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16 Seiten

Auch ein Freizeitvergnügen

Romane/Serien · Schauriges
Am 18. November zweitausendzwanzig um sieben Uhr dreißig morgens verlässt Lys ihr Hotel am Morningside Park..
Sie wird sich auch heute überraschen lassen und sehen, wohin der Weg sie führt. Sie marschiert. Läuft und läuft. Zu Fuß. Niemals nimmt sie die U-Bahn.

Drei Monate ihres Lebens sind eingeplant, unbekannte Viertel New Yorks auf diese Art kennenzulernen. Dreißig Tage lang hat Lys die Ausflüge nun schon durchgehalten. Sie zieht also jeden Morgen los und ist den ganzen Tag unterwegs. Sie geht einfach aufs Geradewohl los. Immer vorwärts.

Leider kann sie aber während ihrer Märsche durch das Gewirr von vielen hundert Straßen keine Garnrolle hinter sich herspulen, wie einstmals Ariadne, um sicher ins Hotel heimzukehren. So weiß sie meistens am Abend eines langen Tages, in dem sie zirka ein Dutzend Kilometer zurückgelegt hat, nicht mehr, wo sie ist und kann nur noch mit Hilfe eines kundigen Taxidrivers den Weg zurück finden.

Gegen Mitternacht fällt sie erschöpft auf ihr Bett.

Die täglichen Mahlzeiten nimmt Lys in High-Class Restaurants, Fastfoodschuppen oder auch in düsteren Kaschemmen ein, manchmal unter Reichen, oft inmitten von Lebenskünstlern und Obdachlosen. Sie dokumentiert alles mit ihrer Kamera. Jede Kleinigkeit. Auch das unwichtig Erscheinende. Das ist ihr Job.

Sie darf sich die Esstempel nicht aussuchen ( eine der vorgegebenen Regeln! ) Eine andere Regel - die sie aber selbst aufgestellt hat - lautet: Ich will mit keinem Mann Stunden vertrödeln und sei er noch so interessant, schön oder witzig ... Nein, null Dates. In diesen neunzig Tagen wird GEARBEITET.

Lys ist eine Fanatikerin der Ordnung ... und der Zeiteinteilung. Der Alarm ihrer Armbanduhr ist stets auf ein Uhr mittags und sieben Uhr abends fixiert. Hört sie den leisen Ton, hält sie sofort im Gehen inne, ganz gleich in welcher Gegend New Yorks sie gerade herumläuft. Ihre Augen suchen dann nach dem nächstgelegenen Restaurant. Und in dem MUSS sie essen. Auch wenn es sie vom Äußeren her eher abstößt ... das macht nichts ... denn auch das Unerfreuliche, Unangenehme ... ALLES, was sie in dieser Stadt umgibt, will sie austesten, ausloten, festhalten. Deswegen ist sie hier.

Lys macht keine Fotos von den weltbekannten Attraktionen, keine von der noblen Atmosphäre der Glanz- und Glitzer-Distrikte, keine von den glatten, schönheitschirurgisch verwandelten Menschen mit den optimal gestylten Präsentier-Bodys, die einem so häufig und in solcher Perfektion begegnen, dass man schon gelangweilt wegsieht - Nein sie ist auf der Jagd nach dem Un-Perfekten, Ungeschönten, Altvergammelten. So etwas ergibt einfach die besseren Bilder. Das Echte, Authentische, doch auch das Gebrochene, sich Zurückziehende, vor dem Licht Fliehende ... es festzuhalten, faszinierte sie schon immer.

Aber nicht nur Fotos macht Lys. Im Hotel tippt sie auch die jeweiligen Tageserlebnisse akribisch in ihr Notebook.

Lys hat im Talentwettbewerb eines Medienkonzerns den zweiten Preis gewonnen und damit ist die Aufgabe verbunden, den inzwischen x-tausendsten New- York - Bildband zu gestalten ... was eigentlich nicht sehr spektakulär klingt. Da wird gleich jeder meinen, dass kaum etwas Großes herauskommen kann auf so eingefahrenen Spuren. Lys ist jedoch voller Schwung:
'Es wird das schönste Buch des Jahres' denkt sie. 'Ganz im Ernst, die Aufnahmen, die ich mache' - und sie steht ja schon jetzt, nach einem Monat, keineswegs mit leeren Händen da - werden ein Wahnsinnserfolg. So atemberaubend wird man New York noch nie gesehen haben ... und dazu hochliterarische, von mir verfasste Texte! Das Buch wird vielleicht sogar ein Bestseller!'

Der Verlag - immerhin ein weltberühmter - hat versprochen, laut die Werbetrommel zu rühren. Globusweit!
Ja, seitdem sie diesen Kontest gewonnen hat, passieren nur noch positive Sachen in ihrem Leben. Lys im Glück. Mit jedem Tag spürt sie ein bisschen mehr, dass sie diesmal etwas richtig Gutes schafft.

"Du hast die Intuition! Alles, was du vor die Linse bekommst, wird zu Kunst", hatten ihr Freunde schon früher gesagt. Natürlich war das pure Lobhudelei ... aber vielleicht doch auch ein Korn Wahrheit darin?

Ach ... ein bisschen Ruhm, das wäre echt schön!

Natürlich stimmt die finanzielle Vergütung. Großzügig hat der Verlag schon im Voraus alle Auslagen übernommen. Nie in ihrem Leben hat Lys so viel Geld zur Verfügung gehabt, wie jetzt in New York.

Sie durchwandert also die Stadt mit Hilfe ihres alten Pfandfinderkompasses und hält sich an die magnetische Nadel. So sieht man zumindest, in welche Richtung man läuft. Heute früh marschiert sie strikt nach Osten, kreuzt die Morningside-, später die Manhattan- dann die Eight Avenue. Lys weiß, dort hinten fließt der Harlem-River. An seinen Ufern ist sie vorgestern gewesen. Aber sie wiederholt die gleiche Route nie ein zweites Mal.

Halden voller Industriemüll überquert sie jetzt, verlassene Parkplätze, Ruinengrundstücke. Nur dem Kompass ist es zu verdanken, dass sie die Orientierung nicht ganz verliert. Sie durchstapft Hinterhöfe, Torpassagen oder Brachland, wo Autowracks vor sich hin rotten. Sperriger Eisenschrott, Kanalisationsrohre, alte Feuerleitern türmen sich rostend.

Endlich, hinter einer spärlichen Grünanlage, gelangt sie in eine ziemlich graue, ziemlich öde Wohngegend mit fünfstöckigen, gleichförmigen Mietshäusern ...

Da ... in einem langgezogenen, alten Gebäude findet ein Flohmarkt statt. Lys sucht stets schöne, alte Dinge, die man in letzter Zeit immer billiger bekommt. Sie freut sich schon. Vor allem, weil man in diesem Ambiente auch supergute Fotomotive findet.

Die Verkäufer scheinen absichtlich Wert darauf zu legen, dass ihre Waren irgendwie verschmutzt und ramponiert wirken, so, als seien sie nach einem Jahrhundertschlaf gerade erst aus einem zerfallenden Dachboden- oder Kellergewölbe der totalen Auflösung entrissen worden. Kurioseste und bizarrste antike Objekte stehen staubig auf den Tischen herum, doch Kenner entdecken sofort die unpolierten Edelsteine unter dem Gerümpel. Bärtige Männer in schwarze Kaftane gehüllt, Vater Abraham-Gestalten, lenken schlau die Geschäfte und lassen sich nur wenig von ihren ohnehin moderaten Preisforderungen abbringen.

Lys liebt die Welt der Trödler, Händler und exzentrischen Schnäppchenjäger und schaut amüsiert jener grellen, reichen Brooklyn-Lady zu, die auf der Suche nach 'Werten' da herumstreift, eine buntbemalte, schmuckbehangene Matrone, deren Make-up sich permanent und unabwaschbar in ihre durchfurchten Züge eingegraben zu haben scheint. Mit Zitterfingern durchwühlt die alte Dame Kasetten und Kisten, aus denen sie ganze Hände voller lädiertem, vergammeltem Klunkerschmuck hervorzieht, eine Sammlerin, die aber durchaus auch hinter größeren Objekten her zu sein scheint. Mit harten Augen und einem etwas arglistigen Lächeln feilscht sie eisern um die Preise, rettet zum Schluss den antiken Gegenstand ihrer Begierde, z.B. ein kleines, zartes Landschaftsgemälde, noch im letzten Moment aus den Fängen eines Rivalen und sichert es für sich, indem sie dem Händler ganz einfach mehr bietet, als von ihm angesetzt worden ist. All ihre Funde verstaut sie in einen riesengroßen tomatenroten Trolley, den sie hinter sich herzieht.

Eine Stunde lang verfolgt Lys die Dame fasziniert, beobachtet und fotografiert sie heimlich. Dieser sonderbaren Frau scheint nur das zu gefallen, was auch andere haben wollen. Und wenn sie einmal etwas ins Auge gefasst hat, dann kämpft sie darum wie eine Löwin.

Dieser Unersättlichen jagt Lys aus reinem Spaß ein dreireihiges Biedermeierarmband aus geschliffenen Korallenperlen mit wunderbarem Goldverschluss ab, dessen wahren Wert der Händler anscheinend nicht kennt. Nun ... Lys ist jung und schön und der Trödler auch nur ein Mann. Da hat die alte Schabracke keine Chance, sogar dann nicht, als sie Lys im Preis überbieten will.

Ja, wenn Sammler sich fast schlagen und wortgewaltig streiten, ach... auch das ist ein Spiel und endet meistens in Versöhnlichkeit und ... Wohlgefallen. Diesmal nicht.

"Das wird dir noch sehr leid tun, Herzchen", sagt die Unterlegene und ballt Lys eine grimmige Faust entgegen.

Wieder auf der Straße, läuft Lys weiter, biegt um Ecken ... und seltsam ... warum sind da plötzlich so viele Menschen? Wo alle Nachbarstraßen doch eben verlassen dalagen?
Lys läuft jetzt im Strom der Passanten mit, lässt sich von einer immer mehr anschwellenden Menge treiben.

Dann ... unvermutet ein hohes, luftig wirkendes Gebäude im Jugendstil, Fassade aus rotem und braunem Klinkerstein. Um die Fensterbrüstungen und Gesimse sind florale Ornamente eingelegt, über allem eine herrlich gewölbte, von eisernen Streben getragene, gläserne Dachkuppel. Das ganze ähnelt diesen charakteristischen Kaufhaus- oder Bahnhofshallen, wie man sie um 1860 bis 1900 baute.

Vor dem Portal hat sich eine lange Menschenschlange gebildet.

Lys stellt sich auch in die Schlange und fasst die Kamera fester. Ob das wieder ein Antik-Markt ist? Aber ein solcher wird es wohl dann doch nicht sein, das muss sie sich bald darauf sagen, denn das zappelige, hippe Publikum scheint nicht von der Sorte, die sich für alten Krempel interessiert.

Also eine Musikveranstaltung vielleicht? Pop-, Rock-, Rap-Matinee? Wäre auch möglich, denn in die mächtig schwellende Warteschlange reihen sich viele junge Leute ein. Schwarze, Weiße, Latinos. Alle reden wild durcheinander. In gedämpfter Lautstärke zwar, dafür mit erregten Stimmen. Kinder kommen ebenfalls gerannt, von denen man annehmen sollte, dass sie eigentlich in den Schulunterricht gehörten an einem gewöhnlichen Donnerstagmorgen wie diesem.

Innen im Gebäude schlägt Lys Düsternis und eine bedrückende Enge entgegen. Wie heißer Treibhaus-Atem trifft die abgestandene Luft ihre Lungen. Und komisch ... wo ist das Licht, das eigentlich durch die riesige Glaskuppel fallen müsste?

Statt der Weite und flutenden Helligkeit, die man hätte erwarten können, sind da lauter schmale, labyrinthartige Stollen. Finster, niedrig, katakombenhaft laufen sie in mehrere Richtungen. Es herrscht klaustrophobische Enge.
"Wie kann das sein in einer so riesigen Halle mit diesem grandiosen Eingang, der so hoch ist wie ein Domportal?"

In der feuchten Hitze und von leichter Übelkeit gepackt, zieht Lys ihren Trenchcoat aus, hängt ihn über den Arm.
Von der Menschenmenge, die hinter ihr hereindrängt, wird sie nun bis zu einem Schalter geschoben, wo sie ihr Handy und ihre Kamera abgeben soll.
"Doch nicht die Kamera?"
"Fotografieren ist hier verboten."

"Aber ich arbeite für den Verlag 'New World.'
Schon kramt Lys in der Tasche nach ihrem Ausweis.
"Sogar wenn sie für den Verlag 'New Heaven' arbeiten sollten ... sorry, Lady, no way", mault eine müde Frauenstimme hinter Panzerglas: "Schieben sie mir die Sachen unter der Scheibe durch oder gehen sie heim, honey!"

Nun gut, da muss Lys sich vorübergehend von ihrem Fotografierwunsch trennen. Sie bekommt eine Abholnummer. Mit Knopfdruck öffnet die Angestellte eine hüfthohe, eiserne Barriere und Lys darf weiter gehen.

An den niederen Decken verbreiten Leuchtröhren rötliches Zwielicht. Infrarotlampen. Deswegen wohl die unangenehme Hitze.
"Sonderbar! War das, was man von außen sah, nur Attrappe? Oder ist hier unten irgendwie alles ... falsch?

Lys weiß ja ... Innenarchitekten und Beleuchtungsexperten können ein Ambiente vollkommen verändern und künstliche Stimmungen zaubern, wie es ihnen passt ... aber... wozu am helllichten Tag diese nächtliche Szenerie hier drinnen?

Ein strenger Geruch sticht ihr in die Nase, als sie weiter geht. So etwas kennt sie aus ihrer Kindheit in Irland ... es riecht nach Stall, Vieh, vergorenem Heu, nach Kuhdung, Fermenten ... und extrem widerlich ... nach Schweinekot.
'Um Gottes Willen, da bin ich in eine landwirtschaftliche Ausstellung geraten, eine monumentale Zuchtbullen- oder -Eber-Prämierung womöglich!'

Da wird sie nicht bleiben! Für so etwas hat sie nichts übrig. Ihr tun die zwanzig Dollar leid, die sie am Eingang hat berappen müssen.
'Schnell raus hier!'
Aber die nachfolgenden Menschen drücken sie weiter nach vorne und am Ende siegt doch die Neugier.

Merkwürdig, jetzt fällt ihr ein ... nirgends an der Front des Gebäudes hat es Plakate gegeben, kein Schild wies auf eine Veranstaltung hin ... und das im Land der Bill-Boards, wo sonst jede freie Fläche mit Werbung bekleistert ist. Auch die überdimensionalen Stars-and-Stripes-Flaggen, die an jedem Haus zu Dutzenden von den Fenstersimsen wehen und die Fassaden fast verdecken ... an diesem Bauwerk hatte sie nicht eine davon bemerkt.

Ein noch fäkalischerer Gestank als zuvor wirft Lys jetzt fast um.

Im Halbdunkel des Ganges sind rechts und links große, drahtverhauene Boxen, eine neben der anderen. Welche Tiere sich darin befinden, kann sie bei all dem Andrang noch nicht erkennen.

Dann, als sie im Strom der Besucher näher gekommen ist, sieht sie : im ersten Zwinger sitzen auf festgetretener Erde ... Affen. Strählen ihr verklebtes Haar, indem sie sich mit den Fingern wie mit Kammsprossen durch die Strähnen fahren. Oder sie drücken sich gegenseitig Mitesser und Talgbröckchen aus der Haut, stopfen sie sich schmatzend, grinsend in die Mäuler. Lauter nackte Figuren.

Aber sind es Affen? Etwas ist anders. Die Hände. Glatt. Fast elegant. Und die Körper der Weibchen sind kaum behaart.

Lys steht wie gelähmt: Das sind ... Menschen! Hockend schart sich die Horde um eine massive, ebenfalls nackte, männliche Gestalt in ihrer Mitte.
"Leute wie wir? Oder etwa doch gen-mutierte Orang-Utangs mit besonderer Humanähnlichkeit?"
Die Besucher, die von den Nachdrängenden am Gitter entlang gepresst werden, nehmen diese peinliche Zurschaustellung anscheinend als selbstverständlich hin. Kaum einer würdigt die Gruppe eines zweiten Blickes.

Lys aber verharrt und starrt. Die Wesen im Käfig starren zurück. Ein nacktes, halbwüchsiges Etwas, das gerade oben am Gitter herumturnt, greift blitzschnell zu. Mit klebriger Hand packt es durch die Stäbe Lys bei der Nase und das tut weh. Lys schlägt die Finger weg und bringt ihr Gesicht in Sicherheit.
"You idiot asshole", quiekt das kleine Monstrum.
Lys muss lachen. Eine Homo-sapiens-Stimme immerhin! Menschenworte. Von einem Kind ausgestoßen. Einer verdreckten Göre. Tatsächlich.

Ein Weib springt in diesem Moment aus der affenähnlichen Gruppe, schlägt dem kleinen Mädchen mit geballter Faust zweimal auf den Kopf, dass es zu Boden plumpst. Das junge Geschöpf rafft sich auf, hebt den Fuß und tritt der Riesin mit voller Wucht gegen das Schienbein. Da brüllt die Frau laut, fegt das Kind mit einem gewaltigen Hieb von den Füßen. Wimmernd bleibt es in einer Ecke liegen.
...

In der Box, an der Lys jetzt vorbeigeschoben wird, kraucht nur ein einzelner Mensch, ein magerer Alter, am Boden herum. Auf dem Wandvorsprung der Zelle steht in etwa zweieinhalb Metern Höhe ein Glaskrug. Darin dunkelrote Flüssigkeit, wahrscheinlich Wein. Der Mann legt eine Sprossenleiter an und steigt hinauf, um sich das Getränk zu greifen. Als er fast oben ist, bricht die Leiter in Stücke. Er stürzt ab. Nun steckt er die Sprossen des Gerätes nochmal zusammen, beginnt die Kletterei von neuem. Wieder zerfällt das Ding in seine Einzelteile, kurz bevor er sein Ziel erreicht, und er liegt am Boden. Er baut die Leiter auf, sie bricht zusammen, er baut sie von neuem auf, von neuem landet er mitsamt den auseinanderkrachenden Holzteilen auf der Erde.

"Sisiphus lässt grüßen", hört Lys jemanden hinter ihrem Rücken feixen ... und gleichzeitig spürt sie heißen Atem. Irgend so ein Kerl ist hinter ihr. Sie beachtet ihn nicht.

Als der arme alte Mann im Käfig die Prozedur fünf oder sechs Mal mit gleichem bösem Resultat wiederholt, aber kurioserweise leidlich intakt überstanden hat, wird Lys von nachdrängenden Schaulustigen weitergeschoben.
...
Im Nachbarkäfig reiben Frauen ihre Körper mit einer Art braunem Schlamm ein und lecken ihn sich gegenseitig von der Haut ab.

"Was soll das alles?" Lys packt der Ekel.

Nacktheit ist anscheinend Bedingung für die Insaßen dieser Verhaue. Das scheint so weit zu gehen, dass niemand von den Gestalten da drin auch nur eine Uhr am Handgelenk oder Schuhe an den Füßen trägt. Es gibt weder Decken noch Unterlagen, worauf sie ihre blanken Hintern vor dem Dreck des Bodens schützen könnten. Kein Trinkbecher, keine Wasserflasche steht herum. Sie haben keine Taschentücher, um ihren Kindern die rotzigen Schnupfennasen abzuwischen. Hier fehlt jedes Beiwerk der Zivilisation.

Neugierig schieben sich die Besucher durch die engen Gänge vorwärts. Da schlendern Highschoolkids, leicht verstörte Familien, ganze Bowling- und Basketball-Clubs, Vereine von Armee-Veteranen – man kann die jeweilige Zugehörigkeit an den Emblemen auf ihren Caps oder T-shirts sehen. Alle Leute wispern leise, um die wunderlichen Bewohner des Labyrinths nicht aufzuscheuchen ... so wie man sich vielleicht im spukhaften Nachttierhaus eines Zoos verhalten würde.
...

In einem Drahtverhau ist ein junges Paar mit Stricken eng aneinandergefesselt. Ein verrücktes Bild: Hände und Arme von jedem der beiden stecken in einer Zwangsjacke. Außerdem sind ihre vier Beine bis zum Hüftansatz zusammengebunden, miteinander regelrecht verschnürt, sodass die zwei sich auf ihrem Strohlager weder einen Zentimeter voneinander wegrühren, noch sich anfassen können. Ein unbequemer Zustand.

"Ich bin in einem Irrenhaus!" Langsam steigt in Lys Wut auf.

An diesem Käfig ist, wie auch an allen anderen, eine Plakette befestigt, darauf in goldenen Lettern das Thema, das anscheinend als Leitmotiv über der Szene steht:

ZWEI KÖNIGSKINDER, SIE KONNTEN ZUSAMMEN NICHT KOMMEN
Das Schildchen sagt, bei dem blutjungen Duo handele es sich um ein wirkliches Liebespaar, das sich angeschickt habe, trotz leidenschaftlicher, gegenseitiger Begierde, freiwillig einen Rekord in Enthaltsamkeit aufzustellen und ganze dreißig Tage in der jetzigen Lage zu verharren.
"So sehr sie sich aber aneinander reiben, sie können sich nicht wirklich nahe kommen, keine Liebkosungen austauschen", erklärt das Schild, "denn sie sind ja aller Bewegungsfähigkeit beraubt." Wie zum Beweis hat man das geschwollene Glied des jungen Mannes mit Bandagen eng an seinem Körper fixiert.

Eine Art drahtigen Mundschutz tragen die zwei auch, was die Skurrilität noch steigert, ein Maulkorb eigentlich, der sie nicht am Sprechen, jedoch am Austausch von Küssen und anderen oralen Zärtlichkeiten hindern soll, so erläutert die Plakette.

'Wer will eigentlich sehen, was die da abziehen.' Lys hat keine Lust, zu rätseln, ob es wirklich die große Liebessehnsucht ist, die ihnen so zusetzt, oder doch eher die unbequeme, höllisch verquere Stellung, in die sie sich ja anscheinend freiwillig begeben haben... 'Was soll das widerliche Spektakel?'
Auf dem erklärenden Schild steht außerdem in diesem Zusammenhang noch, dass den jungen Akteuren dreimal täglich ein Aphrodisiakum verabreicht werde, welches ihren Drang nach Vereinigung ins Unermessbare steigere. Auch errege man die Lust des Pärchens darüber hinaus, indem man ihnen von Zeit zu Zeit ein schleimhautreizendes Mittel in ihre Geschlechtsteile injiziere, was sie jedesmal in bebende Raserei versetze. Bei all dem aber blieben sie, wie unschwer festzustellen sei, durch die Fesselungen zur absoluten Keuschheit verdammt.
...

Im Käfig, vor dem Lys gleich darauf steht, kauern zwei schmutzige, bärtige Kerle in fast liegender Position auf der aufgeweichten Erde. Sie greifen sich mit beiden Händen gekochte Gelbe Rüben, die man aus einem Zuber soeben vor sie hingeschüttet hat und raffen sie in ihre Mäuler.
Die Darbietung hat den Namen:

KAROTTENFRESSER - KAROTTENSCHEIßER
Diese Männer schlingen tatsächlich Unmengen von Gelben Rüben mit rasender Geschwindigkeit in sich hinein. Man füttert sie mit nichts anderem. Sie sind verpflichtet, zu essen, zu essen und dementsprechend immer wieder ausgiebig die Reste auszuscheiden. Auch das geht im Käfig vor sich.

Ähnlich Peinliches, so steht es auf dem Schildchen, erspare man den Akteuren in anderen Zwingern. Diese dürften sich wenigstens für einige Minuten täglich, allerdings unter strengster Aufsicht, zum Essen, wie auch zum Verrichten ihrer Notdurft in hintere Räume zurückziehen. Bei diesen beiden aber sei das Sich-Entleeren ein integrierter Teil ihrer 'Performance' und müsse daher vor den Augen der Besucher geschehen.

"Und wehe, sie kommen mit dem Verzehr der herbeigekarrten Karotten nicht nach", flüstert wieder die Männerstimme hinter Lys, "dann helfen ihnen die Wärter aber heftig auf die Sprünge. Ich hab es einmal selbst beobachten dürfen. Mit einem Trichter flößt man ihnen den zerdrückten Brei ein. Gewaltsam, wie bei Mastgänsen ... Doch keine Angst, es ist genau berechnet, wieviel von dem Gemüse das Verdauungssystem der zwei Männer gerade noch verkraften kann, damit ihnen nichts Schlimmes geschieht ... es sei denn, ihr Verstand verabschiede sich irgendwann ... ha ha ha ... so sie überhaupt einen besitzen!"
...



Weitergeschoben, findet sich Lys dann vor einem grell beleuchteten Käfig wieder. Dort masturbieren drei ältere Frauen einen entnervt winselnden, dünnen jungen Mann. Die Szene ist mit dem Slogan:

DIE VERSUCHUNGEN DES HEILIGEN SANKT ANTONIUS
überschrieben. Viel Publikum hat sich interessiert um das Gitter versammelt.

'Ein Alptraum. Nichts wie weg hier.' Lys wird langsam wirr im Kopf.

Der jetzt pausenlos auf sie einredende Typ, der sich die ganze Zeit in den von Besuchern verstopften Labyrinthgängen eng an ihre Seite gedrängt hat, stellt sich nunmehr als Mister Sledge vor. Lys, inzwischen von unbestimmter Angst gepackt, wagt nicht einmal, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie mag einen Menschen nicht anblicken, dessen Stimme schon so ekelhaft klingt.

"Das ist die Art, wie diese einst bettelarmen, arbeitslosen, teilweise kriminell gewordenen Leute, - alles Freiwillige, alles Freiwillige! -", betont er heftig, "durch Selbstdarbietung und Erniedrigung der eigenen Person einen ädequaten Weg gefunden haben, sich ihr tägliches Brot zu verdienen."

Langsam begreift Lys: Man hat aus nackten, menschlichen Einzelwesen oder Gruppen ... lebende Bilder zusammengestellt.
Dabei ist es nicht so, dass alle Männer hier Quasimodos, alle Frauen hexenhässlich wären. Doch scheint eine jede dieser Personen auf ihr niedrigstmögliches Niveau reduziert ...

"Ein harter Job, den diese Leute sich da ausgesucht haben", fährt Mister Sledge fort, "aber er bringt gutes Geld, insofern jemand eine unverbrauchte Idee, ein fantasievolles Motto für sich gefunden hat. Die einzelnen Szenarien, auch die Akteure, werden nach einer Weile ausgewechselt, damit es spannend bleibt und die Zuschauer immer wiederkommen. Die Besucher - obwohl sie schon an der Tür Eintritt gezahlt haben - werfen gern noch einmal Münzen oder Scheine als Trinkgeld in die Näpfe, die hier vor jedem Käfig stehen. Sehen Sie nur, wieviel Zaster sich da angesammelt hat ... !"

Lys schüttelt den Kopf. Würde der Typ bloß den Mund halten!

"Wobei", erklärt Mister Sledge genussvoll, "sich die Höhe der freiwilligen Spende nach dem Lustgewinn richtet, den das Spektakel bei den Beobachtern auszulösen imstande ist. Diejenigen Performer, die den Gästen etwas Besonderes, nie Dagewesenes bieten oder sie über die Maßen erregen, erschüttern, auch zum Lachen reizen, bekommen natürlich die üppigsten Trinkgelder. Davon behalten sich allerdings die Betreiber des Unternehmens einen ordentlichen Teil zurück für Auslagen, Verpflegung, Versicherungen und so weiter... Wie sie sehen, sind die Darsteller hier unten alles andere als glamourös. Sogar bei sexuell motivierten Szenen herrscht trotz Infrarot-, beziehungsweise Schwarzlicht-Beleuchtung kein erotisches Nightclub- oder Swinger-Feeling, wie man vielleicht erwartet hätte ... Alles andere als das. Es sollen diese unbekleideten, weder durch Badeluxus noch Sonnenbräune veredelten Körper, diese durch keinerlei Make-up verschönten, gemeinen Gesichter dem Publikum eine Ahnung letztmöglicher Dekadenz und menschlicher Erniedrigung vermitteln ..."

'Wenn der Irre nur endlich aufhörte, zu quasseln‘. Normalerweise ist Lys recht zäh... aber das ist zuviel!


"Man hat herausgefunden, dass gerade monströse Darbietungen wie diese die verborgenen Gelüste der Vorbeiflanierenden in hohem Maße befriedigen", fährt Mister Sledge in seinem Redestrom fort: "Es finden in diesen Zwingern manchmal regelrechte Happenings statt, die bereits Wochen vorher in der Presse angekündigt werden und dann eine besonders große Interessentenschar herbeilocken. Díese Happenings dauern vielleicht einen Tag. Manche auch nur zehn Minuten. Oder sogar noch weniger."

Mister Sledge packt Lys beim Ellbogen und zieht sie zu einem Käfig, vor dem schon eine immense Zuschauermenge steht.
"Hier findet nämlich ein Spektakel statt", sagt er, "das von seiner zeitlichen Dauer her begrenzt ist, auch nicht beliebig wiederholt werden kann, zumindest nicht mit den gleichen Akteuren, ha ha ha."

Das Happening heißt:
THE MOTHER WHO IS KILLING HER CHILD
Und genau das zeigt dieses lebende Bild: Eine knochige Frau sticht mit einem Messer auf einen nackten, verzweifelt sich wehrenden, tobenden, brüllenden, bereits aus mehreren Wunden blutenden Knaben ein. Sticht so lange zu, bis dieser matt in einer grellroten Lache zusammensackt. Die Schaulustigen, die weiter abseits stehen, können das Geschehen auf einem unter der Zellendecke angebrachten Monitor bequem mitverfolgen.

"Lassen sie uns weiterwandeln, dieses da ist doch nicht das Rechte für ein sensibles, weibliches Gemüt", sagt Mister Sledge zähnebleckend und packt Lys fester beim Arm.
...

In dem Gang, durch den man sie nun schiebt, scheint die Stimmung gelöster zu sein. Lautes Gemurmel, sogar Gelächter lässt auf ein zu erwartendes, freundlicheres Spektakel schließen.

In einer der Boxen kann man einen wahren Gorilla von Kerl sehen, einen drahtigen Zweimetermann mit überdimensionalem Gemächt.

"Dieser ist gerade dabei, öffentlich fünfzehn Frauen zu begatten", erklärt Mister Sledge schwer atmend und etwas wie Respekt schwingt leise in seiner Stimme.

Ein diesem Goliath ausgeliefertes, nacktes, verschüchtertes Weibsbild wird jetzt zu ihm hineingestoßen und der Unersättlichkeit des monströsen Sexprotzes überlassen. Nach der Prozedur zieht ein Wärter die Taumelnde, Schreiende, sich vor Schmerz und Abscheu Krümmende aus dem Käfig. Dann kommt die Nächste. Und die Nächste. Einige dieser erniedrigten Geschöpfe sind ansehnlich oder sogar hübsch, andere scheinen im höchsten Grad krank und elend. Einige stieren stumpf vor sich hin, andere schluchzen. Alle sind sie außer Rand und Band, hilflos, jeder Zierde und Würde beraubt.
Die erregte, enggeballte Menge, die die Gitterstäbe von außen fast eindrückt, teilweise daran in die Höhe geklettert ist, zählt bei der keineswegs zimperlichen Betätigung des Mannes johlend mit und applaudiert ihm nach jeder gelungenen Nummer.

Auch an diesem Käfig ist ein Schild angebracht, das trägt den, wie Mister Sledge launisch meint, doch eher tiefstaplerischen Titel:
KING HENRY VIII UND SEINE SECHS FRAUEN.
Die Plakette erklärt zusätzlich in kleineren Lettern, dass der Eingesperrte bei seiner Ankunft und seinen ersten Versuchen vor einigen Monaten tatsächlich nur SECHS weibliche Wesen in Folge hatte adequat bedienen können. Daher der inzwischen überholte Vergleich mit dem berüchtigten englischen König und Ladykiller! Er habe aber seither durch kraftvolle Nahrung, das fortwährende Zur-Verfügung-Stehen geeigneter Sexobjekte, sowie die große Resonanz beim Publikum aufgemuntert, mehr und mehr an Potenz zugelegt, sich selbst übertroffen und könne nun täglich die Zweidutzendmarke gebranntmarkter Frauen lockerleicht überspringen ...
Dieser Mann sei übrigens ein zu dreimal lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilter Sexualverbrecher und Triebtäter, ein Mädchenmörder, dem man hier die Chance eingeräumt habe, sich zu rehabilitieren und das nutzbringend und zur allgemeinen Erbauung vorzuführen, was er sonst mit krimineller Energie, zum Verderb der ihm in die Hände Gefallenen bewerkstelligt habe! Auch sei ihm zur Auflage gemacht worden, mit den üppigen Trinkgeldern, die er von seinen Bewunderern einheimse, die von ihm angerichtete Seelenpein seiner überlebenden Opfer, beziehungsweise der Angehörigen getöteter zu lindern und so verursachten Schaden teilweise wieder gut zu machen.

"Hier unten gibt es genaue Verhaltensmaßregeln", fährt jetzt Mister Sledge fort, "Regeln nicht für die Zuschauer, o nein ... für die Akteure. Die Punkte, die sie beachten müssen, sind genau vorgegeben und penibel aufgelistet. Es ist zum Beispiel denen im Zwinger bei schlimmster Strafe verboten, irgendeinem Besucher auf dessen gemeinen oder provozierenden Zuruf hin ein Widerwort herauszubrüllen. Auch ist das sich Begatten oder Onanieren der immerhin wochen- oder monatelang in den Boxen Eingekerkerten nicht erlaubt, es sei denn, das wäre Teil der künstlerischen Aussage des von ihnen dargestellten Bildes. Sie müssen wissen, my dear child", erklärt der ekelhafte Mister Sledge, "man gönnt den Performern hier unten keine Minute Privatsphäre. Selbst zur Schlafenszeit nicht, wenn die Beleuchtung gelöscht ist. Sogar dann wird das Verhalten dieser Wesen aufmerksam von stets wechselndem Publikum beäugt. Die Hallen bleiben nämlich vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr geöffnet und für interessierte Besucher stehen Nachtsichtgeräte zur Verfügung.

Noch etwas: für das Einhalten der Regeln müssen die Zuschauer sorgen, so will es die Hausordnung. Die Besucher sind verpflichtet, Verhaltensverstöße der Akteure gnadenlos an die Direktion zu melden.
Für die strenge Züchtigung aufmüpfiger Käfiginsaßen sorgen dann die Wärter. Strafen sind: Abscheren der Kopf- und Schamhaare – besonders bei Frauen-, Stockhiebe auf den bloßen Allerwertesten oder auf die zuvor mit Salz eingeriebenen Fußsohlen. Im schlimmsten Fall das Verabreichen peinverursachender Injektionen oder Klistiere. All das vor Publikum, versteht sich..."

"Es reicht ... "

"Na ja, man kann das Konzept kontrovers diskutieren." Mister Sledge lässt sich nicht stoppen, "Nun gut... Verhaltensmuster werden hier ein wenig überzeichnet, karrikiert, wenn ich das so ausdrücken darf. Gerade die Ehrlichkeit, mit der selbst die Abgründe der menschlichen Existenz ins grelle Licht gerissen werden ... und glauben sie mir, my dear, you did’nt see nothing yet ... also, gerade diese Authentizität macht die Sache doch sehr reizvoll ... oder was denken sie? Ich finde das Ganze ungemein ... lehrreich. Auch die meisten Besucher geben zu, dass das Spektakel sie nicht loslässt, sie auf rätselhafte Weise zwingt, immer wieder und wieder die Schritte hierher zu lenken."

Lys wird schlecht! Wo geht es hier nach draußen?

"Einfallslose Darsteller", so doziert der Mann jedoch erbarmungslos weiter, "solche, die dem Publikum nur ein Gähnen entlocken und niemanden überzeugen, und für die das Trinkgeld infolgedessen gering fließt oder vollständig versiegt, sind bald nicht mehr imstande, ihre für Essen und Unterkunft bereits angefallenen Summen zurückzuzahlen. So werden sie plötzlich zu Schuldnern der Betreiber dieses Etablissements und kommen damit in die Zwangslage, am Ende nicht mehr selbst über die Grenzen ihrer Darbietung bestimmen zu können. Sie sind nun unfreie Opfer und müssen sich von da an für jeden befohlenen Einsatz zur Verfügung halten. Aus dieser Gruppe der Allererbärmlichsten, Erfolglosesten rekrutieren sich zum Beispiel die Frauen im Käfig des Triebtäters. Auch werden solche Versager, Männer und Mädchen gleichermaßen, sehr gern für schmerzhafte, masochistische Behand...."

Lys wirft sich, Hände schützend vors Gesicht geschlagen, gegen den Besucherstrom ankämpfend, in die Richtung, in der sie den Ausgang vermutet.

"So bleiben sie doch! Es gibt soviel Hochinteressantes, dass ich ihnen unbedingt noch zei..."

O Gott, dieses Scheiß-Höllen-Szenario und der unaufhörlich vor sich hinquasselnde Idiot an ihrer Seite haben es geschafft, dass sie jetzt gleich hier in Ohnmacht fallen wird, wenn sie nicht auf der Stelle hinaus...

Mit letzter Kraft stemmt sie sich der hereindrängenden Menschenmenge entgegen, quetscht sich gegen schweißstinkendes oder parfümiertes Fleisch und Textil ankämpfend vorbei zum Portal, das sie nass vor Angst, zerzaust und mit zerrissenen Kleidern endlich erreicht, wobei ihr Mister Sledge wie ein Bluthund und immer noch labernd, auf den Fersen folgt.

Da, als sie gerade hinauswischen will in den herrlich kühlen Novembertag – sie spürt schon die frische Brise wie ein unglaubliches Geschenk des Lebens - da schieben sich drei Männer in dunklen Lederjacken heran. Ein Pärchen, das unmittelbar vor Lys den Ausgang erreicht hat, wird zur Seite geschubst. Lys aber wird bei den Armen gepackt.
"Das ist sie", sagt einer der bulligen Kerle und
"die Dreißigtausendste", liest er triumphierend von einer fast unsichtbar an der Wand angebrachten elektronischen Zählmaschine ab.
In seinem gebräunten Gesicht, hinter spiegelnden blauen Brillengläsern sieht Lys die Augen nicht. Sie hat es geahnt. Sie hat es geahnt. Sie hat eine Katastrophe kommen sehen. "O Gott!"

"Halt, halt ... Irrtum ... sie ist die Zwanzigtausend-neunhundert-neundneunzigste", ruft einer der Typen dem Fänger zu. "ER da ... er ist es, er ist unser Mann: Nummer dreißigtausend!"

Sie ergreifen den entgeisterten Mister Sledge, der sich vor purer Überraschung nicht wehrt, sondern nur mit lauter, zitternder Stimme zu disputieren anfängt. Als er dann aber zappelt und versucht, um sich zu schlagen, stülpen sie ihm schnell eine schwarze Kapuze über den Kopf.
"Stellt ihn ruhig!" befiehlt einer, "und bringt ihn in die Gummi-Kabine!"

"Rotschopf, du hast Glück gehabt", lacht der dunkel bebrillte Gorilla, lässt Lys los und sie darf die Drehtür passieren.

Eines hatte Mister Sledge nicht erwähnt, - oder hatte sogar er, der selbsternannte Experte, es nicht gewusst? - nämlich, dass es in diesem Etablissement auch 'Zwangsrekrutierungen' gibt ... Also, in den Käfigen hocken keinesfalls nur Freiwillige.

*

Schluchzend, am ganzen Körper bebend, findet Lys sich auf der Straße wieder. 'Ich muss sofort den Verlag anrufen. Sie müssen das wissen und ... sie müssen mir helfen, dass ich die Kamera zurückbekomme ...'


Währenddessen in einer beim Portal geparkten schwarzen Limousine:

"Da ist sie, die Verbrecherin, die mich heute Morgen um mein bestes Schnäppchen gebracht hat ... greift sie, ich schenke sie euch", sagt die alte Dame im Auto und schon sprinten zwei Männer heraus und zerren die um sich schlagende Lys in den Wagen.
"Hör auf zu brüllen, Süße, es nutzt dir nichts!"
"Komm Freddy, gib ihr die Spritze, die wird ihr guttun ... denn hysterisch wollen wir unsere Kätzchen ja nicht haben, oder? Also mach schon ..."
"OK, Dave!"

*

Zirka ein halbes Jahr später im Hochhaus-Büro des New-World-Verlages:

"Was ist eigentlich aus der Kleinen geworden", fragt einer der Bosse seine Sekretärin, "Sie wissen schon, die Irin, die den New - York - Bildband macht? Wie weit ist sie voran gekommen?"

Die junge Frau befragt ihren Laptop. Dann schüttelt sie den Kopf: "Lys Mac Murray ... sie hat sich nicht mehr gemeldet, hat sogar den Abgabe -Termin verstreichen lassen! Ist schon fast drei Monate im Verzug."

"Schade ... sie hat gerade D I E Chance ihres Lebens vergeben. Dabei war sie talentiert. Ihr Pech! Veranlassen Sie umgehend, dass man sie von der Gehaltsliste streicht!"

"Yes, Sir."




*



Copyright Irmgard Schöndorf Welch
überarbeitet am 22.05.2005
 
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Kommentare  

Hallo Hera und Graf Zahl

Danke für Eure wunderbare Bewertung. Es ist mir schwergefallen, diesen Text zu veröffentlichen und ich musste mich schon ziemlich überwinden. Desto mehr freut mich Eure positive Resonanz.

Liebe Grüße
Irmgard


Inulove (23.06.2003)

Krass
Da fehlen einem die Worte, gerade weil so etwas schon beinahe Wirklichkeit ist. Es gibt schon genug solcher Fehrnseshows in denen Menschen sich freiwillig so entwürdigen.
Dabei sind nicht die Zuschauer die wirklichen perversen.
5 Points von mir


Hera (16.06.2003)

Hossa.... liebe Irmgard, du musst schauerliche Alpträume haben - die Verarbeitung in eine Story ist dir dann allerdings um so besser gelungen, vor allen Dingen der so nichtssagende Anfang, von dem aus man nie auf den Rest hätte schließen können... würde mich aber nicht wundern, wenn es in nicht allzu ferner Zukunft gerade im Big Apple eine solche Show geben könnte.

Fünf Punkte.

Grüße vom Grafen (*****)


Graf Zahl (05.06.2003)

Hallo lieber New Wolz

Die Wahrheit ist, ich habe dieses ganze Horror-Szenario genau wie geschildert in einem nächtlichen Alptraum geträumt. Hatte wohl zuviele Horrorfilme gesehen. Die Rahmenhandlung und Lys habe ich mir dann dazu erfunden. Ja, die Story ist 'krank', aber ich wollte es dennoch wagen, sie niederzuschreiben

Danke sehr für Deine gute Bewertung.
Liebe Grüße
Irmgard


Irmgard (18.05.2003)

Krank und Faszinierend zu gleich.
Wenn alles freiwillig geschiet, ist nichts dagegen einzuwenden. Jedem das Seine.
Die Zwangsrekrutierung empfand ich als störend in einer perfekten Storie.
Du hast es gut und immer wieder verstanden die Neugier auf die nächste Szene zu wecken.
Kann sowas alles nur der Phantasie entspringen?
Geniale Geschichte und so ganz anders wie das übliche. 5 Punkte


NewWolz (18.05.2003)

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