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5 Seiten

Das Bild

Schauriges · Kurzgeschichten · Frühling/Ostern
Es war ein strahlend-kalter Apriltag und die Uhren schlugen dreizehn.
Der Mann hasste Sonntage. Er hatte das Gefühl, sie verdammten ihn zu einer Untätigkeit, die er nicht wollte. Und die kommende Woche würde ihm jeden Tag einen Sonntag bringen. Er hatte seinen Resturlaub nehmen müssen. Wie sollte er also seine Zeit totschlagen?
Er schrak aus seinen Gedanken und starrte auf den Monitor vor sich. Ein Mausklick, und die Fensterscheibe erschien. Sie war in sechs Richtungen gesprungen. Die Sprünge zogen sich verschieden lang, aber ziemlich gerade über das Glas. An der Stelle, an der sie aufeinander trafen, schlierte das Glas trübe über eine kleine Fläche. Das obere rechte Viertel der Scheibe fehlte. Dieser Teil hob sich in dem Bild dunkel ab, wies jedoch drei kleine helle kantige Flecke auf. Reflektionen..., dachte er bei sich.
Seine Hand griff zur Maus und startete - wie schon oft zuvor - eine Ausschnittvergrößerung dieser Stelle. Aber auch dieses Mal konnte er so lange starren wie er wollte! Er konnte nichts erkennen. Hey! flüsterte er, wenn du doch erzählen könntest...
Das Photo von der zerbrochenen Scheibe hatte er vor etwas mehr als einer Woche in einer kleinen Galerie entdeckt, und da es ihn auf Anhieb faszinierte, käuflich erworben. Der Preis schien ihm ein wenig überhöht und überschritt im Grunde auch sein Budget, aber nachdem er mehrfach an allen Bildern vorbeigeschlendert und immer wieder zu diesem zurückgekehrt war, hatte er euphorisch nach seiner Kreditkarte gegriffen. Dieses Photo war seines!
Zu Hause scannte er es sofort in seinen Computer ein. Und das erlaubte es ihm nun, seine kleinen Tricks auszuüben. Drehen, Spiegeln, Farbe verändern , Gegenstände hineinzeichnen... Jeden Tag probierte er aus, denn je länger er vor dem Bild saß, desto mehr erahnte er ein Geheimnis, das es zu erforschen galt.
Nach einigem Zögern klickte er auf den Radierer. Teile aus dem Bild wegzunehmen und durch andere zu ersetzten, war ihm bisher wie ein Frevel vorgekommen, und er hatte es deshalb vor sich hergeschoben. Nun aber waren alle anderen Möglichkeiten erschöpft, und er saß unbefriedigt da, war in keiner Weise weitergekommen; was auch immer er sich erhofft hatte...
Als er begann, in dem dunklen Bereich zu radieren, bemerkte er auf einmal einen hellblauen Fleck an dieser Stelle. Angespornt, wenngleich auch verdutzt, vergrößerte er die Fläche ein wenig, und mehr Blau erschien. Während er weiterarbeitete, kamen ihm die alten Meister in den Sinn, die ihre Gemälde häufig mehrfach übermalt hatten, da sie sich keine neue Leinwand leisten konnten. Oft wurden heutzutage richtige Kleinodien entdeckt, wenn ein solches Bild zur Restauration gegeben wurde. Aber bei Photos, noch dazu eingescannt in einen Computer, konnte es so etwas nicht geben! Sollte das ein Virus verursacht haben? Aber gerade gestern hatte er noch sein Anti-Virus-Programm durchlaufen lassen. Es musste einen anderen Grund geben, eine einfache Lösung . Sicher hatte er Blau als Bildschirmfarbe gewählt. Er öffnete eine neue Seite. Nein, der Bildschirm war weiß! Er schüttelte den Kopf. Nach einem Geheimnis gesucht hatte er, und das sollte es nun sein??!!
Er klickte sich sein Photo zurück auf den Bildschirm. Mit breitem Strich hatte er im Nu die gesamte Fläche radiert und starrte fasziniert und ungläubig auf das Ergebnis. Auf seinem Monitor befand sich eine völlig intakte, saubere Fensterscheibe. Durch sie hindurch blickte er auf den klaren blauen Himmel eines strahlenden Sonnentags. Hinter einem gepflegten Bauerngarten, mit Buchsbaumhecken, einer Eiche und einem grünen Lattenzaun, befand sich eine große Wiese mit grasenden Kühen. Vom linken oberen Rand her schlängelte sich, zunächst winzig klein, dann langsam größer werdend, eine Landstraße durch die Wiese und verschwand bald rechts aus dem Bild. Als er die Straße genauer betrachtete - die Bäume, die sie säumten, mochten wohl Pappeln sein - schien ihm in der Ferne, wo der Weg hinter einer kleinen Anhöhe verschwand, eine Staubwolke aufzusteigen. Er vergrößerte die Stelle. Die Staubwolke nahm ein wenig an Umfang zu, ansonsten konnte er drei kleine Punkte ausmachen, die auf der Straße lagen. Oder standen? Waren sie die Verursacher der Staubwolke? Autos vielleicht? Oder waren die Punkte nichts anderes als Staubkörner auf dem Photo?
Er war so vertieft gewesen in seine Überlegungen, völlig aufgesogen darin, daß er längst nicht mehr Betrachter eines Bildes war. Mittendrin befand er sich, stand in einem Raum hinter diesem Fenster und blickte hinaus. Dies war SEIN Garten, den ER bepflanzte und pflegte - ein lang gehegter Wunsch! Und er bekam Besuch...Da fuhren doch Autos die Landstraße entlang. Die Staubwolke war inzwischen ein bißchen näher gekommen...
Es klingelte an der Tür. Sturm. Wie lange wohl schon? Er blinzelte, schüttelte sich ein bißchen, so wie er es nach einem kleinen Nickerchen tat, um wach zu werden, und setzte sich in Bewegung, um zu öffnen. Mist, dachte er. Zum einen ob der unwillkommenen Unterbrechung, zum anderen, da er vergessen hatte, sein Bild zu speichern. Schnell zurück? Es klingelte ununterbrochen weiter. Oder zur Tür? Mußte er sich also darauf verlassen, daß die automatische Speicherung klappte.
Auf dem Weg zur Tür kam er an seinem großen Wohnzimmerfenster vorbei. Ein kühler, aber angenehmer Luftstrom traf ihn. Er hatte die Balkontür offen gelassen. Für eine Sekunde hielt er inne. Der Balkon fiel recht geräumig aus für ein modernes Hochhaus wie dieses. Er hatte ihn reichlich mit Pflanzen ausgestattet und dabei noch ausreichend Platz gelassen, um sich Gartenmöbel aufstellen zu können. Die farbenprächtigen Blumen und Bäumchen in Töpfen und Kübeln konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Aussicht über die Balkonbrüstung hinweg nichts als von Antennen und Satellitenschüsseln vereinnahmte Großstadtdächer bot. Nicht zu vergleichen mit der ländlichen Idylle eines Bauerngarten inmitten grüner Weiden und Felder.Das Türklingeln brach ab. Er seufzte, setzte sich in Bewegung, um endlich demjenigen zu öffnen, der so hartnäckig geläutet hatte.
Zu seinem Erstaunen stand niemand davor. Er horchte nach dem sanften surrenden Geräusch des Fahrstuhls, aber sein Stockwerk lag still. Das gesamte zehnstöckige Hochhaus schien keinen Ton von sich zu geben. Als ob alles schliefe...
Er wartete noch einen Moment und trat dann zurück in seine Wohnung. Auf dem Fußboden entdeckte er einen gefalteten weißen Zettel. Er beugte sich hinunter und hob ihn auf. Beim Auffalten strömte ihm wohl bekannter Maiglöckchenduft in die Nase. „Du Lieber, hole dich morgen zu einem Ausflug ab...“ Er machte eine Bewegung, als wollte er eine Bürde von seinen Schultern schütteln. Ah, sie hatte nicht vergessen, wie schrecklich er sich an freien Tagen fühlte! Sie konnte ja nicht ahnen, daß er gerade ein faszinierendes Abenteuer erlebte! Dabei hoffte er, daß sein Fund sich in der Zwischenzeit nicht in Luft aufgelöst hatte. Computer taten merkwürdige Dinge zuweilen, das hatte er schon oft erleben müssen. Allerdings nicht auf die Art und Weise, die er heute entdeckt hatte!
Der Bildschirm war schwarz, und für einen Moment fürchtete er, seine Arbeit verloren zu haben. Durch eine winzige Mausbewegung konnte er sich jedoch davon überzeugen, daß seine Befürchtung grundlos war. Er betrachtete das Bild und merkte, daß sowohl die Autos samt Staubwolke verschwunden waren. Er starrte darauf, inzwischen in Erwartung, Dinge geschehen zu erblicken, die nicht geschehen durften. Aber es tat sich nichts, außer, daß er glaubte, Geräusche zu hören, einen dumpfen Knall, leises Klirren, trampelnde Schritte, Knallen einer Tür... Erschrocken schaltete er das Gerät aus. Verdammt! Nun hatte er doch das Speichern vergessen! Wütend haute er auf die Tastatur. Alle diese Geräusche hatte er vorhin auf dem Flur vor seiner Wohnungstür vermißt. Und nun sollten sie aus dem Gerät gekommen sein?!
Im ersten Moment war er versucht, den Computer wieder einzuschalten, um nachzusehen, ob noch etwas zu retten war. Auf den zweiten Gedanken schüttelte er die Versuchung aus dem Kopf. Er wollte sich eine Enttäuschung ersparen, er mußte sich erst einmal beruhigen. Sein Blick fiel auf die Wand, wo das Originalphoto hing. Nichts als Ärger, murmelte er...
- . - . - . - .
Dienstag erwachte er zu jener seelenlosen und unwesentlichen Zeit, da die Nacht eigentlich schon zu Ende geht und die Morgendämmerung noch nicht recht begonnen hat. Ihm fiel wieder ein, wo er sich befand und konnte es noch immer nicht glauben. Der Ausflug hatte sich nicht nur als Zeitvertreib, sondern besonders als Bescherung entpuppt. Er blickte lächelnd auf die Frau an seiner Seite. Sie hatte es möglich gemacht. Da lag er nun, in dem kleinen Haus im Grünen. Doch das Unglaubliche, das ihn so früh schlaflos setzte, war, daß es sich just um das Haus handelte, welches er aus seinem Computerbild herausgezaubert hatte. Und - es stand zum Verkauf! Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er die ganze phantastische Geschichte nicht einfach nur geträumt hatte, seinen innersten Wunsch erträumt, um ihn auf diese Weise wahr zu denken. Die Frau jedenfalls hatte ihn gestern entsetzt angesehen, als er ihr davon erzählen wollte. Sie hatte ihm kein Wort geglaubt, meinte, das Erfinden von Geschichten solle er sich für andere aufheben. Und so hatte er schnell geschwiegen. Er stand auf, ging zum Fenster, erkannte die grauen Schemen im Garten als die alte Eiche, die Buchsbaumhecken, die die kleinen Beete umfaßten, und den Lattenzaun, die Abgrenzung zu den umliegenden Wiesen, und nahm erst jetzt die Lichter rechts auf dem Weg wahr. Sie spiegelten sich leicht in der vom Regen feuchten Fensterscheibe.
In diesem Moment vernahm er Schritte auf dem Dielenboden, das Quietschen der sich öffnenden Tür. Noch ehe er sich umdrehen konnte, um zu sehen, wer hereinkam, vernahm er ein dumpfes Plopp, fühlte einen Schmerz in seinem Rücken, vernahm ein zweites Plopp, ein Klirren, fühlte den Boden, auf den er schlug, sah die zersprungene Fensterscheibe, sah das Photo, sah, wie sich langsam der blaue Himmel hineinfraß, ...nicht wieder das Bild verlieren, dachte er, wir müssen auf der Hut sein... , Maiglöckchenduft bückte sich über ihn... und dann sah, roch, fühlte er nichts mehr als den ewigen Sonntag...
 
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Kommentare  

huh, das ist mal eine echt gute story;) "inspirierend und einfühlsam" trifft es ziemlich gut. stark!

lg darkangel


darkangel (04.08.2007)

Puah....toll.
Inspirierend und einfühlsam.
Und wenn ich hier mal die O. Wilde Tradition als fortgesetzt nennen darf, so hast du doch eine viel
zeitgemässere Geschichte daraus gemacht.
Dankeschön...und bitte weiter so.


Oliver (08.10.2004)

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