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4 Seiten

Es wäre eine Chance

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Yanne
`Ich würde jeden Job annehmen, jeden.´ Regentropfen liefen über Susannes Gesicht. `Ja, natürlich, ich bin ein Held! Würde! Würde! Wenn hätte, wäre! - Toll!´ Sie ging langsamer. Die Einkaufstaschen zogen an ihren Armen.


Zu Hause war sie beeindruckt, doch angekommen zu sein. `Wie ein Brustschwimmzug im Teer... Der Kunze hat recht, genauso fühlt es sich an, an schlechten Tagen. Aber heute Abend kommt Fred. Mal sehen...´


Zuerst sahen sie sich Susannes Aquarelle an. Als Einstieg sozusagen. Fred nahm sich Zeit.

"Sie gefallen mir.", sagte er schließlich "Also, die Qualität. Aber in meine Wohnung würde ich sie nicht hängen – die Farben sind mir zu dunkel."

`Nett, dass du dir das anguckst, aber Ahnung hast du nicht.´ Susanne lächelte freundlich und legte die Bilder zurück in die Mappe:

"Nun erzähl´ doch mal, welches Geschäft du mir vorschlagen wolltest! Soll ich in deine Versicherungen mit einsteigen? Ich bin ganz gespannt!"

"Nein. Das ist es nicht. Ich habe schon lange keine Lust mehr auf den Stress und meinen Chef! Ich bin auf eine wunderbare Geschäftsidee gestoßen. Jeder kann sie von zu Hause ausüben und hat gute Aufstiegschancen."


Fred holte Hochglanzprospekte aus seinem Aktenkoffer und breitete sie auf dem runden Wohnzimmertisch aus. Sie zeigten glückliche Menschen in sauberen Häusern:

"Das Geschäft kommt aus Amerika und nennt sich "MyWay". Man verkauft Produkte von ausgezeichneter Qualität und überzeugt andere, diese Produkte zu kaufen oder damit zu handeln. Das Gute ist, dass jeder mitmachen kann, egal, was er gelernt hat, wie alt er ist oder ob er vielleicht sogar gerade eine schwere Krankheit durchgestanden hat."

"Und wie funktioniert das?"

Fred zauberte eine Auswahl von Produkten auf den Tisch: Es waren Vitamine.

Als Fred ihr die Preise nannte, war Susanne empört: "Das ist unverschämt!"

Fred musste ihr erst die Besonderheiten dieser Vitamine erklären, die mit denen aus der Drogerie oder der Apotheke nicht zu vergleichen wären. Nach einer halben Stunde war Susanne überzeugt und kaufte Fred eine Packung Vitamin C ab.

"Wiederverkäufer bekommen besonders gute Preise.", Fred lächelte verheißungsvoll: Susanne könne doch am nächsten Mittwoch einmal unverbindlich zur Produktschulung mitkommen.

"So wahnsinnig interessant ist das nicht."

Als Fred ihr vorrechnete, was sie einmal verdienen würde und versprach, sie mit Leuten bekannt zu machen, die heute schon durch "MyWay" zu Wohlstand gekommen waren, sagte sie zu.
*
Im Konferenzsaal des Parkhotels waren mindestens 150 Leute anwesend und es herrschte Goldgräberstimmung. Bevor es richtig losging, bildeten sich hier und da kleine Gruppen, die intern über Erfahrungen und Strategien fachsimpelten. Viele drängten sich um den Büchertisch mit Fachliteratur zu Marketing, Kommunikation und Vitaminen.


Gegen 20.00 Uhr begab man sich auf die Plätze. Eine Weile herrschte erwartungsvolles Schweigen. Dann trat eine gut gekleidete Dame unter tosendem Beifall auf die hell erleuchtete Bühne.

"Das ist die Gebietsleiterin." flüsterte Fred.

"Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, liebe Neueinsteiger und Freunde! Ich bin begeistert! Begeistert darüber, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben, hierher zu kommen! Wie ich sehe, haben Sie mit Ihrem Leben etwas vor! ..."


Im Laufe der Veranstaltung kamen viele Mitarbeiter von MyWay auf die Bühne. Alle wurden mit herzlichem Applaus begrüßt. Da konnte kommen, wer wollte. Bei Susanne würden sie sicher auch klatschen...

Es wurde von Lebenszielen gesprochen. Meistens waren es Autos, Häuser, Reisen. Susanne war beeindruckt: An diesem Abend wurde mehrfach ausgerechnet, dass es gar nicht so schwer wäre, reich zu werden. Die Leute auf der Bühne hatten es schon geschafft oder waren auf dem besten Weg dorthin. Das war genau die Chance, auf die Susanne so lange gewartet hatte!


Schon am nächsten Tag investierte sie einen Teil ihrer eisernen Reserve in die Eintrittsgebühr und eine Auswahl der wichtigsten Produkte. Das Topfset stellte Fred ihr aus seinem Fundus zur Verfügung. Das hätte sie ihm gar nicht zugetraut.


Nun musste eine Telefonliste aller Freunde, Bekannten und Verwandten aufgestellt werden. Die waren nach und nach anzurufen und zu Produktpräsentationen einzuladen.

Annelie und Tim gingen tagelang ohne ihre Gute-Nacht-Geschichte schlafen. Das war nicht zu verhindern - das Geschäft ging erst einmal vor.

Manchmal machte Fred sich den Spaß – wie er sagte – den Kindern vorzulesen. Es entspanne ihn. Auch gut!

Wenn Susanne die Lust verlor, hörte sie wieder und wieder die Cds von MyWay: "Sieg durch Motivation" oder "Freiheit und Wohlstand", die Fred ihr geliehen hatte. Susanne übte das Positive Denken und verstand es, ihr Handeln danach einzustellen. Bekannten und Freunden brachte sie nun in jeder Situation ein strahlendes Lächeln entgegen und antwortete auf die Frage, wie es ihr ginge, stets, es ginge ihr phantastisch. Ihre beste Freundin Petra fand das befremdlich und selbst Fred fragte nach, ob es Susanne denn wirklich so gut ginge.
Es war keine Seltenheit, dass Jemand Startschwierigkeiten hatte und zu einigen Menschen würde das Geschäft gar nicht passen. Susanne fand, das Geschäft passe ganz hervorragend zu ihr. Schon lange wollte sie offener auf ihre Mitmenschen zugehen – und jetzt wäre sie gezwungen, es zu lernen!


Natürlich musste Susanne, um verdienen zu können, weiterhin Geld ausgeben. Wer hochwertige Produkte vorstellen will, muss sie auch da haben und dann im besten Fall mit 30% Gewinn an Freunde und Verwandte verkaufen. Ihre Eltern wollte Susanne allerdings nicht anpumpen. Noch ging es.


Susanne besuchte nun jede Schulung von MyWay. Noch nie hatte sie so viele Menschen erlebt, die von ein und derselben Sache so begeistert waren und am selben Strang zogen. Vorher war ihr auch nicht klar gewesen, wie sehr persönliches Glück mit dem Willen und der Motivation zusammenhingen.


Als sie eines Mittwochs eine Veranstaltung wegen Krankheit versäumte, empfand sie das als Verlust. Annelie und Tim versorgten die Mutter mit Tee und fragten, warum denn jeden Tag jemand anderes im Wohnzimmer säße. Susanne erlaubte sich einen Seufzer:

"Das gehört nun mal zum Geschäft."

Die Kinder fanden das blöd. Und auch die CDs gefielen ihnen nicht:

"Warum schreien die da so laut?"

Susanne antwortete verstimmt, dass sie nichts von professionellem Auftreten verstehen würden und dass ja nun irgendwie das Geld für sie Drei verdient werden müsse.

Danach sagte sie ihre Abendtermine bis zum Wochenende ab. Stattdessen gab es ausnahmsweise Kuscheleinheiten und lange Geschichten.

Am Freitag würde Susanne schließlich mit Fred und anderen Geschäftsfreunden nach Bayern zum großen Bundestreffen von MyWay – dem Event des Jahres - fahren. Da konnte man mal eine Ausnahme machen.


Das Kofferpacken am Donnerstag entwickelte sich allerdings zum Desaster: Was sollte sie anziehen?! Fred zu Folge wäre professionelles Auftreten natürlich erwünscht. Fred hatte damit noch nie Probleme gehabt. Er war schon immer ein Anzugtyp gewesen. Susanne kaufte sicherheitshalber einen eleganten Blazer.


Freitagfrüh stand Susanne mit dem Koffer vor ihrer Haustür. Sie schloss die Augen und genoss die Morgensonne auf ihrem Gesicht.

Fred kam pünktlich. Susanne war die Erste der Fahrgemeinschaft. Sie blickte noch einmal zu ihrem Wohnzimmerfenster hoch und stieg dann ins Auto:

"Na, dann mal los", sagte sie leise und schaltete die Motivationskassette "Der Weg zum Erfolg" aus.

Fred bog rechts in die Hobbesstraße ab. An der Ampel ordnete er sich rechts ein. Als der Blinker das nächste Mal rechts anzeigte, sah Susanne ihn fragend an:

"Bist du sicher?!"

Fred nickte, fuhr durch die Kantstraße hindurch und blinkte dann wieder rechts.

In der Hegelstraße hob Susanne ihr Gepäck aus dem Kofferraum und winkte frohen Mutes, bis Freds Wagen nicht mehr zu erkennen war.
 
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Kommentare  

war

kalliope-ues (07.04.2007)

Sag mal, mar dein letzter komm ein aprilscherz vom letzten jahr? Das steht doch aaaalllles in deiner Geschichte, nur dort viiiiiieeel besser. Sanne gehört zu annelie und tim, und fred ist ein wirklicher freund!
lg
ues


kalliope-ues (07.04.2007)

Danke für den Kommentar, Chris.
Jetzt muss ich wohl doch erklären, was ich gemeint habe und wäre froh, wenn ihr mir mitteilt, ob die Geschichte dann, im Nachhinein, für euch aufgeht:
Susanne hat finanzielle Probleme und hofft, durch "MyWay" zu viel Geld zu kommen. Sie investiert ihre letzten finanziellen Reserven und stürzt sich hochmotiviert in die "Arbeit". Dabei tut sie viele Dinge, die ihr überhaupt nicht liegen; lädt z.B. ständig Leute ein, was sie offenbar vorher nicht tat (an der Frage der Kinder erkennbar), nimmt sich für die Kinder wenig Zeit und versucht, immer freundlich und fröhlich zu sein, so, wie es in diesen viel gelesenen Motivationsbüchern halt steht. Im Grunde weiß sie, dass der Job nichts für sie ist. Allerdings klammert sie sich an diese Hoffnung, Geld zu verdienen und kann nicht loslassen.
Fred ist ihr sehr freundlich gestimmt, vielleicht ist es sogar mehr, aber das soll in dieser Geschichte nicht behandelt werden. Zumindest beobachtet er, wie Susanne sich abmüht und versucht, sie zu entlasten (finanziell: stellt ihr erstmal sein Topfset zur Verfügung, ideell: liest den Kindern vor) und spricht sie auch direkt darauf an. Susanne will immer noch nicht loslassen.
Als sie aber in Freds Auto steigt, sagt sie leise: "Dann mal los.", schaut zu ihrem Fenster hoch und stellt die Motivationskassette aus.
Anscheinend braucht sie einen deutlichen Anstoss, "MyWay" sein zu lassen. Fred fährt mit ihr um den Block und hält vor ihrer Haustür.
Susanne nimmt seinen Wink mit dem Zaunpfahl jetzt an und steigt aus. Sie ist erleichtert und winkt zum Abschied.
Liebe Grüße


Yanne (01.04.2005)

Ob es eine Statistik dazu gibt, wie viele Arbeitslose sich auf diese oder ähnliche Weisen abzocken lassen?
Auf jeden Fall ist das eine interessante Geschichte. Das Ende hat mich allerdings etwas verwirrt. Wenn ich das richtig verstanden habe, fährt Fred einmal um den Block und liefert Susanne wieder Zuhause ab. Aber warum? Und wessen Idee war das?


Chris Stone (31.03.2005)

Danke für deinen Kommentar, rosmarin. Ich war sehr erstaunt, wie du diese Geschichte liest. Bevor ich beschreibe, was ich damit sagen wollte, möchte ich noch ein bisschen warten. Vielleicht schreibt ja noch Jemand etwas dazu und ich möchte noch nichts vorgeben...
Liebe Grüße


Yanne (24.03.2005)

bis jetzt liest sich die geschichte wirklich gut, ich finde sie zum schmunzeln, solche und ähnliche situatonen kommen mir bekannt vor.
aber, die geschichte hat kein ende, oder sollte sie zu ende sein? dann verstehe ich es irgendwie nicht.

übrigens - immer optimist ist auch mist.
ich persönlich halte nichts von solchen motivationslehrgängen und , oder büchern.

lg
rosmarin


rosmarin (23.03.2005)

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