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4 Seiten

Das Stechen

Trauriges · Kurzgeschichten
Grundsätzlich dachte ich immer, ich sei mit meinem Leben durchaus zufrieden. Ich hatte meine Freunde, meine Familie und ab und zu ein paar ruhige, entspannte Momente in denen mich das menschliche Dasein wirklich erfreute. Dennoch spürte ich von Zeit zu Zeit dieses lästige Stechen, direkt neben der Pumpe, die mich am Leben erhielt.
Zuerst dachte ich natürlich, es sei ein medizinisches Problem. Ich ging zum Hausarzt und liess mich untersuchen, jedoch brachten Ultraschall und EKG nichts ungewöhnliches zutage. Dann begann ich zu überlegen.
"Hmm, es könnte ja auch etwas Psychosomatisches sein. Vielleicht will mich dieses Stechen bloß auf etwas hinweisen. Möglicherweise ist es ein Hinweis auf einen tief verwurzelten inneren Konflikt. Ein vorgeburtliches Trauma oder etwas in der Art."
So begab ich mich also in Psychotherapie. Ich ließ mir in den Eingeweiden meiner Seele herumwühlen und mein Innerstes nach außen kehren.
Ohne Erfolg. Der Therapeut konnte mir bloß sagen, daß ich doch ziemlich normal sei.
Nach dieser Enttäuschung begann mich von der Welt zurückzuziehen und verbrachte die Tage, indem ich in meinem Bett lag, und versuchte, das Stechen in der Brust einfach zu ignorieren, indem ich immer wieder die dunklen Flecken an der Decke zählte.
67.
Eines Tages stand ich vom Bett auf und beschloss mich ans Fenster zu setzen. Vielleicht konnte mich ein Blick nach draußen weiter bringen.
Nach einer endlos scheinenden Weile, in der ich die Menschen wie Ameisen hin und her rennen sah, erspähte ich einen Täuberich am Gehsteig, der verzweifelt versuchte ein junges Täubchen zu verführen. Ich war fasziniert. Immer wieder wedelte er um die Angebetete herum, doch sie ließ sich nicht beeindrucken. Ich sah eine Weile zu, schmunzelte und widmete mich dann wieder meinen Gedanken.
Verdammt, ich kam noch immer nicht darauf, was mir fehlte und das Stechen hörte nicht auf.
Immer mehr hatte ich nun das Gefühl, das mein Leben eine Lücke aufwies, eine weiße Stelle, die noch nicht mit Farbe gefüllt war. Womit konnte ich sie füllen? Wie sollte ich die Leere
ausgleichen?
Nachdem ich wiederum keinen Schritt weitergekommen war und mich das stundenlange Nachdenken langsam müde machte, blickte wieder aus dem Fenster. Vielleicht verbarg sich die Antwort ja doch irgendwo da draußen.
Diesmal sah ich zwei Hunde miteinander spielen. Zuerst tollten sie lustig herum, sie jagten und beschnüffelten einander. Nach einer Weile wurde das Schnüffeln immer ausgiebiger und schließlich wurde ihr Spiel recht merkwürdig. Es bestand nun daraus, dass der eine Hund von hinten auf den anderen sprang und sich so zur Hälfte tragen ließ. Nebenbei machte er noch hektisch wippende Bewegungen.
Ich fragte mich, was das wohl für ein komisches Spiel sei und wandte mich verwundert ab. Und da dachte ich immer, bloß Menschen ließen sich eigenartige Spiele einfallen.
Meine Frage indes war noch immer nicht geklärt und das Stechen schien kontinuierlich stärker zu werden, Jetzt wo ich ihm meine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Anscheinend gab es nichts, das ich dagegen tun konnte. Zumindest nicht, solange ich nicht wusste, wo denn das Problem lag. Alles Nachdenken brachte mich nicht weiter. Ich trat auf der Stelle.
So seufzte ich und wandte meinen Blick voll Frustration zum dritten Mal aus dem Fenster. Da sah ich nun auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen jungen Mann auf einer Bank sitzen. Er sah irgendwie traurig aus, und seufzte ebenso, wie ich es vorher getan hatte. Er blickte den Menschen hinterher, die an ihm vorbeigingen. Es waren alle möglichen Leute: Männer, Frauen, junge und alte Menschen, weinende Kinder und lachende Nonnen. Jedoch schien keiner den jungen Mann zu bemerken. Außer mir.
Plötzlich sah er mir direkt in die Augen. Einen Augenblick lang fixierten wir einander, unterhielten uns ohne Worte, nur durch das, was wir in den Augen des Anderen lasen. Auf einmal spürte ich, dass dieser Mensch die Antwort auf meine Fragen haben müsse. Ja, ich war mir ganz sicher, er konnte mir sagen, woher mein Schmerz kam, und wie ich ihn beseitigen konnte.
Mein Herz begann zu klopfen vor Erwartung und Hoffnung, dass meine Qual nun ein Ende finden könnte.
Ich deutete ihm, ich würde zu ihm hinauskommen. Er schien mich verstanden zu haben und nickte. In Windeseile zog ich nun meine Schuhe an und eilte auf die Straße hinaus, wobei ich beinahe von der rasch herankommenden Straßenbahn gerammt worden wäre.
Trotzdem kam ich heil an der anderen Straßenseite an, doch meine Enttäuschung war kaum zu beschreiben, als ich die Bank einsam und verlassen vorfand. Mein stiller Gesprächspartner war verschwunden. Ich blickte in alle Richtungen, aber es gab keine Spur von ihm, er hatte sich in Luft aufgelöst.
Das Stechen in meiner Brust begann nun wieder und wurde mit jedem Augenblick stärker, es breitete sich auf meinen ganzen Oberkörper aus und schließlich wurden auch meine Beine ganz zittrig.
"So",dachte ich, "Jetzt ist es soweit. Jetzt kriegst du mit dreiundzwanzig einen Herzinfarkt"
Vom Schmerz überwältigt musste ich mich auf die Bank setzen. Zuerst drehte sich alles um mich, ich dachte, ich würde die letzten Minuten meines Irdischen Daseins erleben.
Doch nach einigen tiefen Atemzügen ging es mir dann ein wenig besser. Ich schloß meine Augen. Nein ich würde nicht sterben. Zumindest nicht gleich, nicht an diesem Tag, in dieser Minute.
Als ich meine Augen wieder öffnete und die grünlackierten Holzlatten auf denen ich saß, genauer betrachtete, entdeckte ich einen kleinen, länglichen Zettel. Mein Herz hüpfte vor Aufregung. Womöglich eine Botschaft, die mir der Fremde hinterlassen hatte? Nun schon wieder halbwegs beieinander nahm ich das dünne Papier in die Hand und versuchte die vermeintliche Nachricht zu entziffern.
Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich erkannte, was es tatsächlich war. Was mir da in allzu förmlichen Lettern entgegenblickte, war eine Art Rechnung. Nein, eigentlich keine Rechnung, tatsächlich war es ein Rezept, wie es einem der Arzt ausstellte, wenn man eitrige Angina hatte und sich mit Antibiotika vollstopfen musste. Doch dieses Rezept hatte seine Merkwürdigkeiten. Was mich als erstes erstaunte, war, dass es tatsächlich auf mich selbst ausgestellt war. Ich traute meinen Augen kaum, aber da stand mein Name, mein Geburtsdatum und meine Sozialversicherungsnummer. Das ging nicht mit rechten Dingen zu, ich war schon ein halbes Jahr nicht mehr beim Arzt gewesen, und ich hatte mir seither bestimmt kein Rezept ausstellen lassen. Voll nervöser Spannung las ich weiter. Da stand in fein säuberlichen, schnörkellos gedruckten Buchstaben der Name des Medikamentes:

SEELENHEIL 3x täglich

Die Verwirrung steigerte sich ins Unermessliche. Ein paar Augenblicke saß ich bloß da und blickte ungläubig auf den Zettel in meiner Hand. Seelenheil? Wer hatte mir das verschrieben? Auf dem Rezept stand auch ganz ordnungsgemäß die Unterschrift des behandelnden Arztes. Ich konnte sie aber nicht so recht entziffern. Entweder es hieß Dan Leber, Don Loloer oder möglicherweise Das Leben. Mir kamen alle drei gleich unsinnig vor. Schließlich und endlich raffte ich mich auf und ging in die Apotheke an der Ecke, wo ich der nett lächelnden Apothekerin mein Rezept reichte. Sie sah es sich mit einem Stirnrunzeln an und gab mir freundlich aber bestimmt zu verstehen, daß sie hätten dieses Medikament sicher nicht lagernd und sie wüsste auch nicht, wo es zu bestellen wäre. Ich solle es doch in einer anderen Apotheke oder Drogerie versuchen. Doch wo ich auch hinkam, niemand konnte mir weiterhelfen. Viele hatten schon von diesem besonderen Medikament gehört, doch keiner konnte mir sagen, wie es wohl zu beschaffen sei.
Ich stand also wieder am Anfang. Der kurze Hoffnungsschimmer meiner merkwürdigen Begegnung hatte ein Tor in mir geöffnet, aber es war zu klein, um hindurchzutreten. Ich konnte gerade mal meinen Arm hindurchstrecken, in der Hoffnung, irgend jemand würde ihn ergreifen. Ich musste weitersuchen.

Und so lebe ich also mein Leben weiter. Und anstatt Flecken an der Decke zu zählen, hab ich sie einfach neu gestrichen.
Ich habe seither immer das Rezept in meiner Tasche und gehe in jede Apotheke, Drogerie, in jeden Bioladen, jede Parfümerie und jeden Supermarkt den ich finde. Ich kenne nun alle Nahrungsergänzungsmittel, alle Vitaminpräparate, alle Pillen und Pulver und Säfte, die den Menschen Glück und Gesundheit verheißen. Doch dieses eine Präparat, dieses Seelenheil habe ich bis heute nicht gefunden.
Und obwohl ich mit meinem Leben durchaus zufrieden bin, meine Freunde und meine Familie habe und ab und zu ein paar ruhige, entspannte Momente, in denen mich das menschliche Dasein wirklich erfreut, habe ich dennoch von Zeit zu Zeit dieses Stechen, direkt neben der Pumpe, die mich am Leben erhält.
 
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Kommentare  

Um klar zu sehen, genügt es oft schon den Blick in eine andere Richtung zu wechseln.

Deine Geschichte habe ich in meiner Tasche. Wenn ich meine Dep...phase habe lese ich sie.

Bisher ist es Deine schönste.


Liesel (20.10.2005)

Bitte kommentieren! Dafür wäre ich sehr dankbar.

Der Autor (16.07.2005)

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