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4 Seiten

Lieber Gott

Nachdenkliches · Kurzgeschichten

ich schreibe dir, weil ich weiß, dass ich bald sterben muss. Mama und Papa dürfen aber nicht merken, dass ich es bereits weiß. Sonst weinen sie wieder so doll. Das mag ich nicht, das macht mich auch nur wieder traurig.
Der Doktor sagt der Tumor wächst immer weiter, sie können mir nicht mehr helfen. Das hat jedenfalls Mama zu Oma am Telefon gesagt auch wenn sie mir erzählt, alles wird gut. Doch dann beginnt sie zu weinen und drückt mich an sich, so fest, dass ich mir manchmal wünsche, sie drückt gleich den Tumor in meinem Bauch kaputt, damit sie wegen mir nicht mehr weinen muss.
Aber eigentlich schreibe ich dir, weil ich gerne wissen möchte, ob mich ein Engel abholt. Das wäre soooo schön. So einer mit großen Flügeln und langen, blonden Haaren, wie in meinem Buch. Dann hab ich auch bestimmt nicht so eine Angst wenn ich gehe. Ich hoffe bei dir gibt es auch Mamas Vanille-Pudding, den mag ich doch so gerne.
Eine Frage hab ich aber noch, lieber Gott. Warum muss ich eigenlich sterben? War ich böse? Oder vermisst du mich so doll? Kannst du nicht noch ein bißchen warten? Ich würde so gerne nochmal in Urlaub, da, wo es die tollen Drachen gab, die bunten, großen. Ich setz auch meine Mütze auf, versprochen, ich weiß ja, dass ich mit meiner Glatze immer so schnell friere und dann krieg ich wieder Schnupfen.
Ich bin so traurig, dass Mama und Papa nicht mitgehen werden. Können sie nicht doch mit? Aber das geht ja doch nicht... Papa muss ja zur Arbeit. Aber Mama! Mama könnte doch mit! Dann hätte ich immer jemanden zu spielen. Ich kenne im Himmel ja doch niemanden. Hoffentlich bekomme ich eine eigene Wolke.
Lieber Gott, ich warte auf deine Antwort. Hab dich lieb.

Carlo

P.S. Schreib schnell zurück. Ich habe nicht mehr viel Zeit! Aber das weißt du ja besser als ich. Danke schön!

---

"Wo, wo bin ich?"
Carlo hatte Angst. Er blickte in völlige Finsternis und konnte nicht ausmachen, wo er sich befand. Er rief voller Furcht und aus ganzer Kehle nach seinen Eltern, doch es schien fast so, als würde die Dunkelheit seine Schreie verschlucken, seine Angst und seine Hilflosigkeit dadurch nur weiter schüren. Keine Antwort, nicht die geringste Reaktion bekam Carlo auf sein Rufen und das machte ihn nur noch ängstlicher, als er es ohnehin schon war.
"Bin ich", Carlo stockte und wollte seine Frage am liebsten gar nicht zu Ende formulieren, "bin ich tot?"
"Ja Carlo, du bist gestorben." erklang eine tiefe Stimme, die diesen Satz, der wie ein Urteil wirkte, ohne jegliche Emotion verkündete.
Carlo drehte sich ruckartig um, konnte er doch genau ausmachen, dass diese Antwort aus der entgegengesetzten Richtung kam als in die er die ganze Zeit über blickte. Er hoffte darauf, dass nun endlich die Engel kommen würden, auf die er sich schon so lange gefreut hatte und, dass diese ihn von diesem dunklen, kalten und schrecklichen Ort fortbrächten, in den Himmel, auf die Wolke, die für ihn vorgesehen war. Es musste so sein. Da gab es für Carlo keinen Zweifel, genau so hatten es ihm seine Eltern schliesslich versichert würde es kommen.
Doch nachdem er sich voller Vorfreude umgedreht hatte wich seiner Hoffnung Enttäuschung und seiner Freude wieder bloße Angst. Carlo sah lediglich weit entfernt ein kleines, helles Licht, das, wäre von ihm nicht die Stimme ausgegangen, Carlo nicht einmal bemerkt hätte.
"Bist du etwa ein Engel?" fragte er skeptisch, die Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen könnend."Du sahst in meinen Büchern doch so ganz anders aus!"
"Ich bin kein Engel." antwortete das Licht, wiederum ohne eine Gefühlsregung. "So etwas wie Engel gibt es nicht, das ist eine Erfindung eures Geistes. Ich bin das, was ihr Gott nennt."
Carlo verstand nichts mehr, nicht, was hier mit ihm passierte, noch was dieses Licht ihm dort erzählte.
"Keine Engel?" seufzte Carlo enttäuscht. "Das ist aber blöde... aber Mama und Papa haben doch gesagt, dass..."
"Sie haben dich belogen!" fuhr Gott dazwischen. "Sie hatten doch selbst keine Idee. Sie waren was den Tod anbelangt genauso klug wie du und alle anderen Menschen auch."
"Dann bist du also mein lieber Gott?" Carlo überlegte ob er traurig darüber sein sollte, dass es die Engel, die er sich so stark herbeigesehnt hatte, nicht gab, oder ob er froh darüber sein sollte, das nun Gott bei ihm war, jemand, dem er voll vertrauen konnte, vertrauen musste. "Bringst du mich jetzt in den Himmel, auf meine Wolke? Gibt es dort viele Kinder? Und Pudding? Du hast mir ja nicht zurückgeschrieben..."
"Himmel? So etwas gibt es auch nicht, auch dies ist nur ein Konstrukt der menschlichen Vorstellungskraft, der menschlichen Hoffnung. Das hier ist die letzte Station deines Seins; hier endet deine Existenz." antwortete ihm Gott.
Carlo sank langsam nieder und begann zu weinen. "Kein Himmel? Was passiert denn dann jetzt mit mir? Werde ich Mama und Papa nie wiedersehen? Warum musste ich überhaupt sterben?! Warum? Warum hatte ich diesen blöden Krebs? Hast du mich denn nicht gern, lieber Gott?!", schrie Carlo mit zitternder und schluchzender Stimme. Er verstand Gottes Worte nicht, sie waren so fremd so wirr in Carlos Kopf, das konnte nicht "sein" lieber Gott sein! Sein lieber Gott war ein alter, netter Onkel mit einem langen, weißen Bart und einem hellen Gewand. Carlo wollte und konnte all dies hier nicht akzeptieren.
"Ob ich dich gern hab? Ach, du meinst Liebe. So etwas kenne ich auch nicht, nur ein weiteres Abstraktum eurer Phantasie. Du bist Carlo und das genügt- mehr muss ich zu deiner Person nicht wissen. Und warum du sterben musstest? Weil es eben soweit war, es gibt keinen Grund, warum sucht ihr immer nach Gründen? Das geht immer so, von jung bis alt. Ich verstehe das nicht." erwiderte Gott verständnislos.
"Und was geschieht jetzt mit mir? Muss ich für immer hier bleiben? Allein?" schluchzte Carlo, immer leiser werdend.
"Aber nein, du bist noch nicht völlig tot, dies hier ist nur eine Zwischenstation des Todes, ich geleite dich nun weiter. Du wirst gleich wieder Teil dieser Dunkelheit werden, du wirst alles vergessen, deine Eltern, dein Leben, deine Fähigkeit zu denken, zu fühlen, dein Sein überhaupt. Es wird so sein, als hättest du niemals gelebt."
"Du lügst!!!" fuhr ihm Carlo dazwischen, immer heftiger weinend. "Du bist nicht mein lieber Gott! Du bist böse und gemein!"
"Ich bin, was ich bin, nicht mehr und nicht weniger. Und du wirst zu dem, wozu du seit deiner Schöpfung bestimmt warst, zum Teil dieser Dunkelheit, so soll es eben sein. Es gibt darin keinen Sinn; es ist, was es ist, und das ist Sinn genug. Und nun kehre zurück wo du herkommst, nach Hause, ins Nichts."
Carlo sagte nichts mehr darauf, er schwieg und weinte; weinte als Gott über ihn richtete und weinte als er spürte, wie sein Körper sich langsam auflöste und Teil des Nichts wurde. Im Geiste hatte er immer das Bild seiner Eltern , die er über alles geliebt hatte, vor sich; so lange, bis Carlos´ Sein entgültig erloschen war. Carlo war tot und nur seine Tränen in der weiten Dunkelheit zeugten von dem Verrat, dem Verrat an Carlo aber vor allem am Verrat am Leben an sich.
 
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Kommentare  

Danke erstmal für die Kommentare.
@ Regina: deine Frage "wieso" widerspricht eigentlich einer zentralen Nachricht dieser Geschichte. Wie es schon in der Geschichte heißt: es gibt kein Sinn in dem was dort passiert.Es passiert einfach. Daher gibt es auch in dem Sinne keine Antwort auf die Frage warum Carlo erst noch einmal Gott begegnen muss. Es ist einfach so.
@Dragonsangel74: Vielen Dank für deinen lieben Kommentar. Freut mich wenn dir die Geschichte gefallen hat.


Sebastian Fulland (14.06.2004)

Etwas schrecklich Trauriges - furchtbar schön geschrieben! Und vielleicht näher an der Wahrheit dran, als uns allen lieb ist.

Dragonsangel74 (13.06.2004)

Also ich weiss nicht. Natuerlich, ist eine Moeglichkeit. Aber eine ziemlich unbequeme.

Und mir draengt sich da noch eine Frage auf. Wieso wird Carlo nicht sofort zum Nichts? Wieso muss er erst an diesem Waerter der Dunkelheit vorbei?


Regina Besting (30.04.2004)

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