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5 Seiten

Lauras Woche

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
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Lauras Woche

Eine Kleinstadt in West-Deutschland. Sommer. Es ist sehr heiß.

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Freitag, 3. Juli 1998. Nachmittag


In dem Mietshaus auf der anderen Straßenseite, gegenüber von Lauras Wohnung, holen zwei schwarz gelockte Knaben die Fahnen ein, die seit Tagen dort stolz und trotzig aus den Fenstern im dritten Stock heraus flatterten. Stoffbahnen, groß wie Bettlaken, zeigen die Farben grün, weiß, rot. Dünn und verdrossen sind die Gesichter der Jungen aus Kalabrien, müde ihre Bewegungen ... Innerhalb von Sekunden verschwinden jetzt schamhaft die leuchtenden italienischen Fahnen, erlöschen im Schwarz der Wohnstube, wie in einer dunklen Höhle.

Laura hätte nicht den Fernseher einzuschalten brauchen, um zu wissen, was passiert ist. Sie konnte es eben an dem Aufbrüllen hören, den Schreien von Wut und Enttäuschung, die schlagartig aus Hinterhöfen, Biergärten und den umliegenden Kneipen durchs geöffnete Fenster an ihr Ohr brandeten: Italia hat gerade im Viertelfinale um die Fußballweltmeisterschaft knapp gegen Frankreich verloren. Roberto Baggio verfehlte in den allerletzten Sekunden der Verlängerung das Tor nur um Haaresbreite, auch wurde der letzte und entscheidende Elfmeter von einem anderen Spieler der Mannschaft mit Wucht an die Querlatte gefeuert. Fast ein Weltuntergang für die Südländer hier im Stadtviertel.


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Irgendwann tönt lautes Absatz- Klackern durchs Treppenhaus. Da galoppiert Gabi Utter voller Elan und in wildem Stakkato auf ihren eisenbeschlagenen Stöckeln an Lauras Wohnungstür vorbei über die Steinfliesen nach unten. Krachend fliegt jetzt die Haustür ins Schloss.

Gabi Utter, die Vierzigjährige, wohnt oben im Penthouse mit Herrn Weinmann, dem Hauseigentümer, zusammen. Gerade wieder fährt sie zum abendlichen Training ins Fitness-Center.


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Freitag, 3. Juli 1998. Acht Uhr abends

Laura ist es, als nehme sie den beißenden Geruch der Waldbrände wahr, die in Florida große Landschaften fressen. Von der Sonne Ausgedörrtes brennt lichterloh. An der Ostküste. Bei Orlando. Near Daytona Beach. Richtung Cap Canaveral. Ein Gebiet, groß wie das Saarland, sei ein Raub der Flammen geworden und eine halbe Million Menschen bereits evakuiert, heißt es.
"Nur noch ein Hurrican kann uns jetzt retten", erklärt der forsche Feuerwehrboss der erstaunt dreinblickenden Reporterin.
"Wieso das??" Seine Begründung: "der Hurrican würde nämlich Regen bringen ..."

Was ist aus Shore View Appartments in Satellite Beach geworden? Dort hat Laura jahrelang gewohnt. Gerade erfährt sie ... in dieser Gegend sollen die Flammenwalzen am Schlimmsten wüten. Wie werden Connie, Jeff, Huby und all die anderen Freunde von früher - Lauras Kontakt mit ihnen ist längst abgerissen - jetzt ihre wichtigsten Sachen vor der Katastrophe retten?

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Freitag, 3. Juli 1998. Kurz vor Mitternacht

Laura spürt, wie sich die Hitzewelle rund ums Mittelmeer festkrallt.
47° im Schatten in Catania, Sizilien, der Stadt am Ätna. Dort hat sie als junges Mädchen jahrelang gelebt!
Da war es früher niemals sooo HEIß, denkt sie verwundert.


"Die Menschen versengen ihre Mund- und Nasenschleimhäute in der höllischen Glut", sagt ein Nachrichtensprecher. "Alte Leute kollabieren. Fallen um wie die Fliegen. Die letzten Touristen reisen ab.
Einheimische retten sich in die Kirchen. Il Duomo di Catania."

Ob sie dort um Regen beten? An Gott denken? Oder flüchten sie NUR der Hitze wegen in die relative Kühle des heiligen Gemäuers?

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Sonntag, 5.Juli 1998

Laura stellt sechs pralle, blaue Plastiksäcke vor die Haustür. Darin Pullis, Blusen, Blazer. Auch abendlicher Fummel ... very chic. Endlich hat sie sich getrennt. Die Sachen passen ihr nicht mehr. Sie hat zugenommen. Zwei minikurze Ledermäntel sind mit in den Beuteln. Der eine leuchtend pink, einer taubenblau ! Mit kostbar-verspielten Applikationen. Und eine Mink-Imitat-Jacke. Weiß. Amerikanisches eben. Kalifornisches.

Es sind gute Stücke. Es hängen gute Gefühle daran. Erinnerungen an Lebensabschnitte. Ehefrau ist sie gewesen. Geliebte. Mutter. Geschiedene. Witwe. Verlassende und Verlassene. Amerikanerin. Weltbürgerin? Eher eine, die es hierhin und dahin verschlagen hatte im Lauf der vielen Jahre und die sich arangierte. Mit Lust? Notgedrungen? Das übliche eben. Ein übliches Frauenleben von heute. Und jetzt wieder zu Hause. Deutschland. Bei den Wurzeln, die keine sind.

Sie schleppt die blauen, prall gefüllten Plastiksäcke die drei Treppen hinunter nach draußen. Ach, Kleider ... sie waren die Gefährten schönerer, unbeschwerterer Tage!

Dazu Schuhe. Verrückte Schuhe. Die meisten wie neu. Sie hat die Paare jeweils mit goldener Schnur zusammengebunden. Viele Paare. Weil auch ihre Füße fleischiger und um zwei Nummern größer geworden sind. Nie mehr wird sie diese Dinger tragen können. Lange hat sie sie nicht aufgeben wollen, hat sie von einem Schrank in den anderen geräumt.

Morgen früh findet eine Straßensammlung statt. Das Rote Kreuz wird die Säcke abholen. Oder ist es die Caritas? Laura hat gehört, sogar bei gemeinnützigen Vereinen werde am Ende das meiste eingestampft und recycled. Schade! Aber sie hofft, dass Bedürftige, oder einfach nur neugierige Leute sich ihre Sachen heimlich aus den Plastiktüten herausfischen. Es sind wirklich hochwertige, auch dezente Stücke darunter. Edle Pullis, Markenhosen. Höchstens im Schutz der Dunkelheit wagen sich Menschen an die Altkleidersäcke heran. Die Leute schämen sich. Laura wäre froh, wenn viele sich interessieren würden.
Und wenn sich jemand die Sachen nur unter den Nagel reißen sollte, um sie auf dem nächsten Flohmarkt zu verhökern, das wäre ebenfalls okay.


Wichtig ist allein, dass es noch zu etwas taugt, ihr Zeug, an dem sie einst hing. Dass es jemandem dienen kann. Wenn es nur einer rettet und sich daran erfreut und nicht der Reißwolf es zerschreddet.

Laura stellt die Plastiktüten neben die Haustür und steigt wieder in ihre Wohnung hinauf..
Ab und zu steht sie während des Fernsehens auf, geht ins Nachbarzimmer, wirft neugierige Blicke durch das offene Fenster hinab auf die schwach von einer Laterne beleuchtete, schon fast nächtliche Straße. Hofft, dass sich jemand an den Säcken zu schaffen macht. Noch interessiert sich keiner dafür.

*

Montag, 6. Juli 1998

Um halb sieben am Morgen klingelt es bei Laura Sturm. Entgeistert fährt sie aus dem Bett hoch.
"Kommen Sie sofort herunter", brüllt Frau Utter durch die Sprechanlage, "betrachten Sie sich die Sauerei, die Sie angerichtet haben ..."
Laura hat keine Ahnung, wovon die Frau redet. Sie zieht die Jalousie hoch. Sieht vor dem Haus das entzwei gerissene Textilzeug aus ihren blauen Säcken. Wie eklige Innereien ist es hingezerrt, hingeschleift über Trottoir und Straße. Ein hundert Meter langer Pfad aus angekokelten, zerfledderten, in den Dreck getretenen Lumpen. Ein Bild, das Lenas Nerven spontan mit auseinandergezogenen Schweinedärmen assozieren ...

"Jeder halbwegs vernünftige Mensch stellt seine Kleidertüten erst am Morgen hinaus, kurz bevor sie abgeholt werden ... aber Madame kommt ja nicht aus dem Bett ...?" tobt Frau Utter durch die Sprechanlage, "eine alte Närrin sind Sie ... bewegen Sie gefälligst augenblicklich Ihren fetten Hintern nach unten, Frau Kilby, und räumen sie diesen stinkenden Mist vor unserem Haus weg, sonst kann der Herr Weinmann nämlich SEHR unangenehm werden."

"Ich komme schon", sagt Laura müde und resigniert. Und bitter enttäuscht. Man hat ihre Kleider verschmäht, verworfen wie den letzten Dreck.
Unten stolziert Gabi Utter angewidert auf dem Trottoir hin und her und wartet, ob Laura auch wirklich herunter kommt. Auf der anderen Straßenseite recken die italienischen Nachbarinnen die Köpfe aus den Fenstern.

Laura zieht schnell etwas über, läuft vor die Tür, rafft zusammen, was an angekohlten Fetzen von ihrer Garderobe noch übrig ist. Fingert da im Dreck herum, klaubt das ruinierte, einst farbenfrohe Zeug auf, Stück für Stück. Wickelt es dann in die Überbleibsel der Plastiksäcke. Schleift am Schluß alles durch den steinernen Flur zum Hinterhof. Hievt es in die zwei Abfalltonnen, die dort stehen.

"Sie wissen, dass das verboten ist!", schreit Frau Utter. "Meinen Sie, Sie können unsere hauseigenen Container für ALLES benutzen, da passt dann sonst nichts mehr hinein und die Müllabfuhr kommt erst am Freitag ... wohin sollen denn die anderen Mieter ihren Ab..."
"Dann holen doch Sie die Sachen wieder heraus, ich überlasse das ganz Ihrer Tatkraft ", sagt Laura und zieht sich am Geländer nach oben. Ihre Knie zittern.


"Das wird ein Nachspiel haben", fistelt die Utter hinter ihr her. "Der Herr Weinmann wird das gar nicht gern hören und seine Konsequenzen ziehen ... ich sag Ihnen das, weil ich es gut meine ... ich bin ja auch nur Mieterin und habe hier nichts zu melden!"

Die verlogene, schleimige Schlange.

Dabei wissen alle im Haus, dass sie den alten Mann längst in der Tasche und seinen Besitz auf ihrem Namen hat.


"Machen Sie sofort die Mülltonnen wieder leer ... sonst ... !" Gabi Utters Stimme überschlägt sich ...
Laura hört nicht hin. Jetzt braucht sie erst einmal oben in der Wohnung einen guten, tröstenden Frühstücks-Espresso. Mit viel Zucker.

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Dienstag, 7. Juli 1998. Gegen vier Uhr morgens

"Bitte kümmert euch um mein Pferd", sagt Joe, der Westernheld, dem der Comantschenpfeil im Herzen steckt.
"Ja ... das tun wir, buddy. Versprochen." Seine Kumpel nicken ernst.
Dann stirbt der junge Cowboy ohne irgendein Getue. Direkt vor Lauras Augen.

Laura weint, weint über die ganze Welt, weint über das Universum, weint über all die sinnlosen Tragödien, die sie schon am eigenen Leib, bei nahestehenden Menschen, in ihrer weiteren Umgebung, oder in den Nachrichtensendungen erlebt hat, die sie morgen, übermorgen und immer weiter erleben und erfahren wird. Sie weint, während die Sonne hinter den Gipfeln der Rocky Mountains blass und fahl hineinwächst in einen neuen, gleißend heißen Tag ...

Später, zur Mittagszeit läuft bei Laura noch der Fernseher. Auch geht sie nicht ins Bad, um zu duschen und sich zurecht zu machen. Sie bleibt, entgegen ihrer Gewohnheit, im Bett liegen.
Reglos.


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Copyright Irmgard Schöndorf Welch







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Copyright Irmgard Schöndorf Welch, 11.08.2003
bearbeitet am 11.06.2005


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Foto ist Eigentum von Irmgard Schöndorf Welch und von mir bearbeitet
 
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Kommentare  

Ich bins nochmal, Robert,

Jetzt begreife ich, dass Du den Text der Siziliengeschichte ziemlich kurz und nichtssagend gefunden hast. Ich hatte nämlich 14 Seitern gepostet, und als der Text dann hier auf webStories freigeschaltet war, tauchten gerade mal knapp 2 Seiten auf. Eine Technische Panne anscheinend. Ich habs gerade jetzt erst einen Tag später, gemerkt.

Gruß
Irmgard


Inulove (15.10.2003)

Danke Robert Short
dass Du meine Geschichte "Lauras Woche" gelesen und dass sie Dir gefallen hat.

Die 42 Sizilien-Story, wie Du es ausdrückst, ist eigentlich die 42. Fortsetzung eines Romanes, der von einer Kindheit und einem Erwachsenwerden handelt. Sie fängt an mit :"Wie Spuren im Staub", "dann das Leben", und "Sizilien". Die Reihenfolge siehst Du nur an den Nummern, die vor jedem Teil stehen. Na ja...immer mal wieder stell ich eine neue Fortsetzung ins Netz...

Aber Danke fürs Lesen und Deinen Kommentar.

Liebe Grüße
Irmgard


Inulove (15.10.2003)

Hallo Irmgard,

deine Story hat mir gut gefallen. Am Anfang war ich zwar etwas ratlos, aber wenn man dranbleibt und weiterliest...ich glaube, ich weiß, was Du ausdrücken wolltest. Die Geschichte regt auf jeden Fall zum Nachdenken an.
Habe mir auch deine "42 Sizilien" Story durchgelesen. Zu der muss ich jedoch sagen: zu viele Schilderungen von persönlichen Eindrücken, die Story, sprich eine Handlung fehlt. Könnte man vielleicht noch einbetten.
Noch viel Spaß beim Schreiben
Liebe Grüsse


Robert Short (15.10.2003)

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