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3 Seiten

Wenn der Abend kommt

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
Es ist recht warm für die Jahreszeit. Die freundliche Herbstsonne wirft mir ihre goldenen Strahlen ins Gesicht. Schön, einfach nur schön.
Silber schnauft verächtlich. "Was denn?"
Er sagt nichts, legt seinen massigen Kopf auf die Tatzen. Er hält nicht viel von meiner "Gefühlsduselei", wie er sich auszudrücken pflegt. Er meint, es macht mich zu menschlich.
Ich blicke auf die sich kräuselnde Wasserfläche unter mir. Unter der glitzernden Oberfläche blicken die Fische zu mir auf. Sie können meine Anwesenheit spüren.
Im Übrigen finde ich noch immer, daß der Name Silber unpassend für ihn ist , aber er scheint damit zufrieden zu sein. Schließlich hat er ihn sich selbst ausgesucht.
Womöglich hat er ja recht. Vielleicht habe ich wirklich zuviel Kontakt zu den Menschen. Naja, das läßt sich schließlich nicht vermeiden.
Ich drehe mich wieder um, stütze meine Ellbogen auf das breite, aus Beton gegossene Brückengeländer. "Du hättest ja nicht mitkommen müssen."
Ich weiß ich klinge ein wenig vorwurfsvoll, vielleicht mit Absicht, um dem Löwen ein erneutes Schnaufen abzuringen. Er schmollt. Gut, dann soll er doch. Ich breite kurz meine Flügel aus. Von Zeit zu Zeit muß ich sie dehnen, damit sich die Sehnen nicht verkürzen.
"Du und deine Sehnen!"
Aha, der gnädige Herr Löwe hat also seine Sprache wiedergefunden.
Ich drehe mich um, er schaut mich mißmutig an.
"Wie lange wollen wir denn noch hier herumlungern?" schnauzt er mich an.
"Du solltest eigentlich Quecksilber heißen, so giftig wie du sein kannst. Du weißt ganz genau, daß wir noch etwas zu erledigen haben."
Ein Pärchen nähert sich. Sie gehen Hand in Hand, er sagt irgend etwas. Sie fängt plötzlich laut an zu lachen, kann sich kaum halten, während er breit grinst. Sie beruhigt sich wieder, die beiden bleiben stehen und küssen sich. Lange. Dann gehen sie weiter in unsere Richtung.
"Mann, was hast du denn bloß immer mit deinen Pärchen?"
"Silber, geh endlich raus aus meinen Gedanken!" sage ich laut.
"Manchmal frage ich mich wirklich, woher du diese negative Einstellung hast."
Er verdreht nur die Augen und läßt seinen Kopf wieder auf seine Vorderpfoten sinken.
Ich glaube, er hat einen Minderwertigkeitskomplex. Hat irgendwas zu tun mit seiner Mähne. Ich finde ja, er sieht ganz in Ordnung aus - groß, zottelig, so wie ein Löwe sein sollte. In mancher Hinsicht ist er selbst ziemlich menschlich, finde ich. Natürlich würde er das niemals zugeben.
Das Pärchen hat uns fast erreicht. Ich versuche ein wenig auszuweichen, einfach nur aus Höflichkeit. Silber ist das egal. Breit und protzig bleibt er mitten im Weg liegen.
Das Mädchen fröstelt ein wenig, als sich ihre schlanken Beine quer durch Silbers Haupt bewegen. "Es wird schon kühl." meint sie.
Ihr Freund spürt es auch, als er das Hinterteil der großen Raubkatze durchschreitet. Er legt seinen Arm um sie, drückt sie fest an sich. Sie erwidert es mit einem Lächeln. Sie gehen rasch weiter. Eine Zeit lang blicke ich ihnen nach, ich überlege mir, wie wohl ihre Zukunft aussehen wird. Werden sie zusammenziehen, heiraten, Kinder bekommen? Werden sie glücklich miteinander sein?
Oder werden sie sich nach einem Jahr plötzlich richtig schlimm verkrachen, worauf sie von Weinkrämpfen geschüttelt in ihr Auto steigt, mit hundertzwanzig km/h von der Fahrbahn abkommt und frontal in eine alte Eiche kracht? Wird ihr Freund dann monatelang in einer Hölle aus Vorwürfen, Selbstmitleid und Verzweiflung dahinsiechen, bevor er beschließt sich selbst von seinen Qualen zu erlösen? Wird seine Mutter beinahe wahnsinnig werden, weil sie ihren einzigen Sohn zu Grabe tragen muß?
"Paß auf, er kommt!"
Silber reißt mich wieder einmal aus meinem Gedankenstrom. Diesmal zurecht. Ich sehe den Mann von weitem kommen. Ganz in schwarz ist er gekleidet, trägt seinen Kopf gesenkt. Er ist vollkommen in sich versunken, sieht nichts, hört nichts, spürt nichts - außer den Schmerz. Den kann ich auch spüren. Wogen von Leid und Verzweiflung schwappen vor ihm her.
Ich werde ein wenig unruhig. Selbst meine Flügel werden steif vor Anspannung.
Es ist jedes Mal anders. Manche sind vollkommen entschlossen, haben einen Punkt überschritten, von dem an es kein Zurück mehr gibt. Manche zögern, sind sich nicht sicher, überlegen es sich vielleicht noch einmal. Einige sind ganz ruhig und gewissenhaft, wenn sie ihren Revolver laden, 30 Valium schlucken, oder sich die Venen eröffnen. Andere scheitern in ihrem Vorhaben allein deswegen, weil sie viel zu nervös sind, um es richtig zu machen.
Leider schaffen sie es meist doch irgendwann.
Die wenigsten bemerken auch nur im geringsten meine Anwesenheit. Ich bin dazu verdammt ihnen zuzusehen, ihren Schmerz mitzufühlen, ein stummer Teilnehmer.
Er kommt näher. Sein Schritt wird langsamer, beinahe schlendernd - er zögert.
Mein Herz setzt kurz aus (Wenn es noch schlagen würde)
Vielleicht ist er noch nicht verloren, denke ich.
"Vergiß es! Der ist hinüber." Sagt Silber. Ich versuche seine Worte zu ignorieren
Jetzt geht er wieder zielstrebiger voran. Er tritt ans Geländer, nur drei Meter von uns entfernt, er blickt fast ein wenig verträumt auf den Fluß hinaus, der untergehenden Sonne entgegen. Vorsichtig steigt er über die Brüstung, krallt seine Finger in den Beton, um nur ja nicht zu früh abzustürzen. Ich weiß, er will im Tod die vollkommene Kontrolle über sein Leben wiedergewinnen.
Ich vibriere innerlich, versuche irgendwie seine Gedanken, sein Herz zu erreichen.
"Kehr um!", will ich ihm sagen "Kehr um, es ist noch nicht zu spät! Mach nicht den selben Fehler wie ich!"
Plötzlich dreht er den Kopf in meine Richtung. Er sieht mich an, blickt dort ins Leere, wo meine Augen sind. Dann läßt er los.

Silber ist zufrieden, daß wir endlich heimkehren konnten, er liegt neben mir und schläft. Ich bin nicht wirklich zufrieden.
Eine neue verlorene Seele. Es gibt schon zu viele.
Ich beginne nachzudenken, lasse die Erinnerung an dich wieder wach werden, wünsche mir, daß mein Tod ebenfalls ein Unfall gewesen wäre. Wünsche mir, ich könnte dich noch ein einziges Mal berühren.
Silber beginnt laut zu schnarchen. Verdammtes Vieh.
 
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Kommentare  

ich kann mich nru anschließen. toll.
lg darkangel


darkangel (26.04.2007)

Das Bild hat etwas verzaubert Unwirkliches.
Umso realistischer die dann auftretenden Personen.

Beides ausgezeichnet miteinander verbunden, sodass es durchaus nebeneinander bestehen kann, ohne als Bruch wahrgenommen zu werden.
Gut.


 (08.08.2003)

Es gibt hierzu nicht viel zu sagen.
Berührt. Lässt schmunzeln. Gesunder Sarkasmus. Wehmut.
Schön geschrieben ohne etwas schön zu schreiben.
Volle Punktzahl.


*Becci* (21.07.2003)

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