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11 Seiten

Imhotep, der Junge aus Heliopolis - Kapitel 14

Romane/Serien · Spannendes
Kapitel 14 – Das Volksfest


Wochen waren vergangen, ohne dass es nur für einen Augenblick zu regnen aufgehört hatte. Der Monsun schien einfach nicht enden zu wollen. Die Sonnenbarke und die Transportschiffe sowie das militärische Geleit, steuerten in strömenden Regen unermüdlich gen Norden. Nur wenige Wochen später würden sie schließlich das Nildelta erreicht haben und die großen Pyramiden sehen. Erst am späten Nachmittag, als ein geeigneter Lagerplatz gesichtet wurde, befahl der Kommandeur Rahotep, bis zum Sonnenaufgang anzulegen, damit die Mannschaften etwas speisen und danach nächtigen könnten.
Zu Beginn war Anchesenamun noch erfreut über die Regenzeit gewesen und sie hatte es genossen, wenn der laue Regenguss über ihr Gesicht gespritzt und ihre Haarpracht durchnässt hatte. Dann war sie sogar übermütig mit ihren Zofen auf dem Bootsdeck im Kreis herumgetanzt. Aber mittlerweile blickte sie jeden Morgen, nachdem sie erwacht war, griesgrämig aus der Kabine und moserte, sie würde nicht eher herauskommen bis die Sonne wieder schiene. Nur Tutanchamun machte das stetige Regenwetter nichts aus und es hinderte ihn keineswegs daran, täglich nur mit seinem Lendenschurz, aus einem Tigerfell angefertigt, auf dem Bootsdeck barfüßig anwesend zu sein, wobei ihm sein Nemes-Kopftuch klatschend anlag. Oftmals fischte er mit seinem Kompositbogen oder übernahm persönlich das Steuerruder und ließ sich von Rahotep über die Schiffsführung belehren. Manchmal sprang er sogar einfach kopfüber in den Fluss und schwamm zu einem der Transportschiffe hinüber, um mit seinen anderen Gefolgen zu plaudern. Der Pharao war sich sogar nicht zu schade dafür, einen der Männer abzulösen und selbst das Ruder in die Hand zu nehmen. Etwas Bewegung täte ihm gut, außerdem strebe er einen gestählten Oberkörper an, sagte Tutanchamun, als Rahotep und die Königin wieder einmal protestierten und ihm seinen Firlefanz auszureden versuchten. Ein lebender Gott sollte sich nicht zu dem einfachen Volk gesellen, meinten sie.
Gemeinsam mit ihrem Pharao das Ruder schwingen zu dürfen, empfand die Mannschaft als eine außerordentliche Ehre, und auch wenn so einige Ruderer erschöpft waren, motivierte Pharaos Anwesenheit ungemein, die königliche Sonnenbarke weiterhin mit vollen Kräften voranzutreiben. Dann stimmte Tutanchamun ein Volkslied an und jeder sang lautstark mit, wobei die Männer die Ruder gleichmäßig ins Flussbett eintauchten. Abends bei Kerzenschein hockten Tutanchamun und Anchesenamun im Schneidersitz auf ihrem Bett, holten das Senet-Brettspiel hervor und spielten eine Partie nach der anderen, bis spät in die Nacht.

Tutanchamun lehnte sich über die Reling hinaus und zielte mit seinem gespannten Kompositbogen konzentriert auf das prickelnde Flusswasser. Plötzlich erhaschte er die Rückenflosse eines silbern schimmernden Fisches, der sich knapp über der braunen Wasseroberfläche schlängelte und sogleich wieder abtauchte. Tutanchamun schoss und der Pfeil zischte ins Wasser. An das Pfeilende hatte der Pharao eine geflochtene Flachsschnur gebunden und zog nun hastig daran. Tatsächlich, der Pfeil hatte ein wahres Prachtstück durchbohrt.
„AAHAHAHAHAA! Ich hab einen! Ich habe wieder einen erwischt!“, jubelte der junge König und hielt mit beiden Händen einen großen, zappelnden Fisch in die Höhe. Sein mittlerweile schulterlanges Haar haftete klatschnass an seinem Kopf. Die ebenso triefnassen Ruderer brüllten vor Freude, applaudierten und beglückwünschten den Pharao für seinen majestätischen Fang und lobpreisten seine Trefferquote. Fisch war zwar nur die Nahrung der Armen, aber Tutanchamun genoss es, Fisch zu speisen und lud die Mannschaft stets ein, nachdem er seinen Fang persönlich ausgenommen und mitten auf dem Bootsdeck über einer Feuerstelle zubereitet hatte. Der junge Pharao eilte in die Kabine und zeigte Anchesenamun, deren lange Haarpracht gerade von den Zofen Chenut und Neferu gebürstet wurde, stolz seine pfeildurchbohrte Beute, die nun ein letztes Mal aufzuckte. Seine klatschnassen Haare trieften. Regentropfen perlten von seinem nackten Oberkörper und sickerten in die Läufer.
„Ach, Großer Pharao. Gib doch Obacht auf meine schönen Teppiche. Du machst alles ganz nass!“, schimpfte die Königin.
„Heute gibt es Fisch, meine Damen. Fisch, was sagt ihr dazu?“
Anchesenamun rümpfte die Nase. „Etwa schon wieder Fisch? Tut, wenn du mich beeindrucken willst, dann erlege eine Antilope oder wenigstens eine Nilgans. Verfüttere meinen Anteil an die Katzen. Die mögen es genauso wie du, Gräten zu spucken“, antwortete sie schnippisch und gab ein Handzeichen, dass Chenut sie weiter bürsten sollte.
Plötzlich hörte es zu regnen auf und die Sonnenstrahlen durchstachen die dunklen Wolken, wie sachte Degen. Die dauerhafte Regenzeit, der Monsun, war nun endlich vorüber. Tutanchamun war darüber so erfreut, dass er sich diesmal auf die Reling stellte und einen Rückwärtssalto in den Nil machte. Er plumpste in das Wasser und ließ sich langsam, wie ein sinkendes Schiff, zum Grund hinab gleiten. Luftblasen sprudelten durch sein schulterlanges Haar und als er hinaufblickte, glitzerten seine Luftblasen im bräunlichen Wasser wie ein Diamantenschatz. Endlich schien die Sonne wieder. Tutanchamun tauchte auf und schüttelte sich das Nass aus seinem Haar.
„Juhuuu!“, rief er freudig. „Die Götter haben meine Gebete erhört und Aton wieder am Himmelszelt glänzen lassen. Juhuuu!“
Der Pharao war überglücklich, denn bald würde er das Mädchen vom Nilufer, Nefertiri, wiedersehen. Jedoch waren die Soldaten keineswegs erfreut. Sogleich umkreisten die militärischen Segelboote den leichtsinnigen Pharao, während die Bogenschützen in Stellung gingen und nach Krokodilen Ausschau hielten. Rahotep blickte entsetzt über die Reling. Er war der Kommandant dieser Mission und trug schließlich die Verantwortung für das Königspaar, hauptsächlich war er für das Wohlergehen des Pharaos verantwortlich. Sollte dem lebenden Gott nur die geringste Verletzung zustoßen, würde er daraufhin schmerzhaft zur Rechenschaft gezogen werden, möglicherweise würde er es gar mit dem Leben bezahlen müssen.

Obwohl Anchesenamun das Ende der Regenzeit ebenfalls herbei gesehnt hatte, wirkte sie dennoch bedrückt. Der Entschluss ihres Gemahls, dass er eine Nebenfrau zu heiraten beabsichtigte, bekümmerte sie insgeheim zutiefst, auch wenn sie letztendlich Tutanchamun ihren Segen zugesichert hatte. Neferu und Chenut bemerkten ihre Melancholie und beobachteten, wie die Königin traurig in die Silberschale blickte.
„Warum schaust du so betrübt drein, meine Königin?“, fragte Chenut verwundert. „Der Monsun ist doch vorbei, so wie du es dir erwünscht hast. Erfreue dich doch darüber, sei endlich wieder munter, damit auch wir wieder fröhlich sein können.“
Die jungen Zofen ahnten ihren wahren Kummer nicht, weil die Königin bislang nicht darüber reden wollte und Bürsa sie über diese Angelegenheit selbstverständlich nicht unterrichtet hatte. Was würde es auch ändern? Welchen klugen Ratschlag könnten ihre vertrauten, gleichaltrigen Zofen der Königin schon vorschlagen, damit der Pharao seinen Beschluss überdenken würde? In absehbarer Zeit würde eine einfache Frau aus dem Volk die Große königliche Gemahlin, die wahre Königin Ägyptens praktisch vom Thron stoßen, davon war Anchesenamun überzeugt. Ihr Gemahl war in das Mädchen vom Nil unsterblich verliebt, dies hatte sie mittlerweile eingesehen. Tutanchamun würde zukünftig in der Öffentlichkeit ausschließlich beiseite seiner Nefertiri auftreten, und Anchesenamun müsste jederzeit dezent hinter dem Königspaar hinterherlaufen. Ihr würde lediglich der Ehrentitel Große königliche Gemahlin und dessen Ansehen sowie Einfluss bleiben, aber insgeheim würde sie sich wie eine Nebenfrau fühlen. Neferu ließ die Bürste einfach fallen, kniete abrupt vor der Königin nieder und blickte sie flehend an.
„Bei der Göttin Bastet. Ja, meine Königin, wir wollen deinen Schmerz, welcher dich plagt, mit dir gemeinsam durchstehen. Verschließe dich niemals vor uns. Dein Leid möge auch unser Leid sein. Niemals könnten wir glücklich werden, wenn du es nicht bist!“, sagte sie und legte ihre Stirn demütig zum Boden nieder, sowie es auch Chenut tat.
Anchesenamun lächelte gezwungen, streichelte über ihre Köpfe und seufzte.
„Ach, es ist nur weil … Euer Pharao liebt mich nicht mehr und er wird in der Tat so töricht sein, eine Frau aus dem Volk heiraten.“
Chenut stand sofort auf, trat einige Schritte zurück und blickte die Königin erschrocken an.
„Niemals wird eine dahergelaufene Schnepfe aus dem Volk dich vertreiben, dafür werde ich schon sorgen. Meine Königin, ich werde dieses Miststück vergiften! Diese Last werde ich auf mich nehmen und bei meiner Verurteilung behaupten, dass ich aus persönlicher Abneigung handelte, somit würde man dich jeglicher Verantwortung entziehen. Damit du deinen Frieden hast, meine Königin, würde ich immerzu lächelnd meinem Schafott entgegen treten“, sprach Chenut entschlossen. Neferu erhob sich ebenfalls, blickte die Königin unheilvoll an und sagte: „Ich erbitte dich gnädig, meine Königin. Erlaube MIR, dass ich diese Hure für dich töten darf. ICH will für dich sterben! Lass es bitte mich sein, die für dein Wohlergehen sorgt und sich für dich opfert!“
Chenut blickte Neferu entrüstet an und schimpfte.
„Nein! ICH werde dieses Volksweib vergiften und werde für die Königin sterben. Und nicht du! Es war meine Idee, und nicht deine!“, wies die Zofe ihre Gleichgesinnte zurecht.
Anchesenamun hob daraufhin ihre Hand, um diesen Streit zu beenden.
„Oh, nein … Nicht“, erwiderte sie erschöpft. „Bitte nicht. Solch ein Unheil würde ich Tut niemals antun wollen. Niemals könnte ich es ertragen, wenn sein liebevolles Herz eines Tages vom Hass verzehrt wird. Euer Pharao würde mich daraufhin abgründig verabscheuen, weil er es ahnen würde, dass letztendlich ich für diesen Meuchelmord verantwortlich war. Außerdem könnte ich es nicht ertragen, wenn ich nur eine von euch verlieren würde. Ich will zuerst wissen, wer sie ist. Doch sollte sie Unruhe im Königshaus stiften, dann werde ich persönlich …“
Anchesenamun starrte nachdenklich in die Silberschale und schwieg. Plötzlich zerriss ein lautes Krächzen diesen andächtigen Moment. Tutanchamuns Papagei, der freilaufend auf seinem Käfig kraxelte und erhöht an einem Ständer befestigt war, meldete sich zu Wort.
„AHAHAHA. Ani, König lieb. König lieb. AHAHAHA. Ani, König lieb!“
Die Königin erhob sich von ihrem Schemel und schaute den Papagei erbost an.
„Halt deinen unverschämten Schnabel oder ich werde dich mit meinen Katzen in deinen Käfig einsperren. Mal sehen, ob du dann immer noch so frech lachst!“
Der Papagei neigte seinen Kopf seitlich und guckte die Königin mit seinen Knopfaugen nur an.
Anchesenamuns Katzen tigerten ständig um den Käfigständer herum und lauerten täglich nach einer Gelegenheit, das gefiederte Großmaul zu erlegen. Aber Tuts Papagei wusste sich stets zu helfen, krallte sich oftmals an den Gitterstäbe seines Käfigs fest, glitt kopfüber herunter und flatterte energisch mit seinen Flügeln, woraufhin die Katzen immer erschrocken flüchteten. Dann krächzte er: „AHAHAHA. Ani, König lieb. König lieb. AHAHAHA. Ani, König lieb!“
Anchesenamun mochte den Papagei zwar gerne aber sie hasste es, Ani genannt zu werden, insbesondere, wenn sie missgelaunt war. Diesen Unfug hatte ihm zweifelsohne sein Herrchen beigebracht, genauso wie diese freche Lache.
„Du mistiger Gockel. Am liebsten würde ich dich jetzt auf der Stelle rupfen!“, schimpfte Anchesenamun, wobei sie die Hände auf ihre Hüften abstützte.
„AHAHAHA. Ani, König lieb. König lieb. AHAHAHA. Ani, König lieb!“

Nun war die Zeit des Opet-Festes gekommen. Was die Besatzung nicht ahnte; Tutanchamun und die Königin hatten dieses Ereignis längst eingeplant und beabsichtigten, die komplette Mannschaft für ihre treuen Dienste zu belohnen. Fünf Ziegen, die eigentlich für den großen Amuntempel vorgesehen waren, hatte das Herrscherpaar dem Hohepriester vorenthalten. Ebenso zweihundert Amphoren Wein, zehn Fässer Bier, ausreichend Salz und Pfeffer und einige Stauden Bananen. Zudem schickte Tutanchamun heimlich einen Spähtrupp voraus, damit die Soldaten an einer geeigneten Flussoase vorab ein Lagerfeuer errichten und die Ziegen schlachten konnten. Die Mannschaft sollte praktisch einen gedeckten Tisch vorfinden.
Aufgrund der damaligen Krönung und Vermählung des ebenfalls recht jungen Pharao Thutmosis II mit seiner älteren Schwester Königin Hatschepsut, war dieser Tag als ein offizieller Feiertag ernannt worden. Als der Pharao aber im jungen Alter von nur 21 Jahren während einer Schlacht verwundet worden war und der Gott Osiris ihn daraufhin frühzeitig zu sich gerufen hatte, hatte das Volk elf Tage lang die Arbeit niedergelegt und um den beliebten König getrauert. Königin Hatschepsut war über die pietätvolle Anteilnahme ihres Volkes dermaßen gerührt gewesen, dass sie diesen Feiertag fortan, zum Gedenken ihres geliebten Halbbruders und zu Ehren des Gottes Amun, zu einer Festzeit erweiterte und diese das Opet-Fest ernannt hatte. Dies waren seitdem die aufregendsten und bedeutendsten Festtage in Ägypten, wobei sogar Menschen aus fernen Ländern angereist kamen, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Dann wurde selbst die Sperrstunde aufgehoben und die Leute durften während des Opet-Festes bis zum Morgengrauen unbeschwert durch die Städte ziehen und tanzen und trinken.
Die Besatzung aber war missmutig gestimmt, weil die Männer zur Festzeit hart arbeiten mussten, während das ganze Land feierte und sich mit Bier und Wein betrank und schmauste, bis sich deren Bäuche blähten. Trotzdem waren die Männer diszipliniert und ruderten anstandslos weiter, ohne dass Rahotep nur einmal die Peitsche hätte zücken müssen. Das Königspaar ließ die Besatzung schmollen und in dem Glauben, dass es ihnen nicht gestattet sei, das Opet-Fest zu feiern.
Noch bevor die Dämmerung eingebrochen war befahl Rahotep an der besagten Flussoase anzulegen, dort, wo die Soldaten für die Mannschaft vorab alles vorbereitet hatten und bereits ein Lagerfeuer brannte. Tutanchamun stieg auf das Bugdeck, breitete seine Arme auseinander und verlautete mit kräftiger Stimme: „Die königliche Gemahlin und euer Pharao danken euch allen für eure treuen Dienste. Vierzehn Mal hatte der Himmelsgott Horus nun den Mond verschlungen und trotzdem seid ihr tapfer und stets gehorsam geblieben. Amun wird euch immer beistehen. Nun lasset uns das Opet-Fest bis in den frühen Morgengrauen feiern, wie wahre Männer. Der lebende Gott Ägyptens, Neb-cheperu-Re, Wetes-chau-se-hetep-netscheru, Tut-anch-Amun, hat zu euch gesprochen!“
Jubelschreie schallten über den Nil. Die Ruderer sprangen von ihren Sitzplätzen auf und tanzten freudig auf dem Bootsdeck herum. „Lang lebe der König!“, riefen sie im Chor. „Möge der Große Pharao Tutanchamun Millionen Jahre leben!“
Der Pharao umklammerte den bananenförmigen Bug, beugte sich weit nach vorne und genoss es, wie seine treue Gefolgschaft im Freudentaumel miteinander tanzte. Dieser Applaus, den ihm seine Leute schenkten, bedeutete ihm mehr als die Bewunderung des Volkes, die sie ihm in Oberägypten entgegen gebracht hatten. Seine Augen glänzten vor Freude als er die Männer dabei beobachtete, wie sie nacheinander kopfüber von Bord sprangen und dabei fröhliche Lieder sangen. Obwohl der Pharao seiner Militärtruppe das Opet-Fest ebenfalls gönnte und sie zum Feiern einlud, blieben die Soldaten diszipliniert, tranken nur mäßig vom Wein und Bier und bewachten den Lagerplatz sowie die geankerten Schiffe vorbildlich, so wie es Hauptmann Djedefre befohlen hatte.

Die geschlachteten Ziegen wurden über dem Feuer gegrillt und nachdem die Mannschaft ausgiebig geschlemmt hatte, sangen die Männer Volkslieder, tranken dabei Bier und tanzten um das Lagerfeuer herum. Nun betrachteten sie den König von Ägypten insgeheim nicht mehr als einen ahnungslosen Bengel, sondern als ihren wahren Pharao. Sie bestaunten ihren achtzehnjährigen König, der sein Nemes-Kopftuch herunterriss, sich zu ihnen gesellte und gemeinsam mit ihnen anstieß. Der Pharao feierte mit seinen Männern und plauderte mit ihnen völlig unbefangen, als wäre er einer von ihnen. Tutanchamun genoss diese Nacht, denn er fühlte sich unendlich frei und von allen Sorgen befreit, genauso wie er früher als Imhotep mit seinen Freunden um die Häuser gezogen war. Insbesondere war Tutanchamun darüber erfreut, dass Eje momentan nicht anwesend war, weil er ihm solch ein kumpelhaftes Verhalten sicherlich untersagt hätte. Eje war immerhin noch sein offizieller Vormund und erst dann, wenn er auf dem Balkon seines Palastes in Memphis vor dem Volk sprechen und verkünden würde, dass er ab sofort fähig sei, alle Entscheidungen selbst zu verantworten, erst dann wäre die machtvolle Autorität des Wesirs über ihn endgültig wirkungslos.
Plötzlich tauchten aus dem Dunklen mehrere Personen auf und traten der Feuerstelle entgegen. Anchesenamuns weißes Gewand leuchtete förmlich in der Dunkelheit. Anmutig stolzierte die Königin voran und ihre Zofen folgten ihr. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte im Schein des flackernden Lagerfeuers und als man sie erblickte, verstummte sogleich der fröhliche Gesang. Eine Männerschar verneigte sich demütig vor der Königin und erst als sie in ihre Hände klatschte, standen alle wieder auf. Stille herrschte. Anchesenamun lächelte, prostete ihnen mit einem gefüllten silbernen Weinkelch zu und nippte daran. Sie wünschte allen Männern ein frohes Opet-Fest und dass Amun ihnen ewig beistehen würde. Dann verschwand sie wieder mit ihren Zofen in der Dunkelheit.
Sie trieben in einem Boot davon und wurden von einem Soldaten zurück zur königlichen Barke gesteuert, die mitten auf dem Nil ankerte. Einen Moment hielten die Mannschaften inne, bevor sie der Königin zum Nilufer hinter eilten. Noch bevor die schattige Kontur des Bootes langsam mit der Finsternis verschmolzen war, riefen ihr die Männer hinterher, dass sie die wundervollste Königin sei und jeder von ihnen jederzeit bereit wäre, ihr Leben für sie zu opfern.

Heuschrecken zirpten. Rahotep hockte abseits des Lagerfeuers und blickte finster drein, weil ihn niemand beachtete. Missmutig biss er in eine Ziegenkeule, trank dabei seinen eigenen Wein und als ihn der Harndrang quälte, verschwand er im Gestrüpp hinter einer Dattelpalme. Ein plätscherndes Geräusch drang aus der Dunkelheit hervor, woraufhin die Heuschrecken kurzzeitig verstummten, es aber sogleich wieder munter weiter zirpte, nachdem Rahotep sich erleichtert hatte.
Rahotep seufzte, watschelte wieder zum Lagerfeuer, während er sich die Lederbändchen seines Schurzes zuband. Wie ein Geist erschien er aus der Dunkelheit. Als Rahotep direkt vor der Männerschar stand und das plötzliche Stillschweigen bemerkte, das ihm die Männer entgegen brachten, und er auch sah, dass sie ihn alle anstarrten, hielt er inne und lächelte kurz verlegen. „Weshalb starren mich diese verfluchten Söhne des Seht so an?“, fuhr es durch seine Gedanken. Mit ernster Miene wanderten seine großen, dunklen Augen umher, als würde er befürchten, gelyncht zu werden. Tutanchamun trat hervor und verschränkte seine Arme. Sekundenlang hielt die Stille – nur das knisternde Lagerfeuer war zu hören.
„Rahotep, uns ist das Bier und der Wein ausgegangen, aber mich dürstet es noch. Was nun? Hast du deinen privaten Weinbestand etwa in der Tat bis auf die letzte Amphore Amun zu Ehren geopfert?“, fragte Tutanchamun scheinheilig.
Rahoteps Augen funkelten. Der Pharao beabsichtigte scheinbar, mit ihm gemütlich in Zweisamkeit zu picheln. Nun hatte der Oberaufseher von Peru-nefer endlich das Vertrauen des Königs gewonnen und durfte sich, so dachte er, vielleicht in absehbarer Zeit gar als Gottesvater anreden lassen. Die Bezeichnung Gottesvater war ein Adelstitel, welchen ausschließlich ein Pharao seinem persönlichen Vertrauten verleihen konnte, aber Rahotep wusste nicht, dass Eje bereits zum Gottesvater ernannt worden war. Der Hafenmeister sowie Kommandeur lächelte und verneigte sich vor dem Pharao.
„Nein, mein Großer Pharao. Selbstverständlich habe ich nicht alles für Amun geopfert. Möge Amun-Re mir dies verzeihen, aber ich bin etwas durstiger, als alle Götter dieser Welt. Nun, was mein ist, soll selbstverständlich auch Euer sein.“
Rahotep klatschte in seine Hände, woraufhin seine Diener herbeieilten und ihm sogleich zu Füßen lagen.
„Bringt mir meinen Wein, und zwar jeden einzelnen Tropfen. Dem Großen Pharao und mich dürstet es!“
Tutanchamun schmunzelte.
„So soll es geschehen. Bringt mir den Wein des ehrenwerten Oberaufsehers von Peru-nefer, des fähigen Kommandanten der königlichen Barke. Er ist klug und hat es erkannt. Sein Hab und Gut gehört auch mir. Hiermit seid ihr alle eingeladen. Trinkt, Männer! Trinkt auf das Wohl des spendablen Rahotep. Lasst keine Amphore übrig, dann wird er es euch auch allen danken!“
Die Freude der Männer war nicht mehr zu bändigen. Ihrem Opet-Fest drohte in dieser Nacht keine trockene Kehle. Sämtliche Weinkisten, welche noch in den hintersten Frachträumen der Transportschiffe verstaut waren, wurden zum Lagerplatz gebracht. Die Männer lachten und waren überglücklich darüber, dass sie zumindest bis zum Sonnenaufgang nicht verdursten würden. Vom Wein angetrunken knieten sie vor Rahotep nieder und küssten ihm nacheinander die Füße. Sie wünschten aufrichtig, dass die Götter ihm ewig beistehen würden und prosteten ihm mit seinen eigenen Weinamphoren zu. Der Kommandeur lächelte und beteuerte scheinheilig, über die herzlichen Danksagungen glücklich zu sein. Er beobachtete eine Weile missmutig die feiernde Mannschaft, bevor er sich eine Wolldecke schnappte und unbemerkt in sein Zelt trottete. Das Feiern war ihm gründlich vergangen.

Die Heimat nahte. Dem Pharaonenpaar stand nur noch die Besichtigung der Sphinx auf dem Plateau des Nildeltas bevor, weil die Baumeister nach weiteren Kostenzuschüssen für die Restaurierungsarbeiten verlangt hatten. Tutanchamun war aufgeregt wie nie zuvor, sodass er die letzten Nächte kaum einschlafen konnte. Endlich würde er die göttlichen Bauwerke bewundern können. Um dorthin zu gelangen, musste der königliche Konvoi jedoch an Memphis vorbei steuern. Hunderte Menschen standen am Nilufer, winkten und jubelten der Sonnenbarke zu, aber Tutanchamun blieb in der Kabine versteckt und lugte aus dem Spalt des Fensterladens heraus, damit ihn die Bewohner nicht sahen. Seine Augen suchten nach seinen Freunden, die sicherlich auch anwesend waren und ihm gerade vom Ufer aus zuriefen. Die Bevölkerung von Memphis sollte ihn aber erst auf dem Balkon seines Palastes zu Gesicht bekommen, entschied er, schließlich sollte es eine Überraschung für diejenigen werden, die ihn nur als Imhotep kannten.
Tutanchamun öffnete die Fensterklappe etwas weiter auf. Insbesondere hielt er nach Nefertiri Ausschau, jedoch war auch sie in der Menschenmenge unmöglich zu entdecken. Er seufzte. Am liebsten wäre er jetzt über Bord gesprungen und hinüber zum Ufer geschwommen, um Nefertiri darum zu bitten, seine Gemahlin zu werden. Nefertiri, ein einfaches, ungebildetes Mädchen aus der Stadt, wäre daraufhin eine Königin von Ägypten.
 
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