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3 Seiten

Märchen zweier Liebender

Schauriges · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
Es lebte einmal vor langer, langer Zeit in einem dunklen, dunklen Wald eine wunderschöne und sehr kluge junge Frau. Sie war so schön, dass selbst die Morgenröte vor ihr erblasste und sogar die Rehe mit ihrem glänzenden Fellchen sie um ihr langes blondes Haar beneideten.
Ihre Klugheit war weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt, und viele kluge junge Prinzen suchten sie auf, um ihr Rätsel zu stellen und so zu sehen, ob sie sich als würdige Königin eignen würde.

Doch keiner dieser Prinzen war bisher je in sein Königreich zurückgekehrt. Auch die Boten, die ausgesandt wurden, um den Verbleib ihrer Herren zu erforschen, wurden nicht wieder gesehen. Man nahm jedoch an, dass sie in dem dunklen, gefährlichen Wald von wilden Tieren zerfleischt worden waren.

Niemand wäre auf die Idee gekommen, die junge Frau selbst für das Verschwinden der Prinzen verantwortlich zu machen. Viel zu lieblich war ihr Gesicht, zu anmutig ihre Gestalt, als dass man ihr abgrundtief schwarzes Herz hätte erahnen können.

Denn die schöne junge Frau war eine Hexe. Des Nachts schwebte sie durch den Wald, um Kräuter und Wurzeln für ihre geheimnisvollen Mixturen zu sammeln. Sie vermochte allerlei Zaubertränke zu brauen, mit denen sie Macht über die Menschen ausübte, ohne dass diese es überhaupt bemerkten. In ihrem traumhaften Schloss verbargen sich dunkle Kellerräume, in denen sie ihr schauerliches Handwerk betrieb und außerdem durch eine große Zahl fachmännisch hergestellter Kristallkugeln die redlichen Menschen in der Welt beobachtete.

Doch wollen wir für einen Moment den schaurigen Zauberwald verlassen und uns einem anderen Schauplatz zuwenden: der Burg des jungen Edelmannes Wulf. Er gehörte zu den wenigen Menschen, über die man wirklich sagen kann, dass sie keinen einzigen Fehler haben.

Leider sind diese Menschen seit der Zeit, in der unsere Geschichte sich ereignet hat, beinahe ausgestorben.
Wulf jedenfalls war gutherzig, in allen wichtigen Künsten wie der Literatur, der Musik und dem Schießsport bewandert und besaß ein angenehmes Äußeres. Seine Untergebenen verehrten ihn, und selbst seine Feinde konnten keinen Tadel an ihm finden außer dem einen vielleicht, dass er in allen wesentlichen Bereichen begabter war als sie selbst.
Eine seiner Untergebenen jedoch empfand noch mehr für ihn als Verehrung. Das Herz der jungen Magd Franziska brannte für ihren Herrn, und sie erbebte jedes Mal, wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt. Doch es war nicht nur lodernde Leidenschaft, die sie bei seinem Anblick erfasste, sondern auch ein tiefes, freudiges Glühen im Innersten ihrer Seele.
Doch obwohl Franziskas Gefühl für Wulf außergewöhnlich war, wäre dies eine unglückliche Liebesgeschichte wie unzählige andere, die sich in jener Zeit ereigneten, hätte Wulf nicht eines Tages begonnen, ihre Liebe zu erwidern. Es war in jenen Tagen nichts Ungewöhnliches für einen Edelmann, sich eine Mätresse aus den Reihen seiner Dienerschaft zu halten, doch lässt uns schon eine oberflächliche Kenntnis von Wulfs reinem Charakter erahnen, dass er auch in dieser Hinsicht über seine Zeitgenossen erhaben war. Er war viel zu edelmütig, um seine Herrschaft auf solche Weise auszunutzen.
Er war jedoch auch sehr bescheiden, und das wurde den jungen Liebenden zum Verhängnis. Obwohl Franziska ihm schmachtende Blicke zuwarf, wann immer sie ihn sah, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass sie mehr für ihn empfand als die übliche dienerhafte Ergebenheit. Und aus Angst vor Zurückweisung (denn zu seinen zahlreichen Qualitäten zählte auch eine ausgeprägte Sensibilität) verzichtete Wulf lange darauf, Franziska seine Liebe zu gestehen.

Dies alles beobachtete die junge Hexe durch ihre Lieblingskristallkugel mit diebischem Vergnügen. Und sobald Wulf doch begann, sich Franziska ernsthaft anzunähern, fasste die Hexe einen Plan, um vollkommen ausschließen zu können, dass die beiden Liebenden zueinander finden könnten. Denn nichts ist für böse Herzen quälender als das Glück derer, die wahrhaft zu lieben vermögen. Obwohl die Hexe die Bewunderung sämtlicher Prinzen der umliegenden Königreiche gewonnen hatte, war ihr steinhartes Herz nie von ihnen berührt worden, so dass sie sie alle jetzt in einem dunklen, feuchten Verlies gefangen hielt, wo sie Ratten und Maden zum Opfer fielen und alle Königlichkeit nur noch wie ein Hohn aus der Vergangenheit anmutete.
Weil die Hexe also den Gedanken an eine erfüllte Liebesbeziehung zwischen Franziska und Wulf nicht ertragen konnte, ritt sie eines Nachts auf ihrem Reisigbesen (denn wenigstens diesem Klischee einer Hexe entsprach auch sie) zur Burg des Edelmannes, gelangte auf magische Weise unerkannt hinein und träufelte zuerst Wulf in seinem Schlafzimmer und dann auch Franziska in ihrem Kämmerlein eine giftige Essenz auf die Lippen, die sie auf der Stelle verstummen ließ.

Und so wurde es fortan unmöglich für Wulf und Franziska, einander ihre Liebe zu gestehen.
So kam es, dass sie beide stumm nebeneinander her lebten und schließlich an ihrem Kummer starben, während die Hexe über ihrer Kristallkugel das wahnsinnige Gelächter jener Psychopathen ausstieß, die sich in den Kopf gesetzt haben, die Welt zu beherrschen und die dieses Ziel letztlich auch erreichen werden.
Denn schließlich hat eine unsterbliche Hexe dafür ja Zeit genug.
 
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Kommentare  

Oh, ist das schön. Gefällt mir sehr.

doska (17.06.2009)

oje, was wird nur aus den happy ends??? sie gehen in märchen immer mehr verloren

werwölfin (28.01.2007)

Hihi,...dieses find´ ich eine wirklich schöne Geschichte. Irgendwie sexy.
Gratulation!


Oliver (08.07.2002)

Huch, ein Märchen mit galligem Beigeschmack. Lädt zum Weiterspekulieren ein...
Und seither wurden die Lippen Vieler mit dem Gift der Hexe beträufelt, so dass sie einander ihre Herzen nicht mehr offenbaren konnten. Und mit gebrochenen Herzen schlichen sie zum nächsten Psychotherapeuten, nicht wissend, dass sich diese Zunft aus der Hexe und ihresgleichen zusammensetzt. Und diese kicherten hämisch und kassierten Horrorhonorare, da sie versprachen, die Menschen von dem zu heilen, was sie selbst verursacht hatten...
Wie gesagt: Gallebitter. Aber wunderschön.
Note Eins, fünf Punkte. Setzen.


Heike Sanda (21.06.2002)

Hey, der letzte Satz ist wirklich gut. So gut sogar, daß er dafür entschädigt, daß meine Seele nicht den wohltuenden Balsam des Happy-ends genießen konnte.

Endlich mal ein Märchen, das der wirlichen Welt angpaßßt ist :-)


paradis_3001 (24.03.2002)

AUA! Das tat weh! Märchen haben IMMER ein Happyend! Du bist böse! Wenn ich groß bin, hau ich dich!

Stefan Steinmetz (07.01.2002)

Joah! Ich nochmal! Deine Schreibweise ist einfach fesselnd!

esmias (20.07.2001)

EINFACH BRILLANT! Supergenial! Deine Geschichten sind echte Reißer!!! Freue mich auf mehr!

esmias (20.07.2001)

Hallo Stefanie, das ist ja echt der Hammer. Ich hatte auf ein Happy-End gehofft, doch diese Tragik ist auch einem hartgesottenen Märchenonkel wie mir zuviel. Gut geschrieben und fein durchdacht. Bravo! Gruß, bignose

bignose (16.06.2001)

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