schaffte, den Stecker in die Dose zu bekommen. So, jetzt nur noch die Düse vom Saugrohr ziehen, auf den Einschaltknopf drücken, zielen... vorsichtig, langsam... ja, so... Geschafft!
Während des ganzen restlichen Tages machte sie einen Bogen um die Abstellkammer, in der sie den Staubsauger wusste. Ihr Hirn gaukelte ihr ununterbrochen Bilder der Spinne vor, wie sie in dem Saugerbeutel eingesperrt kämpfte, schliesslich den Weg zurück fand, durch den Saugschlauch bis hinunter zur Teppichdüse krabbelte und dort wartete, wartete.. bis sie den Sauger wieder mal benötigte. Und dann würde sie ihr blitzschnell auf den Fuß klettern und in ihrem Hosenbein verschwinden. Fast meinte sie schon das Kitzeln der haarigen Beine auf ihrer Haut zu spüren... Energisch schob sie die Gedanken beiseite.
Thomas konnte das natürlich nicht nachvollziehen. Zahllose Male hatte er ihr erklärt, dass Spinnen nützliche Tiere seien. Das wusste sie natürlich auch. Sie hatte sogar mal irgendwo gelesen, dass die Netze von Spinnen sich hervorragend als natürliche Wundauflage eigneten, denn die Fäden enthielten ein Enzym, dass desinfizierend wirkte und die Wundheilung förderte. Oder hatte sie das im Discovery-Channel gesehen? Ach,war sowieso egal. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie viele Male Thomas sie bereits gezwungen hatte, sich Sendungen - sogar Horrorfilme! - über Spinnen im Fernsehen anzuschauen. Im Zoo hatte er sogar einmal von ihr verlangt, eine Tarantel zu streicheln, die ein Wärter extra für interessierte Besucher aus dem Terrarium genommen hatte. ?Desensibilisierungs-Therapie? nannte er das. Ganz am Anfang ihrer Ehe war er dabei noch aufrichtig bemüht gewesen, ihr damit zu helfen, doch in der letzten Zeit schien er eher ein perverses Vergnügen aus ihrer Angst und ihrem Ekel zu ziehen. Oder litt sie vielleicht schon an Verfolgungswahn?
Sie zuckte innerlich die Achseln und beeilte sich, ihrem Mann das Essen zu servieren. Thomas aß im Wohnzimmer, wie meistens. Ungehalten versuchte er, um ihre ausladenden Hüften herum den Bildschirm im Auge zu behalten. Gerade lief irgend etwas über das Alte Reich und längst schon gestorbene ägyptische Könige. Thomas liebte es, sich den Anschein von Bildung zu geben. Er mochte das Gefühl, sich positiv von anderen abzuheben. Auch von ihr.
?Schatz, wenn du demnächst mal Zeit hast - würdest du dann an das Insektengitter im Bad denken?? Sie legte scheu Messer und Gabel zurecht und bemühte sich, ihrem Mann bei dieser Frage nicht anzusehen. Vermutlich würde er jetzt wieder die Augen zur Decke rollen und sie mustern, als sei sie das Insekt.
?Herrgott nochmal, kannst du mich denn nicht einmal in Ruhe zu Ende essen lassen, ohne mir mit deinen blöden Viechern zu kommen. Ich hab? dir versprochen, dass ich?s mache, und dann mache ich es auch.? Unbeabsichtigt spuckte er winzige Brocken mit Gulaschsoße vermischter Kartoffeln über den Tisch, wischte sich den Mund mit dem Handrücken und schob eine hochgetürmt volle Gabel Gurkensalat nach, ehe er kauend fortfuhr: ?Du musst doch einmal kapieren, dass ich keinen Bock habe zu springen, wenn du pfeifst. Erst recht nicht, wenn es sich um lächerliche Problemchen handelt, die deine Einbildung zu Riesenproblemen aufbauscht. Ich hatte heut? einen verdammt harten Tag, und morgen wird?s vermutlich auch nicht viel besser. Respektiere das und lass mich jetzt BITTE in Ruhe essen.?
Dass ihr ?Pfeifen? jetzt schon zwei Monate andauerte, davon sagte er natürlich nichts.
Wortlos räumte sie das Geschirr ab und trug es in die Küche hinüber. ?Bring mir noch ein Bier mit, wenn du zurückkommst,? rief er ihr noch nach, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. Sie musterte ihn mit einem stummen Blick über die Schulter, wie er da saß, in Jogginghose und Unterhemd, und ?Bildung? in sich einsog. Mit dem Nagel des rechten großen Zehs kratzte er sich unter der linken Fußsohle, und mit einer ebenso unbewussten Bewegung rückte er gewissenhaft sein bestes Stück zurecht. Sie hatte ihn aus Liebe geheiratet, seinetwegen sogar das Kunststudium an den Nagel gehängt... wie kam es nur, dass sie jetzt bei seinem Anblick für einen flüchtigen Moment etwas in sich aufsteigen fühlte, was ihren Gefühlen beim Anblick einer Spinne glich?

***

In dieser Nacht träumte sie.
Sie träumte, dass sie aus dem Schlaf auffuhr und ihre Augen öffnete. Die ganze Welt schien Kopf zu stehen, hatte sich verändert, schien nur noch aus dichten, tintenschwarzen Schattentälern und Abstufungen von zitternden Lichtfäden zu bestehen. Sie sah Muster, Kreise, Spiralen, Ellipsen, alle aus vielfarbigem Licht. Alles und jedes war Licht, zitternd, fließend, in allen möglichen Abstufungen und Schattierungen. Und dann erst diese Vibrationen! Sie gingen ihr durch und durch, tief, satt, volltönend, an- und abschwellend, fast als sässe sie auf einer riesigen Gitarrensaite, an der ununterbrochen gezupft wurde. Sie konnte spüren, wie ihr Körper auf dieses Vibrieren reagierte, wie plötzlich eine ungeheure Lust in ihr aufstieg.
Und er, der neben ihr war, sah gut aus - oh, so gut! Stark. Schön. Sah aus, als könnte er auch schöne, starke Kinder machen. Sie wollte ihn. Jetzt, auf der Stelle. Sie umschlang ihn heftig mit den Beinen, spürte, wie bereit er war. Die Wellen von Lust, die durch ihren Körper liefen, waren unbeschreiblich - noch nie zuvor hatte sie es so intensiv gespürt. Sie wusste ganz genau, was sie tat, als sie vorschnellte und zubiss. Im gleichen Augenblick fühlte sie, wie er sich in ihr verströmte...

***
?Hier, Thomas, nimm,? sagte seine Schwiegermutter. Aus entzündeten, rotgeränderten Augen stierte er zu ihr hoch und begriff für einen Moment gar nicht, was er mit der Kaffetasse, die sie ihm hinhielt, anfangen sollte. Endlich nahm er sie entgegen. ?Danke,? sagte er. Seine Stimme klang rau und heiser.
Sie ließ sich mit einem leisen Ächzen neben ihm auf der Treppe zum Schlafzimmer nieder und musterte ihn besorgt. Schlimm sah er aus. Unrasiert, übernächtigt, abgemagert. Besonders gut hatten sie sich nie verstanden, und so zögerte sie jetzt einen Moment, ehe sie ihrem Impuls nachgab, den Arm um seine Schultern legte und ihn leicht an sich zog. ?Du wirst sehen, dieser Tag war der schlimmste, von jetzt an geht es langsam wieder aufwärts," sagte sie tröstend. ?Wehtun wird es zwar noch lange, aber eine Beerdigung ist auch immer eine Art Schlusspunkt. Jetzt muss das Leben ohne sie weitergehen. Für dich, für mich, für uns alle.?
Er nickte, gedankenverloren. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf - wie sollte er seiner Schwiegermutter die bloß erklären? So vieles war ungesagt geblieben, so viel war in der letzten Zeit aus dem Ruder gelaufen. Und jetzt hing er plötzlich in der Luft mit seinen Gefühlen von Schuld, obschon er wusste, dass das eigentlich absurd war. Wie oft hatte die Trägheit ihn davon abgehalten, sich einmal so richtig mit Monika auszusprechen? Dass sie nicht glücklich gewesen war, hatte er doch gewusst. Vielleicht hätte ein schöner, langer Urlaub etwas ändern können, vielleicht hätten sie auch zu einer Eheberatung gemusst. Nur nicht jetzt, hatte er sich immer beschwichtigt, manchmal lösen sich Probleme auch von selbst auf, wenn man sie laufen lässt. Velleicht - später. Gott, er hatte sie doch geliebt - wie sehr, das wurde ihm jetzt erst bewusst, nachdem er sie verloren hatte. Nachdem ?später? zu einem leeren Wort für ihn geworden war. Ohne dass er es merkte hatten die Tränen wieder zu fließen begonnen.
?Einfach so im Schlaf zu sterben... ich kann das noch gar nicht begreifen. Sie war doch immer gesund. Und noch so jung,? schluchzte er. Seine Schwiegermutter tätschelte ihm hilflos die Hand.
?Tja, mein Junge, so etwas kommt vor,? erwiderte sie ratlos. ?Dass sie vermutlich Probleme mit dem Herzen gehabt hat, dass hat niemand wissen können. Wer weiss, wozu das alles gut ist. Wer weiss, welche Schmerzen und Leiden ihr in der Zukunft erspart geblieben sind. Ich denke, Gott hatte seine Gründe für seine Entscheidung. Alles hat irgendwo einen Sinn, auch wenn wir ihn jetzt vielleicht noch nicht verstehen.?
Er gab ein leises Schnauben von sich und lächelte bitter. Einige Sekunden lang sagte niemand von ihnen etwas. Dann, ganz unvermittelt meinte er: ?Du bist doch gläubig. Sag mal, ganz ehrlich: Denkst du, dass es wirklich so etwas gibt wie ein Leben nach dem Tod??
Sie antwortete nicht sofort. Ihre Augen folgten der Spinne, die, aus dem Schlafzimmer kommend, sich langsam die Deckenleiste entlang Richtung Wohnzimmer vorarbeitete.
?Wer weiß?, sagte sie leise.
 
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Kommentare  

Heike, bitte melde dich

 (21.03.2004)

Klasse! Schön erzählt, King läßt grüßen, und da ich
selber zu denjenigen gehöre, die beim Anblick einer
Spinne schaudern muß, war ich sehr angetan. Und
das Bild dieses "Muster-Menschenmännchens" war
äußerst plastisch geschildert. Gave you five!


Trainspotterin (25.10.2002)

Eigentlich bin ich ein Mensch mit viel Phantasie. (Wurde mir schon oft bestätigt) Doch bei dieser Storie muss meine Phantasie sich geschlagen geben.Gut,die Frau hat Angst vor Spinnen.Der liebe Gatte hält es nich für nötig die Tiere,so sie auftauchen,zu entfernen.Dann kommt der Spinnentraum.Spinnenfrau frisst Spinnenmann.-Szenenwechsel-Die Frau hat plötzlich und unerwartet den Löffel abgegeben.Warum ?
Hat sie die Fressorgie im Traum so erregt das ihr krankes Herz das nicht mehr aushielt ?
Hatte sie es überhaupt am Herzen ?
Oder ist das nur eine Vermutung der Mutter ?
Nee hier blick ich nicht so ganz durch,deshalb auch keine Punktewertung.


Wolzenburg (26.06.2002)

Spinnen igitt? Ach geh! Die lieben kleinen Tierchen...
Aber dann...n paar Abschnitte weiter...das Vieh im Staubsauger...
Brrr! Das war so echt beschrieben, dass sich mir vor Ekel die Zehennägel hochgerollt haben. Ich gehe nachts nie wieder barfuss Pipi machen! Nur noch in Kampfstiefeln!
Dann der Traum, der hervorragend die Empfindungen eines Spinnenweibchens wiedergab (absolut echt rüberkommend! Prima Recherche!)
Schließlich taucht mal wieder Gevatter Hein auf der Bühne auf. Fand ich fast schon langweilig (die dritte Geschichte, die ich von dir lese und schon wieder der mit der Sense).
Gönnte dem Arsch von Ehemann seinen Schmerz...
Und dann dieser total überraschende Schluss, der Turbolader der Geschichte, sozusagen. Whow! Geil!
DAS hat gefallen.
Five Points! (Oder möchtest du lieber Five Pints? Guiness oder Kilkenny?) :-) :-) :-)


Stefan Steinmetz (12.06.2002)

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