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5 Seiten

Ein Tag im Herbst

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
Claudia
Der Wind braust durch ihr Haar, erfasst es und wirbelt es herum. Total zerzaust steht sie da und wartet auf den Bus. Es ist Oktober und es ist Herbst. Früher hat sie den Herbst geliebt. Die wahre Natur der Blätter kommt zum Vorschein, rot, gelb und braun. Eichhörnchen und andere Lebewesen sammeln ihre sieben Sachen zusammen und stellen sich auf den Winter ein. Doch dieses Jahr findet sie ihn nicht mehr so akktraktiv wie die Jahre zuvor. Es kommt ihr alles grau in grau vor. Der Wind peitscht und fegt über die Straße, lässt nichts da wo es liegt. Dabei hatte der Herbst erst begonnen und schon hasste sie ihn, wie alles in ihrem Leben. Plötzlich flattert ein nicht mehr sehr aktuelles Tagesblatt an ihrer Nase vorbei.

Oliver
Er flucht. Er hasst den Herbst. Die Menschen sind noch weniger freundlich als sonst. Im Frühling, ja im Frühling da sind sie fröhlich, spüren alle schon die ersten Sonnenstrahlen in ihren Herzen. Und dementsprechend locker sitzen auch ihre Brieftaschen. Aber im Herbst, da haben sie die Mantelkrägen hochgezogen und lugen gerade noch mit den Augen raus. Die Hände sind tief in den Taschen vergraben, keine Zeit für Oliver, für einen Bettler. Ja das ist er, ein Bettler. Nicht schwer zu übersehen. Vor einem Jahr noch hätte man ihn für einen Ausreißer halten können aber nun sieht man es ihm an. Die Haare verfilzt, das Gesicht verschmiert, Kleidung die schlecht sitzt und ohne Zweifel aus zweiter Hand ist. Doch das alles kümmert ihn nicht. Viel mehr ist er gerade damit beschäftigt seine Habseligkeiten zusammen zu halten. Die sind nicht gerade viel. Fünf Zeitungen, eine große Schachtel, drei Plastiksackerln, gefüllt mit irgendwas, und ein paar abgelatschte aber noch völlig intakte Schuhe. Soeben ist ihm aber ein nicht mehr sehr aktuelles Tagesblatt weggeflogen. Er wollte es lesen und anschließend vorsichtig zusammenfalten und in eine seiner Plastisackerln stopfen. Doch jetzt ist es weg. Er flucht.

Claudia
Sie blinzelt. Dieser Wind trägt alles vor sich her - wirbelt alles in die Luft, lässt es Looping drehen und dann zu Boden schmettern, um nach wenigen Sekunden von vorne zu beginnen. So fühlt sie sich: Herumgewirbelt und am Bodenzerschmettert. Bernhard wirft es ihr zumindest vor. Einmal Himmel-hoch-Jauchzend und dann Zu-tode-Betrübt. Er könne nicht mehr. Dieses einemal war zu viel. Er hat ihre Wutausbrüche satt. Er hat sie satt.
Ein Mann flucht. Sie wird aus den Gedanken gerissen. Nein, es ist kein Mann, vielmehr ein Junge, der in etwa in ihrem Alter sein musste. Er sieht verwahrlost aus. Sie blickt weg, weil er in ihre Richtung unterwegs ist. Sie kann ihn nicht so anstarren. Schon als Kind wurde es ihr verboten andere anzustarren. Doch sie muss hinsehen. Sie blickt in seine Augen. sie sind grün. Bernhard seine sind auch grün, denkt sie noch und senkt die Ihrigen, bevor er sie anrempelt.

Oliver
Er sprintet los, noch während seinem Fluch, der ihm durch geschlossene Zähne entfährt. Er kann es sich nicht leisten, die gute große Zeitung entkommen zu lassen. Doch da steht dieses Mädchen, das ihn unverfroren anblickt. Sie hat braune Augen. Er sieht sie und schon ist es geschehen. Er rempelt sie an. Sie taumelt rückwärts. Er bleibt nicht stehen, dreht sich nicht einmal mit einem um Entschuldigung bittenden Gesicht um. Er läuft weiter der Zeitung hinterher.

Claudia
Ohne es zu wollen verliert sie das Gleichgewicht und landet mit ihrem Hintern auf den kalten Pflastersteinen. "Setz dich niemals auf kalten Stein", hört sie ihre Mutter tadeln. Ach Mutter. Tränen treten ihr in die Augen. Energisch wischt sie sie weg. Keine Tränen mehr, geweint hat sie genug. Bernhard denkt ihre Tränen seien nur ein Trick. Ein Trick, den sie anwendet, um sein Herz ihr gegenüber wieder weich zu klopfen. Doch sie kann nichts dafür. die Tränen kommen, so wie die Wut und der Schmerz einfach scheinbar ohne Grund über sie kommen. Sie kann es nicht erklären. Kann es ihm nicht erklären. Ihre Mutter hat es nicht erklären können. Ist sie wie ihre Mutetr? Man sagt doch, der Apfel falle nicht weit vom Stamm. Wenn das so ist, dann blüht ihr wohl dasselbe Schicksal. Hatte ihre Großmutter auch dasselbe Schicksal? Es musste ja so sein. Aber nein, Großmutter wurde über 70 und ist eines natürlichen Todes gestorben. Ihre Mutter nicht. Ihre Mutter hat den Freitod gewählt, wie es der Seelsorger ausgedrückt hat. Sie ist jetzt nicht im Hinmmel, weil dort kein Platz für Selbstmörder ist. Die müssen eine Etage tiefer. Bernhard weiß nicht, dass ihre Mutter in der tieferen Etage haust. Wenn sie es ihm sagen würde, würde er sie dann verstehen?
Ein älterer Herr will ihr hoch helfen. Sie blickt ihn verständnislos an und merkt erst jetzt, dass sie noch immer auf dem kalten Pflaster sitzt. Sie lehnt ab und rappelt sich hoch. Der Bus kommt und er fähr wieder.

Oliver
Was tat er? Er hechtet einer alten Zeitung hinterher, vielmehr einem einzigen Blatt. Abrupt bleibt er stehen. Er dreht sich um, das Mädechen sitzt noch immer auf den kalten Pflastersteinen und starrt vor sich hin. Sollte er ihr aufhelfen? Nein, ein Mann nimmt ihm die Arbeit ab. Auch gut.
Vor genau einem Jahr und neun Monaten ist er weg. Er ist weg von seinen Eltern und Geschwistern. Er hat das Kaff von einem Dorf hinter sich gelassen und ist in die große alles bietende Stadt abgehauen. Leider hat sich diese alles bietende Stadt zum Großstadtdschungel, in dem man sehr schnell verloren geht, entpuppt. Er ist verloren gegangen. Am Anfang hat es irgendwie noch Spaß gemacht. Er hatte noch Geld, die gesamten Ersparnisse seiner Eltern. Er hatte neue interessante Leute getroffen und die Liebe gefunden. Es hatte seinen Reiz, das unbekümmerte Leben. Doch alles hat ein Ende. Der Geldtopf war ausgeschöpft und mit ihm waren die Leute verschwunden. Die wenigen die blieben, wirken nun nicht mehr so interessant. Und seine Liebe hat sich als kurzfristige Leidenschaft herausgestellet, die genau so schnell verflog wie sie gekommen war. Manchmal denkt er noch an sie, an seine Eltern. Er hat die Suchmeldungen, die ihm gegolten haben, gesehen und gehört. Vor drei Monaten haben sie aufgehört, nicht einmal eine Fußzeile ist er mehr wert. Irgenwie fühlt er sich jetzt einsam, jetzt wo ihn keiner mehr vermisst. Haben ihn seine Eltern, Brüder und Freunde vergessen? Oder warum sucht niemand mehr nach ihm?

Claudia
Der Wind braust noch immer um ihre Ohren. Langsam wird ihr kalt. Sollte sie nach Hause gehen? Aber wo ist das jetzt? Zu ihrem Vater will sie nicht. Er hat ihre Mutter gehasst, ist nicht einmal zu ihrem Begräbnis gekommen. Vielleicht sollte sie zu Bernhard gehen und ihm alles erklären. Sie weiß nicht warum sie es ihm nicht erzählt hat, das mit ihrer Mutter. Er weiß nicht viel über sie. Er glaubt sie habe keinen Kontakt zu ihr gehabt. Ihr letztes Treffen liegt Monate zurück und da haben sie sich im Streit getrennt. Doch jetzt wo sie weg ist, endgültig weg, vermisst sie ihre Mutter. Sogar ihre Tadeleien, die im Nachhinein betrachtet doch eher nach wohlgemeinten Ratschlägen klingen. Sie fühlt sich allein gelassen. Verdammt eine Mutter darf ihre Tochter doch nicht allein lassen. Mit dem Gedanken, dass sie nie wieder ihre Wärme spüren wird, fängt sie an zu laufen. Sie merkt nicht, dass sie in dieselbe Richtung läuft wie der Junge zuvor.

Oliver
Verdammt, denkt er noch und bleibt stehen, außer Atem. Die Zeitung ist weg. Ob er zu seinen Eltern zurück gehen sollte? Aber das wäre wie den Schwanz einziehen und mit hängenden Ohren ankriechen. "Das macht ein richtiger Mann nicht", hört er seinen Vater sagen. Er kann schon den Spott hören, der ihm von den Bewohnern des Dorfes entgegen kommt. Nein, das wird er sich nicht antun. Viel lieber geht er hier in der anonymen Stadt unter. Und wenn es ihm das Leben kosten sollte. Er dreht sich um und in diesem Moment läuft das traurige Mädchen an ihm vorbei. Ohne darüber nachzudenken setzt er sich in Bewegung und folgt ihr.

Oliver und Claudia
Beide laufen sie in eine Richtung. Sie blicken nach vorne und schnaufen. Sie gelangen zu einem Park, aber sie laufen nebeneinander weiter und jeder in seinen eigenen Gedanken versunken, die immer mehr Gestalt annehmen und am Ende nicht sehr unähnlich sein werden. Dass es zu regnen beginnt, registrieren sie nicht; dass es dämmert, registrieren sie nicht. Das einzige das gleich geblieben ist, ist der Wind, der noch immer ungeachtet die Blätter in die Luft wirbelt.
Abrupt bleiben sie stehen. Sie stehen vor einem Haus. Vor dem höchsten Haus der Stadt - zweihundertundzehn Meter hoch.

Claudia
Der Junge ist noch immer neben ihr, unglaublich aber wahr. Sie sieht ihn an. Seine Augen, sie wollen etwas sagen aber sie kann es nicht erkennen. Oder geben sie einfach nur das Einverständnis zu dem Vorhaben, an das sie gerade gedacht hat? Es kann nicht sein, sie haben kein einziges Wort gewechselt. Ihre Mutter aber hat einmal behauptet, dass ein jeder Mensch einen Seelenverwandten hat. Man brauche ihn nicht zu suchen, meinte sie, er komme dann von selbst. Ist ihr Seelenverwandter dieser Junge? Bald wird sie es wissen. Sie blickt ihm wieder in die Augen.

Oliver
Er weiß auch nicht so genau warum er neben ihr herläuft. Er hat seine noch vor kurzem gut behüteten Habseligkeiten einfach fallen gelassen und ist ihr hinterher gelaufen. Was musste sie denken? Aber jetzt ist er nun mal hier, hier mit ihr vor dem Hochhaus.
Diese Augen, denkt er. Er senkt die Seinigen, weil er meint die Augen sehen ihm bis in die Seele hinab und stöbern jenen Gedanken auf, vor dem er sich die letzten Wochen immer schon gefürchtet hat. Aber zu spät, der Gedanke dringt immer weiter an die Oberfläche und kratzt gerade beängstigend an dem letzten dünnen Häutchen, das sich Verstand nennt. Er wird mit ihr hinaufgehen. Sobald sie den ersten Schritt macht, wird er ihr folgen. Und als er sie anblickt und er ihren Blick erhascht, senkt er nie wieder die Augen zu Boden.

Claudia und Oliver
Die Tür ist offen, mühelos kommen sie in das Innere des Gebäudes und genauso mühelos in das Stiegenhaus bis auf das Dach hinauf. Der Regen hat aufgehört aber der Wind braust stärker denn je um ihre Ohren. Sie stemmen sich dagegen und treten bis zum Rand vor. Noch ein letztes Mal das Einverständnis in den Augen des anderen lesend machen sie die letzten Schritte ins Leere.

Oliver
Der letzte Schritt. So leicht ist er zu machen. Er hat keine Angst, sie ist ja da und hält seine Hand. Er denkt sich an den Tag zurück bevor er abgehauen ist. Er tut so als würde es von da an wieder weitergehen, so als hätte dieser armselige Abschnitt in seinem Leben gar nicht statt gefunden. Das Kapitel wird neu geschrieben. Und es ist ein schönes Gefühl.
Er lächelt sie an, bevor er auf dem Asphalt aufschlägt.

Claudia
Nie hätte sie gedacht, dass es so einfach ist ins Leere zu treten. Sie dachte es würde sie dann irgendein innerer Zwang daran hindern, diesen Schritt zu tun aber sie verspürt nicht einmal Angst. Vielmehr ist sie unenendlich erleichtert endlich wie ein Vogel zu schweben und frei zu sein und endlich zu ihrer geliebten Mutter hinübergleiten zu können.
Sie lächelt ihn an, bevor sie auf dem Asphalt aufschlägt.
 
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Kommentare  

Interessant. Ich dachte schon, das wird auch so eine von den schmalzigen Geschichten, doch diese Story ist anders. Ich kann das Verhalten der beiden zwar nicht ganz nachvollziehen, aber es ist gut geschrieben.

Chris Stone (26.02.2005)

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