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33 Seiten

Das geheimnisvolle Schloss

Schauriges · Kurzgeschichten
Das geheimnisvolle Schloss

Schreiend fuhr Marleen aus ihrem unruhigen Schlaf auf und setzte sich in ihrem Bett auf. Ihr zarter Körper war schweißgebadet und sie blinzelte verwirrt, weil sie einen Moment benötigte, um sich davon zu überzeugen, dass sie nur geträumt hatte und sie sich in in ihrem Zimmer in Sicherheit befand. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und ließen vertraute Gegenstände erkennen, die sie und ihr heftig schlagendes Herz beruhigten. Seitdem sie mit ihren Eltern und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester in dieses alte Schloss gezogen war, suchten sie diese Albträume heim, und Marleen fürchtete sich jede Nacht davor, schlafen zu gehen. Warum waren sie überhaupt nach Schottland gezogen? Nachdenklich legte sie ihre Stirn in Falten und versuchte sich zu erinnern, aber der Traum lastete so schwer auf ihr und ihrer Seele, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Verzweifelt legte sie sich zurück in die Kissen und wagte kaum, ihre Augen zu schließen, weil sie Angst hatte, dass der Traum zurückkam, sowie sie eingeschlafen war. Erschöpft fielen ihr die Lider zu und sie zwang sich, sie wieder zu öffnen, aber es gelang ihr nicht und wenig später war sie in einen tiefen Schlaf gefallen.

Müde und leicht gereizt erschien Marleen im Esszimmer, in dem sich bereits ihre Eltern und ihre 14jährige Schwester Lilli befanden und auf sie warteten.
"Guten Morgen", sagte ihr Vater fröhlich. "Hast du gut geschlafen?"
"Sehe ich vielleicht so aus", hätte Marleen am liebsten geantwortet, aber sie verkniff sich diese unfreundliche Bemerkung und sagte statt dessen "danke, gut", ehe sie sich auf den ihr zugedachten Platz setzte. Nachdenklich rührte sie in ihrem heißen Kakao und beachtete das lebhafte Gespräch zwischen ihren Eltern nicht, weil ihre Gedanken mit dem Traum beschäftigt waren. Wie gern hätte sie sich jemandem anvertraut, aber mit wem sollte sie darüber reden? Ihre Schwester würde sie nur auslachen und ihre Eltern hatten keine Zeit, um sich mit ihr und ihrem Problem zu beschäftigen. Also blieb ihr keine andere Wahl, als sich selbst darum zu kümmern und zu versuchen, etwas über das Schloss und seine ehemaligen Einwohner herauszufinden.
Bisher war das Leben von Marleen und ihrer Schwester Lilli vollkommen frei von Schwierigkeiten verlaufen, weil ihre Eltern beide als Anwälte arbeiteten und genug Geld verdienten, um sich und ihren Töchtern ein angenehmes Leben zu garantieren. Gestern Nacht war Marleen zu aufgeregt gewesen, aber nun fiel ihr wieder ein, dass ihr Vater das Schloss von seinem Großvater geerbt hatte, der vor einem halben Jahr verstorben war.
"Es wird euch dort gefallen", hatte ihr Vater erfreut gesagt, als er hörte, dass er im Testament als Erbe eingesetzt wurde. Kaum waren die Formalitäten erledigt, packten sie ihre Koffer und zogen aus ihrem Haus in Frankreich aus, um in Zukunft in diesem Schloss zu wohnen. Am liebsten hätte Marleen ihre Sachen zusammengepackt, um zurück nach Frankreich zu fahren, aber eine Flucht kam nicht in Frage, und deshalb nahm sie sich vor, gleich nach dem Frühstück in die riesige Bibliothek zu gehen und dort nach Unterlagen und Hinweisen zu suchen, die ihr dabei halfen, das Rätsel des blassen Mädchens zu lösen, dass ständig in ihren Albträumen auftauchte und sie um Hilfe anflehte.

Geschickt kletterte Marleen die Stufen der Leiter hinauf, um an die obersten Reihen der Bücherregale zu gelangen, bei denen sie mit ihrer Suche beginnen wollte. In der Bibliothek befanden sich so viele Bücher, dass sie befürchtete, für den Rest ihres Lebens mit der Suche beschäftigt zu sein und arbeitete sich Buch für Buch weiter, bis es Zeit war, zum Mittagessen zu erscheinen. Kaum war sie fertig, verschwand sie erneut in dem vollgestopften Zimmer, stieg die Leiter hinauf und zog das nächste Buch heraus.
"Suchst du was bestimmtes", fragte Lilli.
"Nein", log Marleen, die ihre Schwester auf keinen Fall über ihre Träume informieren wollte. "Ich wollte nur mal wissen, was wir alles für Bücher geerbt haben."
"Sind doch alles nur alte Schinken, die niemanden interessieren", behauptete Lilli und nahm gelangweilt ein Buch aus dem Regal, um es gleich darauf an seinen Platz zurückzustellen.
"Mich interessieren sie aber", antwortete Marleen und rückte weiter, um das nächste Regal in Angriff zu nehmen.
"Laß uns lieber zum See gehen", bettelte Lilli. "Da ist es viel schöner, als in diesem muffigen Raum."
"Na gut", gab ihre ältere Schwester nach, weil sie sich eingestehen musste, dass ihre Augen kaum noch aufnehmen konnten, was sie las. Wenn sie vom See zurückkam, fühlte sie sich bestimmt besser und ihre Augen hatten sich bis dahin erholt. Dann konnte sie weiter nach Hinweisen suchen.
"Klasse", rief Lilli aus, drehte sich einmal im Kreis und hielt sich an einem Regal fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. "Ups", sagte sie, als sich unerwartet das Regal knirschend bewegte und einen Gang freigab, der tief ins Innere des Schlosses zu gehen schien.
"Wie hast du das gemacht", fragte Marleen ihre Schwester aufgeregt, nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte und nun vorsichtig einen Blick in den finsteren Gang hinter dem Regal wagte.
"Ich weiß nicht", gab Lilli zur Antwort, während sie Marleen nervös beobachtete, die bereits einen Schritt in den Gang gemacht hatte. "Geh da lieber nicht hinein!"
"Später vielleicht", antwortete Marleen leichthin, um ihre Neugier nicht zu deutlich zu zeigen und sich bereits aufregende Abenteuer vorstellte, weil sie genau wusste, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte und in den Gang hineinging, sowie ihr klar war, wie der Mechanismus funktionierte. "Überleg bitte noch einmal, was du getan hast."
Nachdenklich legte Lilli ihre Stirn in Falten und versuchte sich zu erinnern, um ihrer Schwester einen brauchbaren Hinweis zu geben. "Ich habe mich gedreht und am Regal abgestützt", sagte sie schließlich und hoffte, dass Marleen damit zufrieden war und sie nun endlich an den See gehen konnten.
"Na, toll", murrte Marleen. "Ein bisschen genauer kannst du es mir wohl nicht sagen?"
"Nein, kann ich nicht", schimpfte Lilli, der langsam klar wurde, dass ihre Schwester heute nicht mehr mit ihr zum Baden ging, weil der dunkle Gang in das Innere des Schlosses viel interessanter für sie war. Mißmutig sah sie Marleen dabei zu, die aufmerksam die Literatursammlung im Regal betrachtete und offensichtlich mehrere Reihen in näheren Augenschein nahm. Energisch winkte sie Lilli zu sich und bat sie, sich vor das Regal zu stellen und die Arme auszustrecken.
"Wozu soll das denn gut sein", fragte Lilli ärgerlich, während sie gehorsam die Arme in Richtung Bücher hielt.
"Wenn du dich abgestützt hast, muss der Mechanismus irgendwo in dieser Höhe ausgelöst worden sein", erklärte Marleen und merkte sich die Reihen, die Lilli problemlos erreichen konnte. Erwartungsvoll bewegte sie einen umfangreichen Wälzer und stieß enttäuscht einen Seufzer aus, weil sich das Regal keinen Millimeter rührte. Nachdem sie alle dicken Werke mit festem Einband erfolglos ausprobiert hatte, versuchte sie es mit den Schmöker, die einen mittleren Umfang hatten.
"Das kann ja ewig dauern", beschwerte sich Lilli, zog gelangweilt das dünnste Buch nach vorne und stellte überrascht fest, dass sie es nicht ganz herausziehen konnte und sich das Regal mit einem Rucken wieder in Bewegung setzte.
"Lass den Band jetzt nicht los", bettelte Marleen, schob ihr Buch zurück und stellte sich neben ihre Schwester, um sich genau einzuprägen, welcher Titel auf dem Einband stand und in welcher Reihe sich der Lesestoff befand.
Knirschend schloss sich die Geheimtür, und nur einen Moment später war nicht mehr zu erkennen, dass sich das Regal jemals bewegt hatte.
"Ist das irre", freute sich Marleen und drehte sich um, um die Bibliothek eilig zu verlassen.
"Wo willst du hin", rief ihre Schwester ihr nach und beeilte sich, um sie einzuholen.
"Ich zieh mir jetzt etwas Praktischeres an, besorge mir eine Taschenlampe und etwas zu trinken und dann..."
"Du willst wirklich in den Gang gehen", unterbrach Lilli sie ängstlich, während sie neben ihr herhastete und mit sich haderte, ob sie Marleen begleiten oder lieber zu ihren Eltern gehen und alles berichten sollte.
"Ja, natürlich gehe ich dort hinein", erwiderte Marleen fest, öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und tauschte ihr luftiges Sommerkleid gegen eine kurze Shorts, Söckchen, Turnschuhe und ein T-Shirt aus. Hektisch durchsuchte sie ihren Schreibtisch, bis sie ihre Taschenlampe fand und sie anschaltete, um die Batterie zu prüfen.
"Bitte, Marleen, überleg es dir noch einmal", bat Lilli, während sie das Tun ihrer Schwester unruhig beobachtete. "Lass uns lieber eine Nacht darüber schlafen."
"Mir ist egal, ob du eine Nacht darüber schlafen willst oder nicht", ging Marleen nicht darauf ein. "Ich gehe jetzt. Wenn du willst, kannst du mitkommen, aber versuche nicht, mich aufzuhalten."
"Warte auf mich, ich hole meine Taschenlampe. Ich lasse dich auf keinen Fall allein gehen", versicherte Lilli und hastete in ihr Zimmer, um ebenfalls ihr Kleid auszuziehen und sich praktischere Kleidung zuzulegen. Anschließend begab sie sich zur Küche und warf achtsam einen Blick hinein, um sich zu vergewissern, dass ihre Mutter sich nicht dort aufhielt. Nachdem sie sicher war, dass sich niemand in der Küche aufhielt, lief sie hinein und griff nach zwei Flaschen mit Mineralwasser, zwei Äpfeln, einer Packung Kekse und zwei Scheiben trockenem Brot. Mit ihren Errungenschaften verließ sie die Küche wieder, lief hinauf in den ersten Stock und zog einen verstaubten Rucksack unter ihrem Bett hervor, um dort die Getränke, die Esswaren und ihre Taschenlampe sorgfältig zu verstauen. Anschließend kehrte sie zum Zimmer ihrer Schwester zurück und hoffte, dass diese nicht längst ohne sie im Geheimgang verschwunden war.
"Na endlich", sagte Marleen, die bereits unruhig auf- und abgegangen war und befürchtet hatte, dass Lilli mit ihren Eltern zurückkam, um ihr die Sache auszureden.
"Ich habe für ein wenig Proviant gesorgt", erklärte Lilli. "Wir wissen schließlich nicht, wohin der Gang führt und wie lange wir gehen müssen, ehe wir ans Ende gelangen."
"Gut, dann lass uns gehen", forderte sie und ging forsch voraus, während ihre Schwester ihr zögernd folgte, weil sie immer noch nicht sicher war, ob sie das Richtige taten.
Erregt bewegte Marleen das richtige Buch und trat zur Seite, damit das Regal aufschwingen und den Weg zum Gang freigeben konnte. Obwohl sie es kaum erwarten konnte sich ins Abenteuer zu stürzen, war Marleens erster Schritt eher zögerlich, nachdem sie ihre Taschenlampe eingeschaltet und zuerst in den Gang geleuchtet hatte.
"Mama und Papa werden uns sicher bald suchen, und wenn sie die offene Tür finden wissen sie, wohin wir gegangen sind", gab Lilli zu bedenken, weil sie weiterhin skeptisch war und ihrer Schwester lieber nicht gefolgt wäre.
"Vor dem Abendessen vermissen sie uns nicht", erwiderte Marleen und machte einen weiteren Schritt in den Gang hinein. "Ich mache dir einen Vorschlag, Lilli. Heute erkundigen wir nur die nähere Umgebung. Und wenn wir sicher sind, dass wir uns hier nicht verlaufen können, gehen wir morgen weiter, in Ordnung? Sollte es uns zu gefährlich werden oder es ist uns zu ungeheuerlich, vergessen wir diesen Geheimgang."
"Einverstanden", seufzte Lilli erleichtert, ehe sie ihrer Schwester folgte und verzweifelt den Namen ihrer Schwester rief, als das Regal hinter ihr plötzlich mit einem lauten Krachen zufiel und die Taschenlampe das einzige Licht war, das ihnen den Weg zeigte.
"Was, zum Teufel, hast du gemacht", fuhr ihre Schwester sie zornig an, weil sie wusste, dass Lilli ihre Finger nie bei sich behalten konnte und ständig etwas anfassen musste. Für Marleen war es gar keine Frage, dass Lilli für die geschlossene Tür verantwortlich war.
"Ich habe überhaupt nichts gemacht", antwortete Lilli, während sie ihre Finger ängstlich in den Arm ihrer älteren Schwester krallte.
"Lass mich los, du tust mir weh!"
Hastig zog Lilli ihre Finger zurück und kämpfte mit den Tränen, weil sie Angst hatte, dass sie und Marleen nie mehr hier herauskamen. "Was sollen wir jetzt tun?"
"Wir suchen auf dieser Seite nach einem Hebel oder ähnlichem, dass uns die Tür wieder öffnet", erklärte Marleen mit ruhiger Stimme und versuchte, ihre eigene Panik unter Kontrolle zu halten, um ihrer Schwester nicht noch mehr Angst einzujagen.
Zitternd ging Lilli in die Hocke, öffnete ihren Rucksack und holte die Taschenlampe hervor. Rasch machte sie die Lampe an und seufzte erleichtert, als es in dem dunklen Gang durch das zweite Licht etwas heller wurde.
"Mach sofort die Taschenlampe aus", befahl Marleen. "Wenn wir keine Möglichkeit finden, von hier aus in die Bibliothek zurückzukehren, dann müssen wir weitergehen und einen anderen Ausweg suchen. Wenn wir beide Lampen gleichzeitig anmachen, werden sie zur selben Zeit ausgehen und dann verfügen wir über gar kein Licht mehr."
Obwohl Lilli ihre Taschenlampe lieber in der Hand behalten hätte, fand sie die Erklärung logisch und packte sie fügsam wieder ein, schloss den Rucksack und richtete sich auf. Vorsichtig folgte sie Marleen, die auf die Wand zuging und sorgfältig Stück für Stück beleuchtete, um etwas zu finden, dass ihnen aus ihrem Dilemma heraushalf. Von dieser Seite aus war nicht einmal zu erkennen, dass es sich um eine Tür handelte, und je länger Marleen nach einem Hebel suchte, desto verzweifelter wurde sie, weil die Wand glatt war und nichts darauf hinwies, dass sie von dieser Stelle aus in den großen Raum dahinter zurückgehen konnten. Endlich fühlte sie eine kleine Unebenheit und berührte einen winzigen Knopf, der kaum zu sehen war.
"Nichts", stellte sie enttäuscht fest, nachdem die Tür sich keinen Millimeter gerührt hatte.
"Vielleicht musst du ihn noch einmal drücken", schlug Lilli zaghaft vor.
"Versuchen kann ich es ja mal", ging Marleen darauf ein, drückte und zog an dem Knopf, ohne jedoch einen Erfolg zu erzielen.
"Hast du das auch gehört", fragte Lilli aufgeregt.
"Ja, es hörte sich an, als ob irgendwo dort hinten eine Tür geöffnet wurde", bestätigte Marleen. "Ich glaube, dass es einen anderen Ausgang gibt. Wir müssen weitergehen."
"In Ordnung", stimmte ihre jüngere Schwester zu, obwohl sie lieber an Ort und Stelle geblieben wäre, falls ihre Eltern den geheimen Trick mit dem Buch wussten und sie im Laufe des Tages befreiten.
"Gib mir deine Hand, Lilli. Wir gehen hintereinander und ich werde nach jeweils fünf Schritten stehen bleiben und den Boden und die Wände gründlich ableuchten. Wenn ich keinen abzweigenden Gang finden kann, gehen wir weiter."
Hand in Hand bewegten sich die Schwestern weiter, und Marleen blieb immer wieder stehen, um alle Wände zu betrachten. Angestrengt lauschten sie in die Dunkelheit, hörten aber nur ihren eigenen Atem und ihre Schritte.
"Dort", wies Marleen mit ihrer Lampe zu einer Wand, die einen schmalen Durchgang hatte. "Hoffentlich ist das unser Ausgang."
"Willst du dich da wirklich durchquetschen", fragte Lilli entsetzt.
"Uns bleibt keine andere Wahl. Natürlich können wir auch geradeaus weitergehen, aber ich bin der Meinung, dass wir jeden Gang untersuchen müssen. Wir können zurückgehen, wenn er in eine Sackgasse führt", erklärte Marleen.
Widerstandslos folgte Lilli ihrer Schwester, weil sie wusste, dass sie für kein Argument zugänglich war und ihren Kopf durchsetzte. Mühselig zwängten sie sich durch den engen Spalt, und als sie hindurch gegangen waren, schloss er sich plötzlich hinter ihnen und löste eine neue Panikwelle bei den Mädchen aus.
"Was geht hier vor", schluchzte Lilli und packte die Hand ihrer Schwester fest.
"Ich..., ich habe keine Ahnung", stammelte Marleen, der es nicht länger gelang, die Ruhe zu bewahren.
Vor ihnen lag ein Gang, der äußerst eng war und ihnen kaum Luft zum Atmen ließ. Tief durchatmend richtete Marleen den Lichtstrahl vor sich auf den Boden, und als sie sicher war, dass sich keine Abgründe vor ihnen auftaten, ging sie Schritt für Schritt vorwärts und zog Lilli hinter sich her. Stetig führte der Weg in die Tiefe, und bald hatten die Mädchen das Gefühl, weit unter der Erde zu sein. Auf einmal machte der Gang vor ihnen einen Knick nach rechts, und Marleen beschleunigte ihre Schritte in der Hoffnung, dass sie einem Ausgang endlich näher gekommen waren. Unerwartet blieb sie stehen, und Lilli prallte auf ihre Schwester, weil sie nicht damit gerechnet hatte.
"Was ist", fragte sie.
"Sieh dir das an", flüsterte das Mädchen und machte Platz, um Lilli den Blick in einen großen runden Raum zu gewähren. Große steinerne Figuren mit Dämonengesichtern befanden sich dicht an dicht an den Wänden und schienen sie bösartig aus leuchtenden roten Augen anzugrinsen. Erschrocken wich Lilli einen Schritt zurück und versteckte sich hinter dem Rücken Marleens.
Ohne sich um Lilli zu kümmern betrat Marleen den Raum und betrachtete die Figuren. Fröstelnd schlug sie die Arme um ihren Körper und stellte fest, dass kleine Dampfwölkchen aus ihrem Mund traten. War es wirklich so kalt hier?
Zaudernd folgte Lilli ihr, weil Marleen die Taschenlampe hatte und sie nicht im Dunkeln zurückgelassen werden wollte. Sofort fiel auch ihr die Kälte auf, die in diesem Raum herrschte und sie fragte sich, woher sie kam.
"Wozu diente dieser Raum", fragte Lilli, während sie neben ihre Schwester trat, die immer noch fasziniert die Figuren an den Wänden betrachtete.
"Ich weiß es nicht", antwortete sie, ehe sie sich dem Boden zuwandte und Lilli anstieß. "Sieh mal, dort sind verschiedene Symbole auf dem Boden."
Angestrengt starrte Lilli auf die Stelle, die ihre Schwester beleuchtete und versuchte, eine Bedeutung herauszulesen.
"Möglicherweise ist das ein Hinweis auf unseren Ausgang", vermutete Marleen, bückte sich und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Zeichen auf der Erde, ehe sie zögernd die Hand ausstreckte und eines der Symbole berührte.
"Bitte, Marleen, lass uns lieber weitergehen", flehte Lilli, die mit den Füßen aufstampfte und ihre Hände ineinander schlug, um sie warm zu halten. "Spürst du die Kälte nicht?"
"Noch einen Augenblick", bat Marleen, die völlig hingerissen davon war, dass sie sämtliche Symbole verschieben und somit Sonne, Mond, Sterne, Pfeile und Kugeln in neue Anordnungen bringen konnte. Nachdem sie einige Sterne, die Sonne und den Mond neu arrangiert hatte, begann der Raum sich laut quietschend zu drehen und Marleen sprang bestürzt auf, um zu ihrer Schwester zu eilen, die laut zu schreien begonnen hatte.

Auf den Gesichtern der Dämonenfiguren schien sich ein teuflisches Lächeln auszubreiten, und die beiden Mädchen hielten sich eng umschlungen, weil sie ihr nahes Ende befürchteten.
"Es tut mir leid, Lilli, niemals hätte ich den Gang betreten und dich mitnehmen sollen", weinte Marleen, die ihre Hysterie kaum unterdrücken konnte.
"Ich war genauso neugierig", versuchte Lilli ihre Schwester schluchzend zu beruhigen, obwohl es eine Lüge war und sie nur nicht wollte, dass Marleen ein schlechtes Gewissen bekam. "Dort", sagte sie und zeigte auf drei weitere Gänge, die sich durch das Verschieben des Raumes geöffnet hatten.
"Ich bin mir nicht sicher, ob wir weitergehen sollten", zweifelte Marleen. "Vielleicht wäre es sinnvoller, den Weg zurück zu suchen und zu hoffen, dass jemand den Trick mit dem Buch kennt und uns aus unserer Situation erlöst."
"Wir werden uns verlaufen, wenn wir zurückgehen", vermutete Lilli, "oder kannst du dich daran erinnern, wo wir entlanggegangen sind?"
Betrübt schüttelte Marleen den Kopf, weil sie es nicht mehr wusste und löste sich aus den Armen ihrer jüngeren Schwester. Tief durchatmend betrachtete sie aus sicherer Entfernung die Gänge, als ob sie erwartete, dass ihnen daraus etwas entgegenkam.
Mit einem Ruck hörte der Raum auf sich zu drehen und die diabolischen Augen hörten endlich zu glühen auf.
"Wir gehen weiter", beschloss Marleen, obwohl ihr der Gedanke unangenehm war und sie nicht wusste, welchen Gang sie nehmen sollten. Beklommen näherte sie sich dem rechten Gang und warf einen nervösen Blick hinein. Allerdings war er ebenso dunkel wie alle vorherigen Gänge und sie wusste, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als einen auszuwählen und weiterzugehen in der Hoffnung, dass es der richtige war.
"Welchen wollen wir nehmen", fragte sie Lilli, die ihr nachgegangen war, weil sie sich zu Tode ängstigte und keinen Millimeter von ihrer älteren Schwester entfernt sein wollte.
"Ich weiß es nicht", flüsterte Lilli mutlos, während sie ein Taschentuch aus ihrer Shorts zog, um sich die Nase zu putzen.
Gedankenvoll sah Marleen zurück zu der Anordnung der Symbole, die sie erstellt hatte und fragte sich, ob durch die erneute Änderung weitere oder andere Gänge freigegeben wurden. Wenn das der Fall war, dann konnten sie hier eine Ewigkeit verbringen, ehe sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatten. Nein, sie würde keine Veränderungen vornehmen, ehe sie nicht diese drei Gänge untersucht hatten.
"Nun gut", sagte sie, während sie sich langsam wieder in der Gewalt hatte und blickte noch einmal in den rechten Gang. "Nehmen wir diesen hier, und wenn er uns nicht weiterführt, drehen wir um und versuchen den nächsten."
"Falls er nicht so viele Biegungen macht und weitere Wege aufzeigt, dass wir später nicht mehr zurückfinden", warf Lilli ein.
"Dein Pessimismus ist hier nicht angebracht", tadelte Marleen ihre Schwester, weil sie selbst genug Zweifel hatte und auf solche Bemerkungen gut verzichten konnte. "Komm, gehen wir."
Dicht hintereinander betraten sie den finsteren Gang und stellten nach wenigen Metern erleichtert fest, dass er schnur geradeaus verlief und somit keine Gefahr bestand, dass sie sich in dem Wirrwarr von weiteren Wegen verliefen. Unerwartet tauchte vor ihnen eine Wand auf, und Marleen wäre beinahe gegen sie gelaufen, weil sie den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Boden gerichtet hielt und das Hindernis erst in letzter Sekunde bemerkte.
"Stopp", rief sie, aber ihre Schwester war ihr so nah auf den Fersen, dass sie nicht rechtzeitig genug stehen blieb und Marleen in die Hacken trat.
"Entschuldige", stammelte Lilli betreten und versuchte, ihr über die Schulter zu schauen. "Was ist denn?"
"Hier geht es nicht weiter", antwortete Marleen, die sich darüber ärgerte, diesen Gang ausgewählt zu haben und wertvolle Zeit damit verschwendet hatte, ihn entlang zu gehen. "Wir müssen zurück."
Schweigend machten sie kehrt und befanden sich bald darauf in dem großen Raum mit den Dämonenköpfen. Ohne zu überlegen oder sich mit ihrer jüngeren Schwester zu beraten steuerte Marleen auf den mittleren Gang zu und betrat ihn. Gleich darauf stellte sie fest, dass er einige Biegungen machte, und nachdem sie und ihre Schwester zehn Minuten diesen Biegungen gefolgt waren, mussten sie sich zwischen zwei weiteren Gängen entscheiden.
"Ich halt das nicht mehr aus", klagte Lilli. "Wir werden hier unten bestimmt verhungern."
"Nein, das werden wir nicht", fuhr Marleen sie wütend an. "Wir finden einen Ausgang und es wäre besser für uns beide, wenn du dich ein bisschen zusammen nehmen könntest."
"Tu nicht so, als ob du das alles für einen großen Spaß hältst", beschwerte sich Lilli und verzog trotzig ihr Gesicht.
"Ich finde das überhaupt nicht spaßig", gab Marleen zurück. "Allerdings bin ich der Meinung, dass es uns überhaupt nichts einbringt, wenn wir uns gegenseitig etwas vorjammern, weil wir dann nie hier herauskommen werden. Also, reiß dich zusammen und laß uns nach links gehen."
Obwohl Lilli gern etwas Passendes darauf erwidert hätte, schwieg sie und ging Marleen in den linken Gang nach. Rechts und links an den Wänden waren verschiedene Figuren in den Stein gehauen, aber glücklicherweise sahen sie nicht so satanisch aus wie die Köpfe, die sich im großen runden Saal befanden und machten den beiden Mädchen kaum Angst. Unendlich lange liefen sie vorwärts, ehe sie erneut in einen Raum gelangten, in dem mehrere verrostete Gerätschaften standen.
"Wenn wir nur ein wenig mehr Licht hätten", beklagte sich die Ältere der beiden, während sie die Wände beleuchtete, als ob sie dort einen Lichtschalter suchte. An den Wänden waren mehrere Halterungen angebracht und in einigen von ihnen steckten noch Reste von Fackeln. "Hast du ein Feuerzeug oder Streichhölzer bei dir?"
"Vielleicht in meinem Rucksack", erwiderte Lilli, nahm ihn vom Rücken und zog kurz darauf ein Päckchen Streichhölzer hervor. "Wozu brauchst du die?"
"Wirst du gleich sehen", antwortete Marleen, nahm die Schachtel entgegen und entzündete ein Streichholz, das sie an eine der Fackeln hielt. Zischend fing sie Feuer und sie hätte beinahe einen Jubelschrei ausgestoßen, weil sie auf diese Weise ihre Batterie schonen konnte. Hastig nahm sie die Fackel aus ihrer Halterung und ging an der Wand entlang, bis sie alle weiteren Fackeln angezündet hatte. Erst im hellen Lichtschein erkannten sie, dass sie sich in einer Folterkammer befanden.
"Das ist ja ekelhaft", rief Lilli aus, während sie ein wenig zurückwich und sich nicht dazu durchringen konnte, die Folterinstrumente näher in Augenschein zu nehmen. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester, die wieder einmal ihre Neugier nicht bezähmen konnte, allerdings einige Male erschreckt zusammenzuckte, als sie glaubte, Blutflecken zu erkennen. Mit gemischten Gefühlen betrachtete sie die grausamen Instrumente, und als sie schließlich ein Gerät entdeckte, dass an einer der Wände festgemacht war, stellte sie entsetzt fest, dass sich dort noch Reste eines Skelettes befanden. Ob es sich hierbei um das junge Mädchen handelte, das sie in ihren Träumen um Hilfe anflehte? Hatte dieses Mädchen sie hierher geführt, damit sie ihre Knochen fand und sie anständig beerdigen konnte? Darauf hatte Marleen keine Antwort und sie zögerte immer noch, ihre jüngere Schwester in ihre Träume einzuweihen. Sie war ja nicht einmal sicher, ob sie Lilli überhaupt von diesem Skelett erzählen sollte. Möglicherweise geriet Lilli dadurch so in Panik, dass sie sich weigerte, weiterzugehen und sich nur hysterisch in eine Ecke setzte. Seufzend wandte sich Marleen ab, nachdem sie der toten Person versprochen hatte, irgendwann zurückzukommen und für eine Beerdigung zu sorgen.
"Aus diesem Raum gibt es keinen Ausgang", sagte sie zu Lilli, die sich keinen Meter bewegt hatte. "Hier, nimm auch eine Fackel und lass uns zurückgehen, bis wir an der Gabelung angekommen sind. Dort betreten wir den anderen Gang."
Willig folgte Lilli ihrer Schwester auch diesmal, und schließlich gingen sie in den zweiten Gang, der wiederum in einer Sackgasse endete. Schimpfend kehrten sie um, bis sie erneut in dem Raum mit den Dämonenköpfen ankamen. Dort beschlossen sie, sich für eine Weile auszuruhen, etwas zu essen und einen Schluck zu trinken, ehe sie den letzten Gang in Angriff nahmen.
Schweigend setzten sich die jungen Mädchen auf den kalten Boden und stärkten sich mit dem Proviant, den Lilli wohlweislich in ihrem Rucksack verstaut hatte. Obwohl beide voller Angst waren und ihnen der Kopf vor unangenehmen Gedanken schwirrte, fühlten sie sich außerstande, ein Gespräch miteinander zu führen. Rasch stieg ihnen die Kälte des Raumes in die Glieder und sie erhoben sich nach ihrem kargen Mahl, weil ihnen nicht nur immer kühler wurde, sondern die Augen der Dämonen unheimlicher zu werden schienen.
Jede mit einer brennenden Fackel in der Hand machten sie sich erneut auf den Weg und betraten den Gang zu ihrer linken, der ihnen breiter vorkam als alle Gänge zuvor. Wortlos stapfte Lilli hinter ihrer älteren Schwester her und konnte kaum mit ihr Schritt halten, weil sie eine eiligere Gangart eingeschlagen hatte, als ob sie damit schneller einen Ausweg finden konnte.
Außer kleinen Windungen verlief der Gang gleichmäßig und Marleen schöpfte bereits Hoffnung, als diese wiederum zerstört wurde, als sich vor ihnen zwei neue Gänge auftaten.
"Nimmt das überhaupt kein Ende", klagte Lilli und blieb trotzig stehen, während ihre Schwester bereits mit der Fackel in einen der beiden Gänge leuchtete.
"Gehen wir einfach weiter", bestimmte Marleen, betrat den neuen Gang zur rechten und drehte sich nicht einmal zu ihrer Schwester um, die einige Sekunden brauchte, um sich von ihrer Verzweiflung zu lösen, ehe sie rasch folgte.
Nach wenigen Metern endete der Weg erneut in einem Raum, der jedoch wie eine Empfangshalle wirkte, weil von ihm mehrere Türen abgingen, die alle geschlossen waren.
"Ach, du meine Güte", entfuhr es Marleen und wandte sich endlich zu ihrer jüngeren Schwester um, die mit weit aufgerissenen Augen entsetzt auf die Türen starrte und jegliche Hoffnung auf einen Ausgang verwarf. "Was war das nur für ein Baumeister und warum hat er hier unten so viele Räume gebaut", fragte sie, erhielt von Lilli jedoch keine Antwort, der sogleich Tränen in die Augen schossen, als ihre Fackel plötzlich ausging und die Halle nur noch durch das Licht von Marleen beleuchtet wurde.
"Ich halte das nicht länger aus", schluchzte sie plötzlich, warf die Fackel gegen die Wand und ließ sich zu Boden gleiten, wo sie sitzenblieb und sich vornahm, nicht eher aufzustehen, ehe sie gefunden und errettet wurde.
"Ich bin sicher, dass eine der Türen uns zurück bringt", versuchte Marleen, ihrer Schwester Mut zu machen, obwohl sie selbst nicht mehr so recht an einen Ausweg aus ihrer Misere glaubte.
"Blödsinn", heulte Lilli, "wir laufen jetzt ewig herum und kommen nur von einem Raum in den nächsten, ohne das ein Ende in Sicht ist. Warum musst du auch immer so dämliche Ideen haben!"
"Du hättest nicht mitkommen müssen", gab Marleen beleidigt zurück, besann sich aber sogleich, weil sie wusste, dass sie sich beide in einer äußerst angespannten Situation befanden und so leicht Worte geäußert wurden, die nicht so gemeint waren. Genau genommen konnte sie die Wut ihrer Schwester verstehen, denn längst schimpfte sie sich selbst einen Narren, die Bibliothek verlassen zu haben, ohne zumindest ein Elternteil von ihrem Vorhaben zu unterrichten. "Tut mir leid, du hast ja recht", gab sie zerknirscht zu, während sie sich neben Lilli hockte und einen Arm um die Schultern ihrer Schwester legte.
"Wir kommen hier nie raus", weinte Lilli hemmungslos, und Marleen wartete, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte.
"Ich werde jetzt nachschauen, was sich hinter den Türen verbirgt", sagte sie erhob sich und warf einen zögerlichen Blick auf eine der sechs Türen. "Wenn du möchtest, warte einfach hier."
"Niemals bleibe ich hier allein sitzen", empörte sich Lilli, sprang hastig auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. Obwohl sie noch vor wenigen Minuten beschlossen hatte, auf dem Boden sitzen zu bleiben und auf Hilfe zu warten, fühlte sie sich viel zu unbehaglich, als allein in diesem Raum zu bleiben.
Vorsichtig näherten sie sich der Tür, die ihnen am nächsten war, und während Marleen zögernd die Hand nach der Klinke ausstreckte, holte sie tief Luft und hoffte, dass keine weiteren Möglichkeiten dahinter verborgen waren und sie wieder einen neuen Weg wählen mussten.
Knirschend gab die Tür dem Druck von Marleens Hand nach, und sie schaute mit klopfendem Herzen in das Zimmer, das dunkel vor ihnen lag.
"Darf ich jetzt meine Taschenlampe anmachen", wollte ihre Schwester hoffnungsvoll wissen, weil das Licht der Fackel nur unzureichend war und sie Angst vor unliebsamen Überraschungen hatte.
Ohne Hast zog Marleen die ihre aus der Hosentasche und drückte sie ihrer Schwester in die Hand, die sie sofort anknipste und den Strahl in das Innere des Zimmers lenkte.
"Sieh dir das mal an", forderte Marleen sie auf und trat einen Schritt zur Seite, damit Lilli sehen konnte, was sie sah.
Einen leisen überraschten Pfiff ausstoßend trat Lilli mutig in das Zimmer hinein und ließ das Licht ihrer Taschenlampe über die Möbel gleiten, die mit Spinnweben überzogen waren. An der hinteren Wand stand ein enormes Himmelbett, auf dem noch die bezogene Bettwäsche lag. Rechts davon stand ein zierliches Nachtschränkchen, das mit herrlichen Schnitzereien verziert war. Der Kleiderschrank war ebenso verziert und füllte die ganze linke Seite des Zimmers aus. Auf dem Schminktisch standen etliche Fläschchen, deren Inhalt im Laufe der Jahre verdunstet war. Daneben lagen mehrere mit Silber verzierte Kämme und Bürsten, reichlich geschmückter Haarschmuck und einige in Gold und Silber gefasste Armreifen, Ringe und Ohrringe. Selbst die überall im Raum verteilten Kerzenständer waren mit dem teuren Edelmetall überzogen.
"Das ist ja unglaublich", sagte Lilli beeindruckt und vergaß zum ersten Mal ihre Angst, während sie weiter in das Zimmer hineinging und mit der freien Hand die Spinnweben zerstörte.
"Ich möchte mal wissen, warum es in diesem dunklen Gewölbe solch einen Raum gibt", murmelte Marleen und musste plötzlich an das arme Wesen denken, dessen Skelett sie vor kurzem gesehen hatte.
"Ja, und ich möchte jetzt wissen, was hinter den anderen Türen ist", erwiderte Lilli, drehte sich abrupt um und verließ den Raum.
"Nun warte doch", hielt Marleen ihre Schwester zurück, weil sie befürchtete, dass in einem der vielen Räume ein weiteres Skelett lag und Lilli möglicherweise erneut in Panik geriet.
Unbeeindruckt drängte sich Lilli an ihr vorbei, nahm die nächste Tür in Angriff und musste enttäuscht feststellen, dass sie sie nicht öffnen konnte.
Erleichtert stieß Marleen einen Seufzer aus und hoffte, dass sich die anderen Türen ebenfalls nicht öffnen ließen. Plötzlich schien es, als ob sie mit Lilli die Rollen getauscht und sie nun die ängstlichere der beiden Mädchen geworden war.
"So ein Mist", fluchte Lilli leise, warf Marleen einen kurzen Blick zu und steuerte eine weitere Tür an. Quietschend öffnete sie sich, und Lilli leuchtete erst hinein, ehe sie dieses Zimmer betrat, das ein wenig kleiner, aber nicht weniger üppig ausgestattet war.
"Nun komm schon und sieh dir das an", forderte sie Marleen auf, die über den unerwarteten Mut ihrer Schwester erstaunt war, ihr jedoch folgte und ebenfalls in das Zimmer trat.
"Das war bestimmt so eine Art Salon", stellte Marleen fest, nachdem sie die zierlichen Sessel, mehrere Bilder und sogar einige vollkommen in Spinnweben eingewobene Gläser auf einem Tisch ausgemacht hatte.
"Guck mal, von hier kommt man in den Raum, dessen Tür sich eben nicht öffnen ließ", stellte Lilli erfreut fest, hastete an ihrer Schwester vorbei und stieß die Tür auf.
Zögernd folgte Marleen ihr, immer darauf gefasst, auf etwas Unerwartetes zu stoßen und ahnte schlimmes, als ihre Schwester abrupt zurückprallte und nach Luft schnappte.
"Da..., da..., da liegt...", stotterte Lilli, drehte sich zu Marleen um und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Sicher ein weiteres Skelett, dachte Marleen, während sie einen vorsichtigen Blick in den Raum warf und ihre schlimmste Befürchtung bestätigt sah. In dem als Badezimmer zu erkennenden Raum lag vor der vergoldeten Wanne ein Skelett, und daneben war ein Messer zu erkennen, dessen Griff mit Ornamenten verziert war.
"Ich glaube, hier wurde jemand ermordet", stieß Lilli aus, die langsam wieder zu sich kam und ihren ersten Schreck überwunden hatte.
"Da stimme ich dir zu", sagte Marleen, während sie versuchte, die beiden Toten miteinander in Verbindung zu bringen. Sicher wäre es sinnvoll gewesen, sich vorher über die ehemaligen Herren dieses Besitzes schlau zu machen, um einen Zusammenhang feststellen zu können.
"Ich muss dir was sagen", wandte sie sich an Lilli, die immer noch wie gebannt auf das Skelett starrte, als ob sie befürchtete, dass es sich plötzlich erhob.
"Ich habe vorhin schon einmal ein Skelett gesehen", beichtete Marleen und warf ihrer Schwester einen prüfenden Blick zu, die diese Nachricht offenbar zur Kenntnis nahm, ohne überrascht zu sein.
"Weißt du, ob es ein Mann oder eine Frau war, die du gesehen hast", erkundigte sich Lilli, während sie langsam ihren Blick von den Knochen löste, um ihre Schwester anzusehen.
"Nein, es waren wie hier nur Knochen auszumachen und einige Stofffetzen", antwortete Marleen.
"Bestimmt eine traurige Liebesgeschichte", vermutete Lilli, die Liebesromane leidenschaftlich verschlang und der sofort alle möglichen Gründe einfielen, die sie bereits in einem dieser Bücher gelesen hatte.
"Ja, das ist durchaus möglich", stimmte Marleen halbherzig zu und fragte sich, was das Ganze mit ihren Träumen zu tun hatte, die sie allnächtlich aus dem Schlaf rissen. War es Zeit, ihrer Schwester von ihren Träumen zu berichten? Vielleicht konnten sie zusammen das Rätsel lösen, denn Marleen fühlte sich außerstande, allein einen Zusammenhang zwischen ihren Träumen und den Toten hier unten herzustellen. In ihren Träumen flehte sie nur eine junge Frau um Hilfe an, aber warum lagen dann hier zwei Tote? "Ich muss dir was sagen", wandte sie sich an Lilli, die auf ihrer Unterlippe zupfte und offenbar nicht wusste, ob sie die nächsten Räume noch inspizieren oder es lieber lassen sollte.
Während Marleen ihrer jüngeren Schwester von ihren Träumen berichtete, wurden deren Augen immer größer und langsam begriff sie, warum Marleen unbedingt hier hinunter gehen wollte.
"Auf alle Fälle ist hier etwas unrechtes geschehen und dieses Mädchen möchte, dass du es aufklärst", sagte sie, nachdem Marleen ihren Bericht beendet hatte. "Wie alt ist dieses Mädchen?"
"Ich weiß es nicht", erwiderte Marleen betrübt. "Sie sieht nicht älter als 14 oder 15 aus."
"Früher wurden die schon in diesem Alter verheiratet", klärte Lilli auf, obwohl ihr klar war, dass Marleen das ebenfalls wusste. "Vielleicht war das Mädchen ungehorsam und hat die Ehe mit einem unliebsamen Mann verweigert. Zur Strafe wurde sie hier unten eingesperrt."
"Ach, Lilli, du liest zuviel Liebesromane. Wenn sie hier unten eingesperrt wurde, weil sie ungehorsam war, dann erklärt das nicht den zweiten Toten und schon gar nicht das Messer hier", deutete Marleen auf den Boden.
"Du hast Recht", gab Lilli zu, drehte sich um und verließ den Raum. "Ich denke, wir sollten die anderen Räume anschauen. Vielleicht gibt es noch mehr Tote."
"Um Himmels willen, ich will keine Skelette mehr sehen", schauderte Marleen, wandte sich jedoch um und folgte ihrer Schwester hinaus.
"Ich auch nicht", murmelte Lilli, stieß die nächste Tür auf und atmete erleichtert auf, nachdem sie festgestellt hatte, dass der Raum bis auf einige wenige Möbelstücke leer war.
"Auf jeden Fall sieht es so aus, als ob es hier unten einen eigenen Haushalt gegeben hätte", vermutete Marleen, nachdem sie noch weitere Türen geöffnet hatten, hinter denen sich eine Küche, ein weiteres Schlafzimmer und eine Bibliothek befanden.
"Wo sind die Bücher?" fragte Lilli und betrachtete verwundert die leeren Regale, die den ganzen Raum ausfüllten.
"Vielleicht sind sie jetzt alle oben oder sie wurden verbrannt", sagte Marleen, während sie auf den Kamin zeigte. "Das ist alles so verwirrend."
"Was machen wir jetzt", fragte Lilli. "Von dieser Halle aus führen alle Türen in weitere Zimmer, aber von diesen Zimmern gehen keine weiteren Türen ab und ich sehe nicht, wie wir von hier aus diesem Gewölbe herauskommen sollen."
"Darüber habe ich ebenfalls nachgedacht, aber ich befürchte, dass wir zurückgehen und einen anderen Weg finden müssen."
"Ich habe jedenfalls die Orientierung verloren und weiß nicht, wo wir bereits waren und wo wir nun langgehen sollen", gab Lilli zu, der der Gedanke überhaupt nicht gefiel, wieder durch die dunklen Gänge schleichen und einen Weg nach draußen suchen zu müssen.
"Wir hätten es wie Hänsel und Gretel im Märchen machen und irgendeine Spur legen sollen", brummte Marleen ärgerlich, weil ihr der Gedanke erst jetzt kam, wo es zu spät war. "Na komm, da geht's lang", zeigte sie auf den Weg, von dem aus sie in diese Halle getreten waren.
Ein lang gezogenes Wimmern brachte die beiden Mädchen dazu, abrupt stehen zu bleiben und sich ängstliche Blicke zuzuwerfen.
"Hast du das auch gehört", flüsterte Marleen, während sie sich furchtsam in der Halle umsah, aber niemanden entdecken konnte.
"Ja, habe ich", flüsterte Lilli zurück und schlang die Arme um ihren Körper, weil sie unkontrolliert zu zittern begann.
"Leiden wir beide bereits an Halluzinationen? Jetzt ist alles ruhig und wir sollten schleunigst von hier verschwinden", riet Marleen, machte einen Schritt und blieb erneut wie angewurzelt stehen, als das Wimmern durch die Halle zog und ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ.
"Es reicht! Ich kann nicht mehr", schrie Lilli verzweifelt. "Ich habe das Gefühl, gleich wahnsinnig zu werden!"
"Und wenn es etwas zu bedeuten hat?"
"Was hat etwas zu bedeuten", fuhr Lilli zu ihrer Schwester herum.
"Na ja, vielleicht müssen wir hier etwas erledigen und die Person weint, weil wir gehen wollen, ohne nach etwas gesucht zu haben", schlug Marleen unsicher vor.
"Das ist Blödsinn", sagte Lilli. "Es gibt keine Geister und niemand jammert hier herum. Wir sind beide völlig am Ende und hören Dinge, die es nicht gibt." Allerdings war sich Lilli da selbst nicht so sicher und sie bemühte sich erfolglos, an ihre eigenen Worte zu glauben.
Mutig machte Marleen einen weiteren Schritt in Richtung Ausgang, und sie hatte ihn kaum getan, als das Weinen erneut erklang und den ganzen Raum zu füllen schien.
"Hast du es jetzt begriffen", fragte sie ihre Schwester. "Immer, wenn wir den Raum hier verlassen wollen, fängt das Weinen an, und das bedeutet meiner Meinung nach, dass wir hier etwas zu erledigen haben."
"Okay, nehmen wir mal an, dass du Recht hast, wo fangen wir an? Wonach sollen wir suchen", fragte Lilli.
"Das weiß ich nicht", gab Marleen zerknirscht zu, aber sie war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen, und wenn es nur dazu diente, dass sie nachts endlich wieder schlafen konnte.
Ohne weitere Worte zu verlieren wandte sie sich dem Raum zu der ihr am nächsten war und trat ein, um nach einem Gegenstand, einem Brief oder sonstiges zu suchen, das ihr half, dem blassen Mädchen in ihren Träumen ihren Frieden zurückzugeben.
"Das ist eklig", murrte Lilli, während sie Spinnweben zur Seite schob, um an Türen und Schubladen zu kommen, die sie nacheinander öffnete und mit spitzen Fingern nach etwas suchte, von dem sie nicht einmal wusste, was es war. Unter ihren und den Fingern ihrer Schwester zerbröselte Papier, zerfielen Kleidungsstücke und beide fingen an zu zweifeln, jemals etwas brauchbares zu finden. Je länger sie suchten, desto unwahrscheinlicher wurde es, einen brauchbaren Hinweis zu finden und beide Mädchen spürten, dass sie unwilliger wurden. Knurrend meldeten sich zudem ihre Mägen und machten ihnen klar, dass sie seit Stunden nichts gegessen und getrunken hatten und sie beschlossen, für eine Weile aufzuhören und den restlichen Proviant zu sich zu nehmen.
"Wenn wir die eine Fackel nicht hätten, säßen wir bereits im dunkeln", bemerkte Lilli, die sich ungern dem Wunsch ihrer Schwester gefügt hatte, die zweite Taschenlampe im Rucksack zu lassen, um auf dem Rückweg über Licht zu verfügen.
Schweigend und jede in düstere Gedanken vertieft saßen sie auf dem kalten Steinfußboden, kauten bedächtig und tranken ein wenig von dem Wasser, das Lilli in ihrem Rucksack aufbewahrt hatte.
"Und wenn das, was wir suchen, bei dem anderen Skelett ist", wagte Lilli zu fragen, während sie die Flasche Wasser wieder verschloss und einpackte.
"Das glaube ich nicht, weil das Weinen dann nicht hier aufgetreten wäre", widerlegte Marleen das Argument ihrer Schwester, die kurz ihre Zustimmung nickte und sich erhob.
"Lass uns weitersuchen", forderte sie und strebte dem zweiten Schlafzimmer zu ohne große Hoffnung, dort etwas z u finden, das ihnen weiterhalf.
Erfolglos durchsuchten sie jeden einzelnen Raum, bis Marleen plötzlich in dem letzten Raum stehen blieb und ihre Schwester antippte.
"Weißt du, wo wir überhaupt nicht gesucht haben", fragte sie. "Wir waren zwar in dem Bad, in dem wir das Skelett gefunden haben, aber wir haben beim Skelett selbst nicht gesucht."
"Igitt", entfuhr es Lilli, während sie bei dem Gedanken fröstelnd ihre Arme rieb. "Du willst das doch nicht etwa anfassen?"
"Wir haben alles durchsucht, Lilli. Sag mir, wo noch etwas sein könnte, wenn nicht bei der Leiche selbst? Glaubst du, mir gefällt der Gedanke, sie anfassen zu müssen? Aber ich sehe keine andere Wahl, als dort zu suchen", erklärte Marleen, der ebenfalls schauderte, in die Nähe des Skeletts und sie womöglich umdrehen zu müssen. Forschen Schrittes und ohne sich um ihre Schwester zu kümmern, hastete sie auf das Badezimmer zu, atmete tief ein und beugte sich hinunter zu der toten Person, deren Schädel sie hämisch angrinsen zu schien. Zuerst betrachtete sie das Messer eingehend und studierte die Ornamente darauf, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Gern hätte sie darauf Initialen zu erkennen gehofft, die ihr bei der Suche weiterhelfen konnten, aber es befanden sich nur Verzierungen auf dem Griff, die aus Schnörkeleien und verschiedenen Edelsteinen bestanden. Vorsichtig zog Marleen an den Stoffresten, bis sie unter ihren Händen zerfielen, fand jedoch nicht den kleinsten Hinweis, der zur Aufklärung dieses mysteriösen Falls geführt hätte.
"Ich hab etwas gefunden", hörte Marleen ihre Schwester jubelnd rufen und erhob sich erleichtert, weil sie sich nicht länger mit dem Skelett beschäftigen musste.
Im Schlafzimmer hatte Lilli noch einmal den Schminktisch untersucht und schließlich ein Geheimfach gefunden, in dem eine kleine hölzerne Schachtel stand, die sie nun triumphierend ihrer Schwester entgegen hielt.
"Los, nun mach schon auf", drängte Marleen, während sie Lilli entgegen eilte und neugierig die Schachtel betrachtete.
"Nein, mach du auf", hielt Lilli ihr das Kästchen hin. "Du hast diese Träume und du solltest nachschauen."
Zögernd griff Marleen danach, strich sachte über das Holz und klappte den Deckel auf. Eingewickelt in einem Ledertuch und mehrere Male mit einem Knoten zugeschnürt holte Marleen einen rechteckigen Gegenstand heraus und löste mit zitternden Fingern die Knoten, ehe sie vorsichtig das Leder entfernte und schließlich ein kleines Büchlein in den Händen hielt.
"Dort steht sicher die Antwort auf alle unsere Fragen", hoffte Marleen, klappte den Deckel auf des Buches auf und warf ihrer Schwester einen entsetzten Blick zu.
"Was ist denn", erkundigte sich Lilli nervös, weil sie befürchtete, dass nichts dort stand.
"Ich kann das nicht lesen", sagte Marleen und spürte, wie ihr Tränen der Enttäuschung in die Augen traten.
"Blättere weiter", riet Lilli ihr und schaute gespannt zu, wie Marleen ihrem Rat folgte und schließlich ein Lächeln über ihr Gesicht glitt.
"Danke, Schwesterlein, du hattest Recht. Ich vermute, auf der ersten Seite steht irgendein religiöser Spruch in lateinisch. Schau, dies hier ist zwar sehr verschnörkelt geschrieben, aber mit etwas Geduld werden wir es entziffern können."
"Ja, wenn wir hier jemals wieder herauskommen", bemerkte Lilli sarkastisch, während sie sich fragte, ob die weinende Person ihnen jetzt gestattete, einen Ausweg aus dem Labyrinth zu finden.
"Natürlich kommen wir hier heraus", wies Marleen ihre jüngere Schwester zurecht, während sie das Büchlein in ihren Händen drehte und hoffte, dass ihre Zuversicht belohnt wurde und sie hier unten nicht verhungerten und verdursteten. Was sollten sie nun als nächstes tun? War es sinnvoll, zuerst die Schrift zu entziffern, weil sie ihnen möglicherweise einen Ausgang offenbarten? Oder war es besser, zuerst einen Weg nach oben zu finden und sich erst dann mit dem Buch zu beschäftigen? Grübelnd zog sich ihre Stirn in Falten, während sie versuchte, eine vernünftige Reihenfolge ihrer Überlegungen zu finden, als ihre Schwester sie auf einmal mit vor Schreck geweiteten Augen ansah.
"Da..., da..., hast du..., hast du das gesehen", stammelte sie, während ihr Gesicht weiß wurde wie eine frisch gestrichene Wand und sie ihren Finger in Richtung der Tür zeigte, hinter der das Schlafzimmer lag.
"Was ist denn da", verlangte Marleen zu wissen, wandte sich um und starrte angestrengt zu der Stelle hinüber, auf die ihre Schwester deutete. "Ich sehe nichts."
"Du wirst mich sicher für übergeschnappt halten, aber ich habe ein Gespenst gesehen", sagte Lilli, deren Lippen vor Schreck bebten und die aussah, als ob sie jeden Moment in Ohnmacht fallen wollte.
"Mich überrascht überhaupt nichts mehr", gab Marleen ruhiger zur Antwort, als ihr in Wirklichkeit war. "Hat das Wesen versucht, dich auf etwas hinzuweisen?"
"Nein..., es hat..., nun, es hat einfach dort drüben gestanden und ist dann im Zimmer verschwunden", erklärte Lilli, die immer noch schreckensbleich war und sich schließlich auf den Fußboden setzte, weil sie das Gefühl hatte, jeden Moment umzufallen.
"Möglicherweise war das ein Hinweis", sinnierte Marleen, warf einen Blick zu ihrer Schwester und dann zurück zur Tür, hinter der die Gestalt verschwunden sein sollte. "Wie sah es aus?"
"Was meinst du?"
"Ich meine das Gespenst. Wie sah es aus? War es männlich oder weiblich?"
"Ich glaube, es war eine Frau. Zumindest hatte es sehr lange blonde Haare", antwortete Lilli, die nicht wusste, worauf Marleen hinaus wollte. "Warum fragst du? Spielt das überhaupt eine Rolle?"
"Sicher spielt das eine Rolle. In meinen Träumen erscheint stets eine Frau, und bei der weinenden Person handelte es sich meiner Meinung nach ebenfalls um eine Frau. Ich glaube, die Erscheinung will uns helfen, hier herauszukommen und als Gegenleistung sollen wir publik machen, was hier unten geschehen ist. Und dabei hilft uns sicherlich dieses Buch hier", erklärte Marleen, hielt das Büchlein Lilli vor die Nase und beschloss, auf der Stelle nachzuschauen, warum die Gestalt hinter der Tür zum Schlafzimmer verschwunden war.
"Ich gehe deswegen trotzdem nicht mit", sträubte sich Lilli und schlang ihre Arme um die angezogenen Beine.
"Du warst vorhin so mutig und jetzt benimmst du dich wieder wie ein kleines Kind", schimpfte Marleen. "Ich gehe jetzt los, weil ich herausfinden möchte, ob dort hinter der Tür der Weg nach draußen ist." Mit diesen Worten drehte sie sich um und marschierte zielstrebig auf die Tür zu und trat ein. Aufmerksam sah sie sich im Zimmer um, konnte jedoch keinen Hinweis finden.
"Dort drüben, siehst du es", fragte Lilli unerwartet, während Marleen scharf die Luft einsog und ihrer Schwester am liebsten eine Ohrfeige verabreicht hätte, weil sie plötzlich hinter ihr stand und sie beinahe zu Tode erschreckt hatte.
"Was meinst du", fragte sie beherrschter, als sie in Wirklichkeit war.
"Der Schrank steht anders", sagte Lilli, wagte jedoch nicht, einen Schritt auf ihn zuzumachen, sondern blieb dicht hinter ihrer Schwester stehen.
Mutig ging Marleen auf den Schrank zu, der ein Stück von der Wand nach vorn gerückt worden war und dahinter einen weiteren engen und dunklen Gang aufwies.
Misstrauisch trat Lilli neben sie und spähte in den Gang hinein.
"Komm, lass uns gehen", sagte Marleen und setzte bereits einen Fuß hinein, als Lilli sie am Ärmel festhielt.
"Was machen wir, wenn hinter uns der Schrank an seinen Platz zurück gestellt wird und wir nicht mehr hinauskommen", fragte sie.
"Tu mir bitte einen Gefallen und male nicht ständig den Teufel an die Wand", bat Marleen, der dieser Gedanke selbst gekommen war.
Mit einem unguten Gefühl ging sie voran, von Lilli dicht gefolgt. In dem Gang war es so dunkel, dass die beiden Mädchen nicht die Hände vor Augen sehen konnten, und Lilli holte rasch ihre Taschenlampe hervor und knipste sie an. Kreischend fuhren sie zusammen und duckten sich eng auf den Boden, als ein Schwarm Fledermäuse auf sie zuflog, die durch das Licht irritiert waren und zu Hunderten aus dem Gang hinein in das Schlafzimmer flogen, ohne eine Ausgang finden zu können.
Verängstigt blieben Marleen und Lilli einen Augenblick aneinander gekauert in der Hocke, ehe sie aufzustehen wagten und das Licht der Taschenlampe an den Wänden entlang wandern ließen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass alle Fledermäuse hinausgeflogen waren, setzten sie ihren Weg fort. Auf dem Weg konnten sie nur hintereinander gehen und wagten wegen der Enge kaum zu atmen. Vor ihnen schwebte plötzlich der weibliche Geist, aber weder Lilli noch Marleen waren überrascht darüber und folgten der Erscheinung, bis sie erneut in einem kleineren Raum ankamen, der bis auf eine alte Holztruhe völlig leer war. Ratlos blickten sich die beiden an, ehe Marleen sich in diesem kalten Gemach umschaute, jedoch keinen weiteren Ausgang fand. Um ihrer Schwester keine unnötige Angst einzujagen, verschwieg sie ihr diesen Umstand und ihre eigene Furcht, dass der Schrank inzwischen den Eingang verschloss.
„Dann schauen wir mal nach, was in dieser Truhe ist“, sagte die ältere Schwester, schritt darauf zu um gleich darauf festzustellen, dass sie mit einem Schloss gesichert war. „So ein Mist“, warf sie ärgerlich die Hände in die Luft und sah sich hilflos zu Lilli um.
„Du hast gesagt, dass uns der Geist helfen wird, hier wieder herauszukommen. Also muss der Schlüssel hier irgendwo sein, sonst wären wir nicht in diesem Zimmer gelandet“, gab Lilli ihrer Meinung Ausdruck, während sie begann, sich gründlich in dem Raum umzublicken, ohne jedoch Erfolg zu haben.
„Hast du etwas in deinem Rucksack, womit wir das Schloss vielleicht knacken könnten“, fragte Marleen hoffnungsvoll.
„Nein, nichts“, antwortete Lilli, nachdem sie ihren Rucksack geöffnet und einen prüfenden Blick hineingeworfen hatte. „Und was machen wir jetzt? Zurückgehen?“
„Was haben wir sonst für eine Wahl“, stimmte Marleen zu, obwohl es ihr nicht recht war und sie das Gefühl hatte, dass sie das Rätsel nie lösen konnten, wenn sie jetzt hinausgingen. Zögernd wandte sie sich wieder dem Gang zu, blieb jedoch abrupt stehen, als das klägliche Jammern erneut begann, um ihnen offensichtlich klar zu machen, dass sie hier erst etwas zu erledigen hatten.
„Hilf uns“, flehte Marleen das weinende Gespenst an. „Wir wissen nicht, wie wir die Truhe öffnen sollen.“ Wie auf Knopfdruck endete das Weinen und Marleen ließ erschrocken das Buch aus ihren Händen fallen, weil es unerwartet zu glühen begann und ihre Finger heiß werden ließ. „Verdammt, was soll das“, schimpfte sie, ehe es ihr langsam zu dämmern begann. Hastig bückte sie sich nach dem nicht mehr glimmenden Buch und begann, hektisch die Seiten umzublättern, bis sie einen kleinen Schüssel fand, der auf dem Papier festgeklebt war. Wortlos löste sie den Schlüssel, trat an die Truhe heran und steckte ihn in das Schloss, das sich problemlos damit öffnen ließ.
„Nun mach schon auf“, drängte Lilli, stellte sich neben ihre Schwester und starrte erwartungsvoll auf den Deckel der hölzernen Truhe.
Mit gemischten Gefühlen strecke Marleen die Hand aus, um den Deckel anzuheben, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, weil sie plötzlich Angst davor verspürte, was ihnen diesmal offenbart wurde. Energisch gab sie sich einen Ruck, hob den Deckel an und ließ ihn nach hinten fallen. Erleichtert stieß sie einen kleinen Seufzer aus, nachdem sie hineingesehen und festgestellt hatte, dass außer Puppenkleidung nichts in der Truhe war. Warum waren sie in diesen Raum und zu der Holztruhe geführt worden, wenn sie nichts weiter als Kleidung enthielt? Kopfschüttelnd wollte Marleen den Deckel wieder zufallen lassen, als ihr auf einmal dämmerte, dass es keine Puppen- sondern Babykleidung war.
„Um Himmels willen“, stieß sie entsetzt aus als ihr klar wurde, was das zu bedeuten hatte.
„Was ist denn“, fragte Lilli, die einen Babystrampler herausnahm und gründlich betrachtete, als ob sie so etwas noch nie zuvor gesehen hätte.
„Ja, verstehst du denn nicht“, brauste Marleen ungeduldig auf. „Unser Gespenst hat uns gerade darauf hingewiesen, dass nicht nur erwachsene Menschen hier unten gestorben sind, sondern auch ein Baby. Wir müssen das Skelett eines Babys finden und dafür sorgen, dass es anständig begraben wird. Wenn wir darüber hinaus das Buch gelesen und öffentlich machen, was sich hier unten im Kellergewölbe abgespielt hat, dann wird die Seele des Geistes endlich Ruhe finden.“
Wie, um ihren Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen, erschien die Lichtgestalt und zeigte sich zum ersten Mal ein wenig länger. Fasziniert schauten die Schwestern die junge Frau mit den langen blonden Haaren und dem feingeschnittenen Gesicht an, ehe sie sich umwandte und den Gang entlang eilte, den sie zuvor gekommen waren. Ohne sich länger mit der Truhe zu beschäftigen liefen Marleen und Lilli ihr nach und stellten erleichtert fest, dass der Schrank ihnen den Weg nicht versperrt hatte und sie ungehindert in den Raum treten konnten.
„Kannst du uns zeigen, wo das Baby ist“, wandte Marleen sich an das weibliche Wesen, das am anderen Ende des Raumes zu warten schien, einen lang gezogenen Seufzer von sich gab und sich schließlich vor ihnen in Luft auflöste.
„Das heißt wohl soviel wie nein“, bemerkte Lilli trocken und warf ihrer Schwester einen Blick zu der deutlich fragte, was sie nun tun sollten.
Ratlos hob Marleen ihre Schultern an und ließ sie wieder sinken, weil sie absolut keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. War es sinnvoll, alle Räume noch einmal zu betreten? Allein bei dem Gedanken schauderte es sie, weil es dort nichts gab, das sie gerne berührt hätte.
„Ich glaube nicht, dass das Kind hier irgendwo liegt“, sagte Lilli zweifelnd. „Das wäre zu einfach.“
„Da magst du Recht haben. Aber genau genommen habe ich langsam keine Lust mehr, noch länger in diesem Gewölbe herumzulaufen und nicht zu wissen, wohin mich die vielen Wege führen“, antwortete die ältere Schwester grimmig, während sie sich unschlüssig mit der Hand durch ihre Haare fuhr. Aber hatten sie eine andere Wahl, als sich erneut durch dunkle Gänge zu quälen, um einen Ausweg aus diesem Labyrinth zu finden? Allerdings mussten sie zuerst dieses Kleinkind finden, denn eher zeigte ihnen der Geist sicher nicht den Weg nach draußen.
Abermals betraten sie den großen Raum, von dem sämtliche Türen abgingen und überlegten, was zu tun sei. Nirgends gab es einen neuen Weg und die jungen Frauen befürchteten, dass sie den Weg zurückgehen mussten, der sie hierher geführt hatte.
Plötzlich öffnete sich wie von Geisterhand die Tür, die in das Schlafzimmer führte, und Marleen und ihre Schwester schauten sich kurz an, ehe sie dem Wink folgten und das Zimmer betraten. Vor ihnen lag eine schmale Öffnung, die sie bisher nicht gesehen hatten, weil davor ein verstaubtes Bücherregal gestanden hatte, das nun um einen halben Meter verschoben war.
Inzwischen waren sie nicht mehr zögerlich, sondern traten sogleich auf den Zugang zu, um gleich darauf in einem schmalen und niedrigen Gang zu stehen, dem sie bis zum Ende folgten.
Abermals standen sie in einem runden Raum, von dem aus die Schwestern diesmal zwischen drei weiteren Gängen wählen konnten, weil die anderen zugemauert waren. Ohne zu überlegen strebte Marleen dem mittleren Gang zu, aber vor ihr erschien der weibliche Geist und versperrte ihr den Weg. Wie in Zeitlupe streckte die Erscheinung ihre Hand aus uns deutete nach rechts, während Lilli und ihre Schwester keine Sekunde zögerten, um diesen Rat anzunehmen und den dunklen feuchten Gang zu betreten. Überrascht bemerkten sie, dass dieser Weg durch seine niedrige Decke und die Enge zwar bedrückend wirkte, jedoch stetig nach oben führte, bis sie vor einer hölzernen Tür ankamen, die durch die vielen Jahre und die Feuchtigkeit inzwischen morsch geworden war. In dem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel, den Marleen nur mit Mühe herumdrehen konnte, ehe sie versuchte, die Tür zu öffnen. Knirschend gab sie endlich nach und die Schwestern schauten sich sprachlos an, als sie vor sich die Bibliothek sahen, ehe sie einen triumphalen Schrei der Freude ausstießen. Lachend und weinend zugleich traten sie in das Zimmer und drehten sich zur Tür um, als diese sich zu langsam zu schließen begann. In dem Gang stand das Gespenst und schaute zu ihnen hinüber, während ihm zwei Tränen über die durchsichtigen Wangen tropften.
„Wir werden dein Baby finden“, versprach Marleen, ehe sich die Tür vollständig geschlossen hatte und nur noch ein weiteres Regal mit Büchern war.
„Willst du etwa noch einmal dort hinunter“, fragte Lilli entsetzt.
„Nein, das wird nicht nötig sein“, beruhigte Marleen sie. „Sie hätte uns nie zurückgeführt, wenn ihr Baby dort unten wäre. Es ist irgendwo hier oben.“
„Was für ein schrecklicher Gedanke“, entfuhr es Lilli, die sich sogleich ängstlich in der Bibliothek umsah, als ob das Kind aus einem Bücherregal direkt vor ihre Füße fallen könnte.
„Ich habe ständig diese Träume, deshalb glaube ich, dass das Baby in meinem Zimmer sein muss“, sinnierte Marleen, machte auf dem Absatz kehrt und hastete in ihr Zimmer.
„Warte auf mich“, rief ihre Schwester, während sie ihr rasch zu folgen versuchte.
Systematisch durchforsteten sie den riesigen Raum, schoben Möbel hin und her, schauten in Schränke und Schubladen, obwohl ihnen klar war, dass dort kein Baby sein konnte.
„Was macht ihr denn da“, fragte ihre Mutter, die unerwartet in der Tür stand und dem Treiben fassungslos zusah.
„Das erklären wir die später“, versprach Lilli.
„Wo würdest du etwas verstecken, das niemand finden soll“, wandte sich Marleen an die Mutter, ohne mit dem Suchen aufzuhören.
„Das kommt darauf an, was ich verstecken will“, antwortete die Mutter, zog ihre Stirn kraus und fragte sich, wo ihre Mädchen gewesen sein konnten, weil sie dreckig waren und erschöpft wirkten.
„Schieben wir mal das Bett zur Seite“, wies Marleen ihre Schwester an, ohne ihrer Mutter einen Hinweis darauf zu geben, was genau sie suchten. Gemeinsam rückten sie das Messingbett einen halben Meter zur Seite und konnten nun den Teppich anheben, auf dem das Bett mit den beiden vorderen Füßen gestanden hatte. „Volltreffer“, rief sie aus, als eine hölzerne Klappe zum Vorschein kam.
„Wir brauchen etwas mit Hebelwirkung“, sagte Lilli, während sie in dem Zimmer nach etwas brauchbarem Ausschau hielt.
„Ich möchte jetzt erst einmal wissen, was das zu bedeuten hat“, mischte sich die Mutter energisch ein und fing das Buch ungeschickt auf, das ihre älteste Tochter ihr unerwartet zuwarf.
„Wenn du uns helfen möchtest, dann lies das bitte und alles andere erklären wir, wenn wir gefunden haben, was wir suchen“, bat Marleen, während sie bereits aus dem Zimmer rauschte, um in der Werkzeugkiste nach einem geeigneten Werkzeug zu suchen.
Ungeduldig wartete Lilli und trat von einem Fuß auf den anderen, bis ihre Schwester zurück war und sie gemeinsam die Klappe aufstemmten, die ihnen einen Blick in eine kleine Grube erlaubte, in der eine kleine Kiste stand.

Es bedurfte keiner Worte zwischen den Schwestern, denn sie wussten beide, was sich in dieser unscheinbaren Kiste befand. Gemeinsam hoben sie sie heraus und stellten sie vorsichtig ab.
„Wie lange mag sie sich schon hier befinden“, fragte Lilli kopfschüttelnd und strich sanft mit einem Finger über die Oberfläche.
„Viel zu lange“, murmelte Marleen, schaute sich den Verschluss an und schlug kurz mit einem Hammer darauf. Mit einem Ruck sprang das Schloss auf und sie holte tief Luft, ehe sie den Deckel anhob. Beide Mädchen beugten sich über die Truhe, in der ein in halb zerfallener Seide eingewickelter Körper lag. Vorsichtig schob Marleen mit zwei Fingern den Stoff zur Seite, es überraschte und erschreckte sie jedoch nicht mehr, ein weiteres Skelett zu erblicken, das von einem Baby war.
„Wir haben dein Baby gefunden“, sagte Lilli und erwartete fast, das blonde Gespenst zu erblicken, das sich dankbar über ihr Kind beugte. „Was machen wir jetzt damit?“
„Wir erzählen alles Mama und Papa und dann denke ich, müssen wir wohl die Polizei rufen. Mit Hilfe des Buches wird sich bestimmt der Tathergang aufklären oder zumindest die Umstände, die zu diesen Morden geführt haben.“
„Du glaubst, das Baby wurde umgebracht?“ fragte Lilli erschrocken und warf einen neugierigen Blick in die Kiste.
„Ich glaube sogar, dass alle Menschen dort unten ermordet wurden“, stellte Marleen klar, „nur sind mir die Gründe dafür noch schleierhaft.“ Sanft schloss sie den Deckel der Kiste und machte sich auf den Weg zu ihrer Mutter, die am Esszimmertisch saß und offensichtlich vollkommen vertieft in das kleine Büchlein war. Sie sah nicht einmal auf, als ihre Töchter nacheinander den Raum betraten und sich nebeneinander setzen.
„Woher habt ihr dieses Buch?“ fragte ihre Mutter nach einer Weile und sah Lilli und Marleen prüfend an.
Zuerst begann Marleen, ihrer Mutter von den nächtlichen Träumen zu berichten, dann folgte die Beschreibung der Suche nach Hinweisen über das Schloss und seine Bewohner und schließlich die zufällige Entdeckung der Geheimtür. Ihr Bericht wurde immer emotionaler, als sie von ihrer und Lillis Verzweiflung redete und von ihren weiteren Entdeckungen tief unter dem Schloss bis hinauf zu ihrem Zimmer, in dem sie die Leiche des Babys gefunden hatten.
Zweifelnd verfolgte ihre Mutter den Bericht und schien nicht so recht daran zu glauben, obwohl Lilli stets bekräftigend mit dem Kopf nickte oder ein „stimmt“ murmelte.
„Komm mit“, forderte Marleen sie auf und ging voran in ihr Zimmer, in dem weiterhin die Kiste neben dem weggeschobenen Bett und der kleinen Grube stand.
Während die beiden Schwestern sich wissend ansahen, stieß ihre Mutter einen überraschten leisen Schrei aus, als sie eine wie aus Porzellan bestehende junge Frau mit langen blonden Haaren sah, die neben der Kiste hockte und mit heller Stimme ein Wiegenlied summte, während ihre Finger ständig über die Knochen strichen. Nachdem sie ihr Lied beendet hatte richtete sie sich auf und schaute Marleen mit einem flehenden Blick durchdringend an.
„Ich verspreche dir, dass dein Baby ein anständiges Grab bekommen wird, wie auch du und die dritte Person, die dort unten liegt“, sagte Marleen ernst.
Dankbar huschte ein zartes Lächeln über das wächserne Gesicht der jungen Frau, dann beugte sie sich noch einmal hinab, küsste ihr Baby und löste sich wie zuvor in Luft auf.
„Es gibt keine Gespenster“, behauptete die Mutter der beiden Mädchen, obwohl sie gerade eines Besseren belehrt wurde und mit eigenen Augen verfolgt hatte, wie sich das Gespenst vor ihren Augen aufgelöst hatte und verschwunden war.
„Müssen wir jetzt die Polizei rufen?“ wollte Lilli wissen. „Die werden die Skelette doch bestimmt alle mitnehmen und untersuchen, um herauszufinden, wie alt sie sind und ob es sich um weibliche oder männliche Tote handelt.“
„Zuerst lese ich das Buch noch zu Ende und dann spreche ich mit eurem Vater“, beschloss die Mutter, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück ins Esszimmer. Völlig durcheinander ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und begann, an ihrem Verstand zu zweifeln. Hatte sie wirklich ein Gespenst gesehen? Diese Truhe konnte sie nicht leugnen, sie stand mitten im Zimmer ihrer Tochter und stand dort noch, nachdem diese junge Frau sich in Nichts aufgelöst hatte. Sie war eine praktisch denkende Frau und stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. An solche Phänomene hatte sie bisher nicht geglaubt und sie für Phantasiegebilde von Menschen gehalten. Sie griff erneut nach dem Büchlein und begann, die letzten Seiten zu lesen, die ihr eine Geschichte offenbarten, die in einen Film gehörten, aber nicht in die Realität.

Spät am Abend, nachdem Marleen und Lilli die Geschichte ihrem Vater gegenüber wiederholt und ihre Mutter sie durch ihre eigene Erfahrung mit dem Gespenst und durch die Hinweise in dem Buch bestätigt hatte, wimmelte das Schloss von Polizei und der Spurensicherung. Lange hatte die Familie überlegt, ob sie die Wahrheit offenbaren und das Gespenst erwähnen sollte. Schließlich waren sie sich jedoch einig, dass sie besser damit fuhren, diesen Teil für sich zu behalten und die Entdeckung der Skelette der Neugier der Mädchen zuzuschreiben, die das Kellergewölbe durch Zufall entdeckt und erforscht hatten.
Noch Tage danach wurde das ganze Schloss nebst sämtlichen Nebengebäuden auf den Kopf gestellt, jedoch keine weiteren Skelette mehr gefunden. Nachdem die Ermittlungen abgeschlossen waren, setzte sich die Familie um den großen Esstisch herum. Bis zu diesem Moment war kein Wort mehr über das Buch gefallen, nun wollten die beiden Mädchen endlich wissen, was dort niedergeschrieben war und wie und warum es zu diesen Morden gekommen war.
„Die junge blonde Frau hieß Rowena“, begann die Mutter zu erzählen und strich vorsichtig über das Büchlein, das vor ihr auf dem Tisch lag. „Sie war 15 Jahre alt, als sie den Schlossherrn heiraten musste, der bereits über 30 Jahre alt war und sie in diesem Gemäuer einsperrte und nicht zuließ, dass sie viel Kontakt mit anderen Menschen hatte. Er wollte sie besitzen und so behandelte er sie auch. Von Grund auf ein bösartiger Mann, behandelte er nicht nur seine junge Frau wie seinen Besitz, sondern sämtliche Angestellten. Er führte ein strenges Regiment, benutzte seine Folterkammer ohne Skrupel und sperrte bei größeren Vergehen Knechte und Mägde über Wochen in seinem Kellergewölbe ein. Es kam jedoch, wie es kommen musste“, fuhr die Mutter leise fort und berichtete, dass ein junger Mann eingestellt wurde, der sich um das Gestüt des Herrn kümmern sollte. Es war Liebe auf den ersten Blick zwischen Rowena und Cedric. Um Zärtlichkeiten austauschen zu können, blieben ihnen nur wenige Möglichkeiten und es gab nur stille und heimliche Treffen zwischen ihnen, in der sie sich ihrer ewigen Liebe versicherten. Eines Tages wurde ihr Liebesgeflüster belauscht und eine Magd, die für ihre Neugier bekannt war und dafür, jedermann anzuschwärzen, um sich lieb Kind bei dem Schlossherrn zu machen, berichtete diesem von ihrer Entdeckung. Vor Zorn schäumend sperrte er nun seine junge Frau in das Kellergewölbe, ließ ihre Möbel hinunterbringen und wollte sie dort ihr Leben fristen lassen. Ihren Geliebten Cedric folterte er und verbannte ihn von seinem Anwesen mit dem Hinweis, dass er ihn töten wolle, wenn er es jemals wagte, zurückzukehren.
Ein junges Dienstmädchen versorgte Rowena mit Lebensmitteln, brachte ihr heißes Wasser zum Baden, kleidete sie an und bürstete ihr Haar. Bereits nach kürzester Zeit verband die beiden Frauen eine tiefe Freundschaft und Rowena beichtete ihr, dass sie von Cedric ein Kind erwartete. Um Cedric davon in Kenntnis zu setzen, schrieb sie einen Brief, steckte ihn der Dienstmagd zu und bat sie, bei der nächstmöglichen Gelegenheit zu versuchen, diese Nachricht Cedric weiterzugeben.
Monate vergingen, bis die Magd endlich die Nachricht an jemanden weitergeben konnte, der Kontakt zu Cedric hatte und versprach, ihm den Brief zu übergeben.
Um seine Geliebte und mir ihr sein Kind zu befreien, wollte Cedric alles tun, was in seiner Macht stand, jedoch nahm er sich nicht die Zeit, um einen ausgeklügelten Plan auszuarbeiten. Ungestüm ritt er in einer stockdunklen Nacht zum Anwesen, drang in das Schloss ein und begab sich in das Kellergewölbe. Er traf seine Angebetete im Bad an, wo sie gerade aus der Wanne gestiegen war und von ihrem Dienstmädchen mit einem Handtuch trockengerieben wurde. In diesem Augenblick betrat der Schlossherr das Gewölbe, um einen Gärtner auspeitschen zu lassen, der vergessen hatte, an einem Rosenstrauch eine Blüte zu entfernen, die welke Blätter hatte. Er ließ den Knecht in der Obhut seines Foltermeisters und begab sich zu den Räumen seiner Frau, die er seit mehr als acht Monaten nicht mehr gesehen hatte. Einzig seine Neugier trieb ihn in diese Gemächer und ein wenig die Hoffnung, dass Rowena sich ihm zu Füßen warf, ihn um Verzeihung bat und versprach, ihm nun eine ergebene und demütige Ehefrau zu sein. Als er jedoch Cedric erblickte, der zudem noch vor seiner fast entblößten und zudem hochschwangeren Frau stand, zog er vor Wut einen Schrei ausstoßend sein Messer aus dem Gürtel, stürzte sich auf den Kontrahenten und ermordete ihn vor den Augen Rowenas und ihrer Zofe. Dieser Vorfall löste bei Rowena vorzeitige Wehen aus und sie brachte unter großen Schmerzen und nur mithilfe ihrer Zofe und in Gegenwart ihres Ehemannes einen Jungen zur Welt. In seinem grenzenlosen Zorn riss der Schlossherr das Neugeborene an sich, bevor es seinen ersten Schrei tun konnte, und erwürgte es, ehe er seine Frau vom Bett zerrte und sie in die Folterkammer schleppte. Dort kettete er sie an und überließ sie ihrem Schicksal, ohne sich noch einmal nach ihr umzuwenden. Rowena verblutete dort und verstarb nur wenige Stunden nach dem gewaltsamen Tod ihres Geliebten und ihres Kindes. Es war das Dienstmädchen, das dieses Büchlein schrieb und die Ereignisse somit festgehalten hatte.

Erschüttert über soviel Leid und vor allem Brutalität, schauten sich Marleen und Lilli an. Ihr Ausflug in das Kellergewölbe hatte den Zweck gehabt, ein Abenteuer zu erleben, jedoch waren stattdessen Dinge ans Licht geraten, die durch ihre Neugier niemals sonst zum Vorschein gekommen wären. Obwohl ihnen einiges dort unten unheimlich vorgekommen war und ihnen angst gemacht hatte, waren sich beide Mädchen darin einig, richtig gehandelt zu haben. Allein durch ihre Abenteuerlust hatten sie dafür gesorgt, dass Rowena und Cedric sowie ihr gemeinsames Kind ein Grab bekamen und sie somit nicht länger zu den Vergessenen gehörten.

ENDE
 
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Kommentare  

Ich kann mich nicht mehr erinnern, bis wohin die Geschichte ursprünglich ging, bevor sie abrupt endete.
Jetzt steht sie als Ganzes da. Hat ganz schön lange gedauert. ;)
Du hälst einen schönen Spannungsbogen und das Geheimnis kommt nur langsam in kleinen Häppchen zum Vorschein.
Eine schöne Abenteuergeschichte, bloß das Dämonenzimmer habe ich nicht so ganz kapiert. Das scheint irgendwie nicht so recht dazu zu gehören.

Den kleinen Roman könntest du den Spielekonsolen-Herstellern anbieten. Da könnte man ein prima Spielchen draus aufbauen in dem Labyrinth.


Stefan Steinmetz (29.12.2005)

hallo,jetzt habe ich entlich zeit für deine geschichte gefunden und muß jetzt wielange darauf warten das es weiter geht????????????? mach schon,du kennst doch das üble spiel mit lange warten.....lass mich nicht so lange schmoren.Ps.mach bitte weiter gruß kruemel

Kruemel (17.05.2004)

Oooohhhh, bitte, bitte weiterschreiben! :-)

Die Geschichte ist soooo spannend. Ich kann es kaum erwarten!


Bianca (13.05.2004)

also jetzt wird aber zeit das du dich mal wieder hinsetzt und schreibst,kann doch nicht sein das du mich dumm sterben lassen willst.

lieber gruß tassi


tassi (15.03.2004)

Hallo Große!
Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Werde in Zukunft von Zeit zu Zeit nachschauen, ob Du schon mit der Geschichte weiter bist.


Ralph Meyer (29.01.2004)

da kann ich mich nur stefan anschließen... schreib weiter - es lohnt sich

Sieglinde Breitschwerdt (08.05.2003)

Mein Gott, wann willst du mal weiter schreiben ?
Mach das doch mal [hast doch sonst nichts zu tun :)]


dein Sohn (08.04.2003)

Danke für Dein Lob, Stefan.
Habe im Moment nicht so viel Zeit, aber ich schreibe bestimmt weiter.


Susanne (20.01.2003)

Mensch Mädel, das fängt SO gut an, warum schreibst du in Gottes Namen nicht weiter?!?

Stefan Steinmetz (12.01.2003)

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