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Ein Zug - Hort der Kommunikation

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Obwohl die Straßen mit Autos täglich geradezu gepflastert scheinen und die Autobahnen jeden Tag irgendwo irgendwelche Staus aufweisen, muß ich zu meiner eigenen Überraschung doch immer wieder feststellen, dass auch die öffentlichen Verkehrsmittel besonders zu den morgend- und feierabendlichen Zeiten bei Pendlern sehr beliebt sind. (Stellt sich die Frage, wo die ganzen Menschen bloß herkommen...)
Wie dem auch sei, nachdem ich, die ich kein eigenes Auto besitze, nun die letzten sieben Wochen wegen eines Praktikums täglich in die große Stadt, die viele fälschlicherweise für die hessische Hauptstadt halten und die den schönen Flughafen besitzt, fahren mußte, habe ich, wie ich stolz behaupten möchte, tiefe Einblicke in die Welt des Zugfahrens erhalten. Jener Kontakt mit vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebensweise hat mich zu gänzlich neuen Erkenntnissen geführt, von denen hier die Rede sein soll...

Ganz allgemein lässt sich die Spezies der Zugfahrer in zwei Gruppen teilen: Diejenigen, die in Gruppen fahren, und die anderen, die ?Einzelkämpfer?. Erstere (wobei jene nicht unbedingt als Team im Abteil auftauchen müssen, sondern sich u.U. erst im Zug entweder abgesprochen oder gerne auch zufällig treffen) können sich reger Unterhaltung erfreuen, während Letzteren meistens die Rolle des (un)freiwilligen Zuhörers zukommt. Besonders interessant ist das dann, wenn die Gesprächspartner gerade in emotional schwierigen Beziehungen stecken und der anderen Person in einer für ihre Trauer typischen Lautstärke (das Herz legt sich dabei nämlich auf den Hörnerv und mindert so die Hörfähigkeit, wie nepalesische Medizinstudenten jetzt herausgefunden haben) das große Leid klagen.
Beliebt sind außerdem (und das besonders mit Leuten, die man schon längere Zeit nicht mehr gesehen hat) Fragen über gemeinsame Bekannte, wie ?Du, was macht denn jetzt eigentlich der Timo? ... Ist der denn noch mit der Petra zusammen??
Ein letztes ebenfalls wichtiges Thema sind die kürzlichen Reiseziel: ?Letztes Wochenende waren der Felix und ich auf einer Party in Marburg. Geil, sag ich dir. Und nächste Woche geht es nach Berlin.?
Die drei Bs - Beziehung, Bekannte, Beweglichkeit - das sind also die Dinge, die ?Gruppenfahrer? interessieren und sie von den Einzelnen abgrenzen.

Nun zu den ?Einzelkämpfern?, die ich im folgenden nur noch mit EK aufführen will. Selbige erkennt man daran, daß sie - vielleicht um nicht den Anschein eines Außenseiters zu wecken - immer ein Handy bei sich tragen, das besonders (nur?!) beim Zugfahren zum Einsatz kommt.
Die Gruppe der EK jedenfalls lässt sich nun wiederum noch einmal in zwei Unterklassen unterteilen: diejenigen, die auf ihrem Handy angerufen werden, und diejenigen, die anrufen.
Bei den Angerufenen laufen die Gespräche dann so ab: Nach einem schrillen Klingeln, auf das man aber erst nach einer gewissen Zeit, die im Durchschnitt so zwischen 3-4maligem Aufheulen zumeist schrecklicher Melodien liegt, selbst wenn man das Gerät bereits in der Hand hält, wird dem Anrufer trotz des Namens im Display erst einmal vorgegaukelt, man sei ja so überrascht über den Anruf. Dann geht es weiter mit ?Ich sitz grad im Zug.? Danach endet das Gespräch irgendwo rapide, so dass sich dem Betrachter die Frage stellt, welchen Sinn und Zweck dieses Gespräche denn nun gehabt haben soll. Gerade wenn diese Anrufe zu den unmöglichsten Zeiten eingehen, kann ich mir den Gedanken nicht verkneifen, dass da jemand regelrecht angeheuert wurde, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Handynummer zu melden.
Die Unglücklichen, die ihrerseits niemanden gefunden haben, der sie anrufen wollte, müssen selbst zur Tat schreiten. Für gewöhnlich hat ihr Anruf den Nutzen, den billigen Abholdienst ?Mama & Papa? bzw. ?Ehefrau/Ehemann? anzuheuern: ?Ja, ich bin´s. Ich bin grad in Hersfeld und komme in zehn Minuten daheim an. Kannste mich abholen?? Was sich anhört wie eine harmlose Frage kommt in Wirklichkeit einer getarnten Aufforderung gleich. Just gestern habe ich erlebt, wie ein Mädchen am Telefon geradewegs pampig wurde, weil ihr Vater ihr gegenüber äußerte, möglicherweise nicht zum Bahnhof kommen zu können.
Andererseits kann ich die junge Frau natürlich auch verstehen: Wie steht man denn da, wenn man in aller Öffentlichkeit so eine Abfuhr auf eine an sich rhetorische Frage erhält?

Obwohl beim Zugfahren häufig gilt, das Gegenüber ja nicht zu offensichtlich und auch nicht in der Spiegelung im Fenster anzustarren, was gerade im Winter und in den frühen Morgenstunden der Dunkelheit wegen möglich ist, sollte man auch als EK nicht den Mut verlieren: Bisweilen sollen sich nämlich auch schon zwei EK im Zug gesehen, sich hemmungslos ineinander verliebt und später sogar geheiratet haben, wie geschehen zwischen Annegret (37) und Holger (42 ½). Vor zwei Jahren fiel dem gelernten Tischler und gebürtigem Essener auf der täglichen Fahrt von Kassel nach Göttingen die blonde Studentin der Sozialpädagogik sofort auf. Eines Tages fasste er sich schließlich ein Herz und legte ihr, in Anspielung auf sein eigenes, ein Milka-Herz auf ihren ?Stammplatz?, dazu eine Notiz in der ?für ihn so voll charakteristischen Handschrift? (O-Ton Annegret), ob sie nicht mal mit ihm zusammen einen Kaffee im Zugbistro trinken wolle. Wie es weiterging, dazu schweigen die beiden; stattdessen schauen sie sich tief in die Augen...

Wahre Freunde im Zug zu finden gestaltet sich da schon etwas schwieriger, was besonders daran liegt, dass manche Menschen, trotz eines vorherigen sympathisierenden Lächelns über die allseits bekannte Unfreundlichkeit des Schaffners oder Verspätungen, an einem Bahnhof oft ohne Vorwarnung und ohne jeglichen Gruß aussteigen. Kann man hier also, wie im Falle der Großstädte oder Universitäten, von einer ?Anonymität der Nahverkehrszüge? sprechen, oder doch eher von der sprichwörtlichen deutschen Unfreundlichkeit gegenüber Fremden?

Sei es wie es ist, bei der Frage ob Auto oder Bahn scheiden sich die Geister. Für den einen ist klar, ?die Bahn kommt?; für den anderen zählt der Komfort eines eigenen, fahrbaren Untersatzes. Eins jedoch steht fest: Autofahrer, jedenfalls diejenigen, die nicht an jeder Straßenecke einen Anhalter mitnehmen und ihren Twingo dementsprechend schon mal mit fünf Fremden teilen, und das ist jawohl die große Mehrheit, werden niemals ihre Zeit unterwegs mit so vielen anderen teilen. In diesem Sinne: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann fahren sie noch heute...

 
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Kommentare  

Eine durchaus amüsante Story, kommt aber nicht an 'Wirklich lustig ICE' von Alice heran. Schöne (aber halt sinnlose) Beobachtung, gut formuliert und eingeteilt in Anfang, Hauptteil und Schluss. Gut gelungen

Gut.


Redfrettchen (10.01.2004)

Hoppla, da gibt es ja tatsächlich eine Seelenverwandte. Aber ich muß Dich tadeln: Du hast vergessen, ein paar Gruppen aufzuführen (Die Saufgelage-autofahrergang, die Tenniegruppe, oder besser bekannt als der aktustische Balsam einer Kreissäge, der BuchEK, der still sein Buch liest aber unerwartet zum Amokläufer wird usw. usw.)

Für die Geschichte müßte man Dir eigentlich 10 Punkte geben.


paradis_3001 (24.03.2002)

Interessant und humorvolle gestalteter Einblick in die Lebensgewohnheiten von Homo eisenbahnensis. Erfrischende Umsetzung einer guten Idee. Weiter so!

Stefan Steinmetz (25.02.2002)

Eine gelungene Story aus scharfen Beobachtungen geschrieben ... ich hoffe bald noch mehr von dir zu lesen ^-^

Jingizu (30.01.2002)

Gut beobachtet... hehe, da muß ich woll mal die Punkte nach oben hin aufbessern...

Maegumi (14.01.2002)

Weniger eine unterhaltsame Storie sondern eher eine Analyse der Bahnreisenden aber gut beobachtet.
Für die gute Beobachtung 1 Punkt.


Wolzenburg-grubnezloW (31.10.2001)

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