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Sigiriya, eine Legende aus alter Zeit

Fantastisches · Kurzgeschichten
Wir haben uns einem Ort genähert, der unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, dem Löwenfelsen Sigiriya. Das ist ein zweihundert Meter hoher Monolith in der sonst recht ebenen Landschaft hier in der Mitte Sri Lankas: trutzig wie eine Burg mit senkrecht aufstrebenden Wänden, erst von kilometerweiten Gärten und dahinter von der Wildnis Sri Lankas umgeben.
Wir haben die rund zweihundert Meter hohe Gesteinsmasse über hoffnungslos überfüllte und schwankende Wendeltreppen und unebene Stufen erklommen und stehen auf ihr, erschöpft, in von Schweiß und leichtem Regen getränkter Kleidung und sind atemlos und haben dennoch wie Eroberer den Blick in die Ferne gerichtet, an den Horizont geheftet, als erwarteten wir die Wiederkehr der unglaublichen Ereignisse, die sich hier vor etwa tausendfünfhundert Jahren zugetragen haben. Vor dieser Zeit und danach hat sich hier nichts Erwähnenswertes ereignet. Es schaut geradezu danach aus, als wäre dieser sechs Millionen Tonnen schwere Klotz nur um dieser einen Geschichte wegen in die Welt gesetzt worden. (Vermutlich haben sich aber hier in "Lanka" schon zu grauer Vorzeit Ereignisse um den Affengeneral Hanuman und Rama zugetragen. Das ist jedenfalls dem Ramayana, einem großen indischen Epos, zu entnehmen. Soweit die Mythologie.)

Hier begab sich vor langer Zeit jenes eine Ereignis, das verdient, immer wieder erzählt zu werden, damit es der Nachwelt erhalten bleibt. Viele Nacherzählungen, Deutungen und Interpretationen gibt es. Unzählige Wissenschaftler und Geschichtenerzähler haben versucht, die Geschehnisse um Sigiriya in ein "richtiges" Licht zu rücken. Ich will hier die Historie so erzählen, wie sie sich auch zugetragen haben könnte.

Es lebte und herrschte einst König Dhatusena in Anaradhapura, der Hauptstadt des Inselreichs. Es war kein zimperlicher Potentat, ließ er doch seine Schwester öffentlich lebendig verbrennen.
Sein ältester Sohn war Kasyapa, der einer Verbindung mit einer nichtadligen Nebenfrau entsprang. Ein anderer Sohn entstammte der königlichen Linie mit der Hauptfrau Dhatusenas. Er war daher königlichen Bluts und irgendwann Erbe des Throns. Sein Name war Mogellana.
Kasyapa befürchtete, wegen seiner niederen, unehelichen Abstammung nicht Thronfolger werden zu können. Bevor König Dhatusena die Nachfolge zu Kasyapas Nachteil regeln konnte, bemächtigte er sich seiner, legte ihn in Ketten und ließ ihn lebendig einmauern. Seinem Halbbruder drohte er mit dem selben Schicksal. Aber Mogellana gelang mit ein paar Getreuen die Flucht nach Indien, wo er sich in den folgenden Jahren bemühte ein Heer aufzustellen, um sein Recht auf die Thronfolge von seinem Bruder zu erstreiten.
Kasyapa hörte davon und lebte fortan in großer Angst. Er glaubte gottähnlich zu sein und war dem Wahnsinn nahe. Daher beschloss er, die traditionelle Hauptstadt Anaradhapura zu verlassen und hoch oben auf dem Felsen Sigiriya eine Zitadelle zu errichten, die uneinnehmbar sein würde, weil von drei Seiten die Felswände nahezu senkrecht zweihundert Meter in die Höhe stiegen. Die vierte Seite führte zunächst zu einem Plateau, das sich auf halber Höhe zur Zitadelle befand. Der Weg dorthin war über einen schmalen Pfad mit einer schützenden Mauer aus spiegelndem Muschelkalk zu erreichen. Auf dieser Hochfläche, direkt an der Felswand, ließ Kasyapa einen monumentalen Löwen errichten. Alle Besucher der Zitadelle mussten zwischen den mehreren Meter hohen Löwenpranken hindurch, um über viele hohe Stufen aus seinem Maul wieder herauszukommen. Danach konnte der Gang über den steilen Fels zu dem Gipfel fortgesetzt werden. Das alles verlangte viel Mut, denn der riesige Löwe wirkte einschüchternd. Ausdauer und Kraft waren ebenso für die Bezwingung des Massivs erforderlich. Die Zahl der Besucher mag sich so in Grenzen gehalten haben. Es ist nicht überliefert, ob Kasyapa jemals Besuch von seiner Schwiegermutter erhalten hat.
Die Geschichte berichtet von einem hohen Palast aus Marmor, Edelsteinen und edlen Hölzern, der oben auf Sigiriya stand und von 477 bis 495 unserer Zeit Kasyapas Regierungssitz war. Sieben Jahre wurde an ihm gebaut und achtzehn Jahre waltete der König mit milder Hand von hier aus. Die Gegend um den Löwenfelsen wurde von ihm so weit das Auge reicht mit Parks, Wasserspielen und Teichen geschmückt. Sie gelten noch heute als die ältesten Parkanlagen Asiens. Am Horizont schimmerte ringsum der geheimnisvolle Dschungel. Bei Dunkelheit wurde die gesamte Anlage von Fackeln und Feuern beleuchtet. Das muss schon von Ferne her ein überwältigender Anblick gewesen sein.

Täglich jedoch hielt Kasyapa von seinem hohen Hort Ausschau nach dem Unausweichlichen, seinem Schicksal, seinem Halbbruder.
Vermutlich sah er im Jahre 495 von seinem Palast das Heer des Mogellana in der Ferne nahen.
Kasyapa war wie von Sinnen, und das Blut raste in seinen Adern. Panik bemächtigte sich seiner Handlungen und lähmte seinen paranoiden Verstand.
Der König begab sich mit seinen Kriegern hinab auf die Ebene vor Sigiriya und traf dort auf das übermächtige Heervolk seines aus Indien heimgekehrten Halbbruders. Die Ebene war, so weit das Auge in der vor Hitze flirrenden Luft reichte, gefüllt mit Kampfelefanten und Soldaten. Die Parkanlage war zertrampelt, die Erde bebte unter dem Stampfen der vielen Dickhäuter. Die beiden Armeen, angeführt von den Elefantenheeren, prallten aufeinander. Speere und Lanzen flogen durch die Luft. Als der Elefant Kasyapas versehentlich vor einem Sumpf scheute, ausbrach und weglief, war dieses das Signal für seine Getreuen, die Schlacht für verloren zu halten und die Flucht zu ergreifen. Als der fassungslose Kasyapa das sah und erkannte, dass die Schlacht und sein Leben verloren waren, nahm er seinen Dolch, durchschnitt sich die Kehle, steckte den Dolch wieder in die Scheide und starb auf dem Rücken seines Elefanten.
Wären Kasyapa und seine Getreuen auf der uneinnehmbaren Zitadelle auf dem Felsen Sigiriya geblieben, wäre der Verlauf der Geschichte ein anderer gewesen.
Sigiriyas rühmliche Episode endete mit dem Tod Kasyapas. Der siegreiche Mogellana machte wieder Anaradhapura zur Hauptstadt.

Der „Löwenfelsen“ wurde nicht sofort vergessen. Noch etwa bis in das Jahr 1000 zog er Besucher an, die die schöne Aussicht bewundern wollten. Erst danach verschwanden Palast und Berg mehr und mehr aus dem Gedächtnis der Menschen und gerieten letztendlich in Vergessenheit. Der Dschungel bemächtigte sich der Gärten und deckte alles fast ein Jahrtausend lang zu. Erst vor hundertfünfzig Jahren wurde die Anlage durch Zufall von einem britischen Jäger entdeckt.

Trotz seines Wahnsinns und seiner Mordtat kann dieser König doch beispielhaft sein für alle Regenten, die einen kleinen Zipfel der Erde beherrschen. Er kämpfte seine Schlacht an der Seite, ja an der Spitze seiner Männer und wählte den Tod, als die Niederlage unausweichlich war. Diese Handlungsweise war offensichtlich bis zum Ende der Kreuzzüge so üblich. Den Tod hätte Kasyapa auf jeden Fall gefunden, spätestens durch die Waffe seines Halbbruders. Wäre dieser Tod aber dann auch noch so bedeutungsvoll, dass wir heute darüber berichten würden? Macht nicht erst dieser spektakuläre Suizid die Angelegenheit erwähnenswert?
Auf der Erde gab und gibt es viele Herrscher, auch reichlich davon ohne Verstand und mit einer schlimmen Vita. Fast alle haben irgendwelche Kriege geführt oder angestiftet und Massen dem Tod geweiht und wussten sich im Falle eines Sieges hemmungslos zu bereichern. Das Kontobuch der Kriege ist einfach zu führen: Der eine zahlt mit Leben und Gesundheit und bekommt nichts, der andere kassiert.
Wäre es heute noch wie zu Kasyapas Zeit Sitte, die Potentaten, Könige, Präsidenten oder Fürsten an die Spitze ihrer Armeen zu stellen, gäbe es vermutlich keine Kriege mehr.

Heute ist von dem Palast auf der Spitze des Felsens nicht mehr viel vorhanden. Dennoch lohnt sich der strapaziöse Aufstieg wegen der Wolkenmädchen, der Wasserspeicher und der Fragmente und nicht zuletzt wegen der einmaligen Aussicht über die schöne Landschaft.

Mit dem Wort Sri Lanka verbinden meine Gedanken Dschungel, Wasserfälle, Strände, Palmen, jahrhundertealte Bewässerungssysteme, den Geschmack von Reis, Tee und Curry, den Duft von Blüten und Gewürzen, das Funkeln von Edelsteinen, alte Kulturen und fröhliche, immer freundliche Menschen. Und gelegentlich beim Lesen der Zeitung ist in meinen Gedanken Kasyapa allgegenwärtig.

©Heinz Albers, 25.02.2003

http://www.heinz-albers.de
heinz@heinz-albers.de
 
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Kommentare  

Schliesse mich der Meinung von Redfrettchen an

Dr. Ell (26.09.2009)

Sehr interessant, zumal ich davon noch nie gehört habe. Man hätte den Mittelteil noch etwas ausbauen können, ein bisschen Spannung hätte noch gefehlt.
Ist eine Abwechslung zu den anderen Geschichten.

4 Punkte


Redfrettchen (08.11.2003)

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