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27 Seiten

Eimerweise

Romane/Serien · Spannendes
© Anetreus
Eimerweise

1 - Wie hässlich ein Tag enden kann

Es klingelte an der Haustür, ich öffnete und da stand ein Typ in dunkelblauem Anzug und mit einem dunkelblauen, schmalen Aktenkoffer in der Hand. Sein Gesicht war unbeschreiblich: Es entbehrte jeglicher auffälliger Merkmale und war geradezu grotesk normal. Er schien eine Mischung aus Sekretär, Versicherungsvertreter und in Zivil getarnter Polizist zu sein.
„Sind Sie Peter Batt?“ fragte der Fremde mit einer unverbindlich freundlichen und betont harmlosen Stimme, wie man sie von manchen langjährigen Telefonisten kennt.
Wäre ich ein Held aus einem Abenteuerroman hätte ich jetzt mit zusammengekniffenen Augen gegengefragt 'Wer will das wissen?'. Stattdessen antwortete ich „Ja“, mit einem leicht fragend gedehnten 'a' und ausdruckslosem Gesicht.
„Keine Sorge, es dauert nicht lang“, sagte der Fremde, ohne sich vorzustellen. „Ich habe da etwas für Sie.“
Er griff in die Innentasche seines Jacketts und wäre ich ein Held aus einem Abenteuerromen, wäre ich jetzt in Deckung gesprungen. Stattdessen blieb ich brav stehen und wartete ab.
Der Mann zog eine Pistole hervor. Jetzt wären bestimmt auch eine Menge anderer Helden aus fast jedem beliebigem Romangenre in Deckung gesprungen, doch ich starrte die Waffe nur ausdruckslos an, während mein Gehirn dieses unalltägliche Bild zu verarbeiten versuchte und vergeblich nach Erfahrungswerten suchte.
Der Mann richtete die Waffe auf meine Stirn und drückte ab.



2 - Feuchtweise

Aus dem Lauf der metallisch grauen Waffe schoss mit gnadenloser Präzision – was bei der kurzen Distanz kein großes Können verlangte – ein unaufhaltsamer, erbarmungsloser Wasserstrahl und traf mich mitten auf die Stirn.
Ich blinzelte.
Während das Wasser an meiner Nase entlang Richtung Kinn lief, steckte der Mann die Tatwaffe wieder in die Innentasche seines Jacketts, betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe neben meiner Tür, rückte seine Krawatte zurecht und ging anschließend fort.

Ein Verrückter? Jemand, der mir einen Streich spielen wollte? Ich wusste keine Erklärung für dieses absonderliche Ereignis, aber da daraufhin nichts weiter geschah, tat ich es als skurriles Alltagsbrucherlebnis ab. Die Gesellschaft, in der ich lebte, hatte mir keine geeigneten Verhaltensweisen beigebracht, wie man auf so eine Situation reagieren sollte, also ignorierte ich sie.
Ich hätte die Sache fast vergessen, als zwei Wochen später folgendes geschah: Es klingelte an der Tür, ich öffnete und da stand ein Mann, der Anzug und Aktenkoffer trug. Ich hätte die Tür sofort zuschlagen sollen, doch stattdessen sah ich zu, wie der Fremde in die Innentasche seines Jacketts griff.



3 - Peterduo

Der Mann zog aus der Innentasche eine Visitenkarte heraus und reichte sie mir.
„Peter Schmidt – Städtisches Amt für Konstruktionsinterne Standardstatik“, sagte er dazu.
„Peter Batt“, stellte ich mich etwas lahm vor. Der Herr Schmidt vom städtischen Amt für Habe-ich-schon-wieder-vergessen trug den selben Vornamen wie ich. Irrationalerweise erschien er mir dadurch etwas vertrauenswürdiger.
„Darf ich kurz hereinkommen?“ fragte Herr Schmidt. „Es geht um amtliche Dinge Ihr Haus betreffend.“
„Klar.“
Ich führte ihn ins Wohnzimmer, wir setzten uns an meinen Tisch und er legte seinen Aktenkoffer darauf.
„Sie fragen sich jetzt sicher, was Sie mit dem Amt für Konstruktionsinterne Standardstatik zu tun haben“, sagte Herr Schmidt und lächelte freundlich, während er den Deckel seines Koffers aufspringen ließ – allerdings so, dass ich nicht hineinsehen konnte.
„Ja.“
„Nun“, sagte er weiter, während er hinter dem Kofferdeckel herumhantierte, „das lässt sich ganz einfach erklären.“
„Aha.“
Es erklang ein Schraubgeräusch, dann ein Klicken.
„Es war nur eine Ausrede, um in Ihr Haus zu kommen“, sagte Herr Schmidt, ließ den Deckel sinken und hatte plötzlich eine große Pistole mit aufgeschraubten Schalldämpfer in der Hand. Ich muss wohl nicht sagen, was Helden aus Abenteuerromanen nun getan hätten. Doch ich blieb im Bann dieser absurden Situation reglos sitzen, während Herr Schmidt die Waffe auf meine Stirn richtete und abdrückte.



4 - Konsequentenattraktiver Überfluss

Ich zuckte zusammen, als der Wasserstrahl meine Stirn traf. Es war ein nicht mehr ganz so unbekanntes Gefühl, aber dennoch in seiner Absurdität paralysierend genug.
Herr Schmidt schraubte mit geübten Händen den Schalldämpfer ab, legte die Waffe in den Koffer, klappte den Deckel zu und verließ mein Haus.

Dies war nun nicht mehr zu ignorieren. Irgendetwas Seltsames ging hier vor. Zwei fremde Menschen spritzten mir Wasser ins Gesicht und das mit einer erschreckenden Ernsthaftigkeit und Professionalität. Würde es noch ein drittes Mal geschehen? Wohlmöglich ein viertes, fünftes, sechstes Mal?
Ich war nervös. Das letzte Ereignis hatte mir demonstriert, dass ich in meinen eigenen vier Wänden nicht sicher war.
Der Rest des Tages verbrachte ich unruhig und grübelnd. In der Nacht fand ich kaum Schlaf. Schließlich, etwa um fünf Uhr dreißig, wurde mir klar, dass ich Hilfe brauchte.
Zur Polizei gehen? Warum? Weil mir jemand Wasser ins Gesicht gespritzt hatte? Herrn Schmidt hatte ich sogar freiwillig in mein Haus gelassen. Selber schuld.
Nein, es gab nur einen Menschen, der mir helfen konnte.
Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer von Eimerweise.



5 - Eimerweise Eimerweise

Eimerweise hieß eigentlich Elmer Wiese. Ein Elefant, der in einen alten Autoreifen getreten war und panisch feststellen musste, dass er ihn nicht mehr loswurde und die Tatsache, dass ich damals meine Tassen noch in einem anderen Schrank stehen gehabt hatte, ließen den heute noch verwendeten Spitznamen entstehen – an den genauen Zusammenhang konnte ich mich aber nicht mehr erinnern.
Elmer Wiese alias Eimerweise war ganz anders als ich. Als ich oben gelegentlich den Helden eines Abenteuerromanes erwähnte, hätte ich stattdessen auch Eimerweise schreiben können. Eimerweise war eine Art Romanheld. Groß, kräftig, gutaussehend, intelligent, eidetisches Gedächtnis, begehrt von einer Reihe schöner Frauen, beliebt bei Jung und Alt und natürlich wohlhabend. Und wie bei einem Romanhelden existierten all diese Eigenschaften nur in der Fantasie seines Autors. Der Autor war in dem Fall Elmer Wiese.
Ja, das war jetzt eine umständliche Erklärung seines Geisteszustandes. Sagen wir mal so: Eimerweise sieht sich selbst anders, als andere Menschen. Er sieht auch andere Menschen anders, als sie sich selbst. Und er ist der festen Überzeugung, dass andere Menschen ihn anders sehen, als sie es sehen, wobei er glaubt, dass andere Menschen es ebenso so sehen, wie er es sieht.
Sie sehen jetzt vermutlich ebenso wie ich es es sehe, wohin weitere Erklärungen führen, also spare ich mir das und komme zur nächsten Szene.
Am anderen Ende wurde der Hörer abgehoben und ein gellender Schrei erklang aus der Hörmuschel meines Telefons, dann eine kurze Pause, in der jemand tief Luft holte und ein zweiter Schrei.



6 - Doppelversum

"Moment, ich höre ein eingehendes Signal meines Kommunikators", sagte Eimerweise zu seiner Sekretärin.
"Das ist das Telefon", sagte Marion automatisch, auch wenn sie wusste, dass ihr Vater ihre Worte nicht so verstehen würde, wie sie sie ausgesprochen hatte, sondern vermutlich so etwas wie 'Das ist eine externe Verbindungsanfrage.' Am traurigsten empfand sie jedoch die Tatsache, dass er in ihr seine Sekretärin und nicht seine Tochter sah. Andererseits war das recht praktisch und gerade in dem Milieu, mit Marion es zu tun hatte, sorgte diese Spinnerei für eine höhere Überlebenschance.
"Das denke ich auch", antwortete Eimerweise, hob den Hörer ab und entschied sich für eine matruskische Begrüßungsformel. Sie war im größten Teil des Universums eine verbreitete Kommunikationsform und gerade dann sinnvoll, wenn mal wieder die Bildübertragung des Kommunikators ausgefallen war. Während er die Grußlaute sprach, machte sich Elmerweise eine gedankliche Notiz, seine Sekretärin damit zu beauftragen, jemanden aus der Technikabteilung mit der Reparatur zu beauftragen.
Marion hielt sich die Ohren zu und hoffte, dass niemand Wichtiges am anderen Ende der Leitung war. Sie entschuldigte sich bereits im Geiste bei der armen Person, dass sie es nicht geschafft hatte, schneller als ihr Vater am Telefon zu sein.
Dann stellte sie sich die Frage, wer denn Nachts um fünf Uhr dreißig hier anzurufen hatte?



7 - Endliches Telefonat

Ich hatte Glück, es war Eimerweise selbst am Telefon. Niemand sonst würde so ein Spektakel veranstalten. Vermutlich war seine schreckliche Tochter irgendwo in dieser Nacht unterwegs und schlug Leute zusammen.
"Hallo, Eimerweise, ich bins: Peter."
"Sei gegrüßt Peter! Verzeih mir, dass ich mich in matruskisch gemeldet habe – ich hatte in letzter Zeit viel Kundschaft aus den inneren Raumsektoren."
"Wie gehts dir so?"
"Seit wir den Photonen-Puzzler-Schmugglerring zerschlagen haben, ist eigentlich nichts Besonderes mehr geschehen. Meine Sekretärin war acht Tage im Urlaub und nun müssen wir einen Haufen Datenkram aufarbeiten -" Ich hörte, wie Elmer von einer weiblichen Stimme kurz unterbrochen wurde. "Ich soll dich übrigens von ihr grüßen."
Ich rollte mit den Augen. War dieses Weib also doch da.
"Danke. Weswegen ich anrufe: Ich hab da ein merkwürdiges Problem."
"Spezifiziere!"
Ich erzählte ihm, was geschehen war.
"Faszinierend!" rief Elmer aus. "Das hört sich nach Hydrofikationsstrahlern an. Sind leicht durch den interplanetarischen Zoll zu schmuggeln, allergings ist ihre Schadenswirkung nur sehr begrenzt. Sei froh, dass du kein Kmecko bist! Doch ich frage mich, warum jemand versuchen sollte, dich zu hydrofizieren, wo du doch ein Homo Sapiens bist, und kein Kmecko. Hattest du vielleicht in letzter Zeit kmeckonischen Besuch?"
Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ein Kmecko sein sollte.
"Ähm, nein, ich denke nicht. Nur Menschen, ähm, Homo Sapiens, hier."
"Das ist seltsam. Ich denke, es ist besser, wenn ich ein paar Tests an dir durchführe."
"Sehr gut. Wann kannst du hier sein?"
"Marion, ist unser Gaskissengleiter bereit? Nein? Und der Reziprovationsrucksack? Auch nicht? Hm, was ist mit der Quantoporteliescheibe? Also Fäullein Marion, Sie sollten unsere technische Ausrüstung doch etwas besser im Blick haben, bitte! Dann werde ich einen Raumanzug anlegen und zu Fuß gehen, wie ein Höhlenmensch!"
"Die Krater sehen gerade ziemlich frei aus", sagte ich und grinste angesichts der Tatsache, dass Marion von ihrem Vater für seine Phantasieprodukte zurechtgewiesen wurde.
"Gut", antwortete Elmer, "meine geschätzte Ankunftszeit beträgt T minus neunzehn Minuten und einunddreißig Sekunden."



8 - Wunschüberfüllung

Es war Viertel vor sechs Uhr in der Nacht, als es an meiner Tür klingelte. Misstrauisch warf ich einen Blick durch das Fenster, doch es war nur Elmer Wiese. Ich musste unwillkürlich grinsen, als ich seine markante Erscheinung sah, und vor allem, wie er da mit eckigen Bewegungen einen abgenutzten Radiergummi in der Luft herumbewegte, als nehme er mit einem empfindlichen Instrument Messungen vor.
Elmer Wiese war ein vierzigjähriger Brillenträger von kleiner Statur, hatte eine Glatze, einen zerzausten Vollbart, einen vorquellenden Bauch und schmale Schultern. Dennoch schaffte er es auf einen herabzublicken, als sei er zwei Meter groß, bewegte sich mit jugendlichem Schwung und fuhr sich gelegentlich mit der Hand über seine Glatze, als hätte er volles Haar.
So auch, als ich ihm die Tür öffnete. Lächelnd blickte ich zu Elmer Wiese herunter, bzw. zu Eimerweise herauf.
"Schön, dich mal wieder zu sehen, Eimerweise!"
Elmer ließ den Radiergummi sinken und lächelte freundschaftlich.
"Die Freude ist ganz meinerseits, Peter!"
"Und ich freue mich auch", sagte eine weibliche Stimme hinter Elmer, deren Klang das Gegenteil ihrer Worte ausdrückte.



9 - Schattenabo

Meine Laune sank sofort um eine Größenordnung, als Marion aus den nächtlichen Schatten trat – wie machte sie das nur? Hatte sie ein Abo auf günstig fallende Schatten?
Marion war ebenso klein wie ihr Vater, hatte die gleiche kurze Nase und die braunen Augen. Ihr Haar war in einem Bürstenschnitt verunstaltet und schwarz. Sie lebte zwar nicht in einer totalen Phantasiewelt, doch als geistig gesund würde ich sie nicht bezeichnen. Sie werden später noch sehen, was ich meine.
"Oh, äh, hallo Marion. Tja, dann kommt doch mal rein."
Elmer zeigte seinen Radiergummi vor.
"Ich habe mir erlaubt ein paar multispektromatische Untersuchungen an deiner Eingangsschleuse vorzunehmen, bevor die Sonnen aufgehen und alles verstrahlen."
"Schon okay. Und? Ist was dabei herausgekommen?" fragte ich und versuchte mir vorzustellen, dass das Radiergummi in Elmers Hand ein hochkompliziertes Messgerät war.
"Leider nicht. Die Personen haben keinerlei ungewöhnliche Strahlung hinterlassen", sagte Eimerweise und steckte den Radiergummi in die Hosentasche.
Ich trat zur Seite, damit meine Gäste eintreten konnten.
"Ach übrigens", sagte Marion im Vorbeigehen, "der Typ in deinen Garten ist nur bewusstlos, nicht tot."
"Was?!" rief ich aus, trat nach draußen und entdeckte einen jungen Mann, der reglos auf meinem Rasen lag, direkt hinter der Hecke, die mein Grundstück vom Gehweg trennte. Neben ihm lag eine Bierflasche, deren Inhalt meinen Rasen wässerte. Vermutlich ein Betrunkener, der das Pech gehabt hatte, einem realitätsentflohenen Mann und seiner kranken Tochter in die Arme zu laufen.
"Mann, dein Gehör hat sich immernoch nicht verbessert", maulte Marion von innen.
Ich starrte den bewusstlosen Mann eine Weile an, aber wie der Leser sicher schon bemerkt hat, war ich nicht der Typ, der irgendetwas unternahm – schlechte Vorraussetzung für einen Romanhelden, aber dafür war ja Eimerweise da.
Ich akzeptierte die Tatsache kopfschüttelnd und kehrte ins Haus zurück. Dort erwartete mich das nächste Bild des Schreckens.
"Nein!"



10 - Nirobyl

Marion, wie immer in Nadelstreifenanzug, hatte sich auf meinem Fernsehsessel breit gemacht, ihre teuren italienischen Schuhe auf meinem Glastisch gelegt und griff nach der Fernbedienung. Gleichzeitig kroch Eimerweise über meinen Teppich, zupfte mit einer Pinzette einzelne Fasern heraus und betrachtete sie unter einer Lupe.
"Könntest du vielleicht die Füße vom Tisch nehmen?" schalt ich Marion. "Und fass bitte nichts -"
"Ha!" rief Eimerweise in dem Moment aus und hielt seine Pnizette triumphierend in die Höhe.
Marion grinste mich an und deutete mit dem Daumen auf ihren Vater.
"Hör lieber zu, was er dir erzählt."
"Das ist der Splitter eines Nirobylkristalles!" sagte Eimerweise, stemmte sich in die Höhe, hielt mir die Pinzette vor die Nase und reichte mir die Lupe. "Schau selbst."
Ich nahm die Lupe und betrachtete Eimerweises Fund. Es war ein gewöhnliches Sandkorn.
"Aha", sagte ich.
"Diese Kristalle entstehen beim Verbrennen von Nirobylfiltern, welche wiederrum beim Entstrahlen von Trinkwasser eingesetzt werden", erklärte Eimerweise. "Ich nehme nicht an, dass du dich in letzter Zeit am Wasserentstrahlungswerk herumgetrieben hast?"
"Nein, durchaus nicht", bestätigte ich. Inzwischen hatte Marion den Fernseher angeschaltet, zappte durch die Kanäle und erhöhte die Lautstärke. Bevor ich deswegen etwas sagen konnte, klingelte plötzlich mein Telefon.
Ich sah auf die Uhr. Wer rief um sechs Uhr morgens an? Ich ging zum Telefontischchen und nahm den Hörer ab. Marion stellte den Fernseher auf Stumm – geistesgegenwärtig war sie, das musste man ihr lassen.
"Hallo?" fragte ich, während mich Eimerweise und Marion gespannt beobachteten.
"Spreche ich mit Peter Batt?" fragte eine männliche Stimme.
"Ja."
Plötzlich traf mich etwas ins Ohr und ich schrie auf.



11 - In Flammen!

Eimerweise beobachtete, wie sein Freund zusammenzuckte und offenbar von einem Wasserstrahl ins Ohr getroffen wurde, der direkt aus dem Kommunikator kam. Peter ließ das Gerät fallen, puhlte sich erschrocken im Ohr und eilte dann ins Badezimmer. Eimerweises innerhalb von Sekundenbruchteilen durchgeführte Schlossfolgerung fiel sofort auf eine telekommunikativ aktivierte Hydrofikation. Er zog aus der Tasche seines Universalanzuges einen Punktuellanalysator heraus, eilte zu Peters Kommunikator und nahm eine Probe von der Flüssigkeit. Seine Sekretärin reaktivierte derweil den Monodirektionalen Massenkommunikator und arbeitete sich gründlich durch die Kanäle durch, auf der Suche nach verborgenen Informationen, die der Situation vielleicht dienlich sein konnten. Eimerweise hörte mit einem Ohr hin, denn er wusste, dass seine Sekretärin – so engagiert sie auch war – nicht die perfekte Form der subsynoptischen Dateninterpretation beherrschte, wie Eimerweise, der diese Technik vom Primären Prälaten des Schwarzen Tempelmondes persönlich gelernt hatte.
Eimerweises messerscharfer Blick (verstärkt durch interzelluläre Nanonik) ruhte auf der Anzeige des Punktuellanalysators und nahm die holografisch ausgestrahlten Daten auf. Zeile um Zeile gab das Gerät aus, während es die Flüssigkeit, die Peters Ohr getroffen hatte, in seine subatomaren Bestandteile auflöste und quantenmechanische Tests vornahm.
Noch wenige Sekunden, dann würde das Geheimnis dieser Flüssigkeit gelüftet sein und Eimerweise konnte einen Plan entwickeln, wie die Hydrofikations-Konspiration aufgedeckt und neutralisiert werden konnte.
Doch soweit sollte es nicht kommen.
Ein rotes Warnlicht blinke plötzlich am Punktuellanalysator auf, dann gab es einen Knall und blaue, kugelförmige Flammen quollen aus dem Gerät hervor. Fisionsfeuer! Bevor Eimerweise reagieren konnte, war der energetische Effekt bereits auf seine Hand übergesprungen und fraß sich in sein Fleisch.
Eimerweise schrie vor Schmerzen auf, doch er war stark genug, dem Drang zu wiederstehen, das brennende Gerät fortzuschleudern. Denn dann würde es das Habitat seines Freundes entzünden und niederbrennen. Fisionsflammen waren nicht mit normalen Mittel zu löschen – erstrecht nicht durch die Standardlöschanlage eines Wohnhabitates.
Selbstlos hielt Eimerweise die Quelle seiner Pein fest und lief mit einem langgezogenem Schmerzensschrei zur Haustür.
Er musste es schaffen schnell genug zu einem Desintegrationsschacht zu kommen – schnell genug, bevor ihm die Hand abbrannte!
Doch Eimerweises Kurs fand ein jähes Ende – die Dinge hatten sich auf grausame Weise gegen ihn verschworen.



12 - Heldentat am Morgen

Ich hatte mein Ohr abgetrocknet und kam gerade aus dem Badezimmer zurück, als Elmer einen schmerzerfüllten Schrei ausstieß. Ich eilte ins Wohnzimmer und sah, wie Elmer mit der rechten Hand einen Kugelschreiber so krampfhaft gepackt hielt, als wolle er ihn zerquetschen. Mit der linken Hand hielt er sein rechtes Handgelenk umklammert, als ob seine rechte Hand schrecklichen Schmerzen ausgesetzt sei. Marion war aufgesprungen und beobachtete aufmerksam ihren Vater – weniger in mitfühlender Art, sondern darauf gefasst, dass sie Szene sich noch weiterentwickeln würde.
Darauf konnte man sich bei Eimerweise verlassen.
Schreiend rannte er los und schien aus dem Haus flüchten zu wollen, den Kugelschreiber weit von sich gestreckt.
Doch seine Flucht fand ein so jähes Ende, dass ich zusammenzuckte: Die Haustür war zu. Elmer krachte dagegen und plumpste zu Boden.
Plötzlich stand Marion neben ihm und riss die Tür auf. Elmer sprang wieder auf und rannte in den noch jungen Morgen hinaus. Zum Glück beschränkte er sich darauf, die Zähne fest aufeinander zu beißen, ohne zu schreien. Was hätten die Nachbarn denken sollen?
Elmer rannte quer über meinen Vorgarten, sprang ziemlich unelegant über die Hecke, blieb dabei mit einem Fuß hängen und krachte dann jenseits meines Blickfeldes zu Boden.
Marion sprintete hinterher, ich folgte ihr etwas träger.
Jenseits der Hecke lag Elmer auf dem Bürgersteig. Seine Hand hing über einem Gulli und zuckte seltsam. Der Kugelschreiber, den er gehalten hatte, musste wohl in die Kanalisation gefallen sein. Als wir uns näherten, sah Eimerweise zu uns auf und lächelte tapfer.
"Geschafft!"
Dann wurde er ohnmächtig.



13 - Eimerweises Darniederliegen

"Vater, mach keinen Scheiß!" rief Marion Elmer ins Gesicht, der reglos auf meiner Wohnzimmercouch lag, wo wir ihn hingetragen und abgelegt hatten. Seine rechte Hand hatte leichten Ausschlag bekommen.
"Eine Allergie?" fragte ich und deutete auf die rot gefleckte Hand.
"Bei Vater?" fragte Marion zurück. "Bestimmt nicht. Wenn er aufwacht, wird er uns etwas von venusianischen Roboterbienen erzählen, die in seine Hand gestochen haben, oder so etwas ähnliches. Die Flecken sind nur psychosomatisch."
"Der Wasserstrahl aus meinem Telefon war jedenfalls nicht psychosomatisch."
"Warum musstest du ihn auch anrufen?" fuhr Marion auf. Zum ersten Mal sah ich Sorge in ihrem Gesicht. Ich wurde ärgerlich. Sie war nicht die einzige Person, die sich um Elmer sorgte.
"Und warum steckst du ihn nicht in eine Anstalt?" fragte ich zurück.
Daraufhin schwiegen wir beide. Ein Mensch, der der Realtität so entfremdet war, wie Elmer Wiese, gehörte sicherlich in Behandlung. Aber andererseits würde dann sein Talent ungenutzt bleiben und vielleicht sogar verschwinden.
Das Talent, das mir bei der Sache mit den Wasserstrahlen helfen sollte.
Das Talent, dass seine Tochter brauchte, um jede Bedrohung für ihre Organisation zu entdecken und zu neutralisieren.
Das Talent, ein so abenteuerreiches und phantastisches Leben zu leben, wie niemand anderes es auf dieser Welt konnte.
Zugegeben, letzteres klang pathetisch. Aber dennoch bewundere ich Elmer für seine kompromisslose Entrücktheit.
Elmer in die Realität zurückzuholen wäre in etwa so grausam, als teleportierte man einen Bergsteiger, der voller Triumphgefühl auf der Spitze des Mount Everest steht, in die Schlange einer Supermarktkette.
Oder man verstetze den Formel-1-Rennfahrer, der gerade als erster die Ziellinie überquert, in einen Kleinwagen, der in einem 10-Kilometer-Stau feststeckt.
Man könnte auch einem Engel die Flügel abschneiden, einem Kind die Wahrheit über den Weihnachtsmann erzählen oder einen Lebensmüden unsterblich machen.
Bevor ich mir weitere Beispiele überlegen konnte, geschah etwas.
Eimerweise erwachte.



14 - Ankunft an dem unheimlichen Ort voller Mysterien, Quelle der Intrigen, Sitz des Bösen und so weiter

Eimerweise blinzelte, dann sprang er auf, einen Zeigefinger erhoben, als wollte er auf einen schmutzigen Fleck an meiner rauhfasertapetierte Decke zeigen.
"Auf zum Entstrahlungswerk!" rief er und lief zur Haustür.
Marion und ich liefen nach einer Schrecksekunde hinterher.
"Wo ist mein Raumanzug?" fragte Eimerweise.
Ich gab ihm seinen Mantel.
"Auf zum Entstrah... ah, das sagte ich bereits, oder?"
"Ja."
Wir gingen hinaus in den frühen Morgen.
"Habt ihr Waffen?" fragte Eimerweise.
Der Fremde auf meinem Rasen erwachte gerade, setzte sich auf und rieb sich die Augen.
"Nein", antwortete ich und warf einen Seitenblick auf Marion. Die zuckte jedoch nur mit den Schultern.
Der Fremde erblickte uns, riss erschrocken die Augen auf und machte einen Sprung aus dem Sitzen über die Hecke.
"Gut", sagte Eimerweise, "denn der Strahlungsschild würde eure Waffen nur unbrauchbar machen."
"Aha", sagte ich.
Wir traten auf die Straße hinaus. Berufsverkehr und so. Kühl war es übringes auch.
"Was war eigentlich mit deiner Hand los?" fragte ich, während wir irgendwohin gingen.
"In der Hydrofikationsflüssigkeit, die aus deinem Telefonhörer gekommen war, hat der Antagonist Analyserückplungsmoleküle eingebaut. Sie zerstörten mein Gerät und entfachten den Fisionsbrand."
"Soso."
"Dank meiner interzellulären Nanotronik hat sich aber meine Haut bereits vollkommen regeneriert", sagte Eimerweise und wedelte mit seiner Hand in der kühlen Morgenluft herum.
Nach einer Stunde erreichten wir unser Ziel.
"Das ist die Kläranlage", stellte ich fest.
"Nein", sagte Eimerweise wie zu einem Kind, das eine naive, aber amüsante Schlussfolgerung gezogen hatte. "Das ist das Entstrahlungswerk. Entstrahlung. Wegen den Sonnen, die tagsüber die Oberfläche dieses Planeten mit Gammastrahlung bombardieren. Das Wasser entstrahlt man dann, und schon kann man es wieder trinken."
"Hammer."
Die Kläranlage lag am Stadtrand, umgeben von dichtem Gebüsch und hohen Baumreihen.
Eimerweise bestand darauf, uns der Anlage von hinten zu nähern, um die einheimische Vegetation zu unserem Vorteil zu nutzen.
"Aber gebt Acht bei den fleischfressenden Stolnyten", warnte Eimerweise uns. "Am besten bleibt ihr dicht hinter mir."
Plötzlich sprang etwas brüllend aus dem Gebüsch hervor, dann traf mich ein schwerer Körper und ich ging zu Boden.



15 - Noch nicht das Ende

Ich schlug mit meinem Kopf hart auf den Boden auf und hatte für einen kurzen Augenblick die merkwürdige Vision, dass diese Geschichte auf absurde und nach Schlägen schreiende Art zu Ende gegangen wäre. Benommen schüttelte ich den Kopf und bekam noch mit, wie Eimerweise und Marion den Typen, der mich brüllend zu Boden geworfen hatte, von mir wegzerrten. Ich stand auf, betastete meinen Kopf, konnte aber zum Glück keine Verletzung feststellen und klopfte mir den Schmutz vom Hinterteil und von den Ellenbogen.
"Das ist mein Platz! Das ist mein Platz! Das ist mein Plaaaatz!" brüllte der Fremde. Nun betrachtete ich ihn genauer. Er ließ sich mit einem – wenn auch unschönem – Wort beschreiben: Penner.
Dann keuchte er vor Schmerz, als Marion ihm den Arm auf den Rücken drehte und so fest drückte, dass der Schreihals sich vornüber beugte. Marion trat ihm von hinten gegen die Knie und der Mann sackte zu Boden. Sie hielt ihn in dieser Position weiterhin fest.
"- mein Platz -" wimmerte der Penner.
"Mir scheint", sagte Eimerweise, "wir haben hier ein Exemplar der Tublotis Flariati aufgeschreckt."
"Das ist ein...", begann ich und wollte den Satz mit 'Obdachloser' oder einem bedeutungsäquivalenten Wort beenden, als mich ein böser Blick von Marion zum Schweigen brachte.
"Normalerweise reagieren sie nicht so aggressiv", fuhr Eimerweise ungehindert in seiner Fantasiewelt fort und rieb sich das Kinn.
"Was bedeutet das?" fragte Marion und drückte den Arm des Penners noch etwas fester nach oben, worauf er wieder zu schreien begann. Diesmal warf ich ihr einen bösen Blick zu. Sie rollte mit den Augen und gab etwas nach, bis der arme Kerl wieder leiser wurde.
"Das bedeutet", sagte Eimerweise, "dass es bereits häufiger gestört wurde. Ständige Irritationen des Territoriums führt bei der Spezies Tublotis Flariati zu Aggression."
"Ich...", begann der Penner, der sich nun etwas beruhigt hatte und offenbar zu Eimerweises Schlussfolgerung etwas hinzufügen wollte. Marion, die ihm immernoch den Arm auf den Rücken gedreht hatte, zog einmal kurz und der Mann schnitt eine schmerzerfüllte Grimasse. Sie beugte sich kurz an sein Ohr und zischte:"Halt bloß dein Maul, Arschloch."
"Können diese Tublotis Flariati sprechen?" fragte ich listig.
Daraufhin brach mein Freund in schallendes Gelächter aus.
"Also wirklich!" brachte er lachend hervor. "Sprechen!"
"Ich denke, das heißt nein", murrte ich.
"Der war gut! Sprechen!" rief Eimerweise und klopfte mir auf die Schulter. "Sie sind gerade klug genug, um sich einen Bau zu buddeln und Spinnen zu jagen. Das ist übrigens ihre Lieblingsbeute. Vielleicht finden wir ja ein paar Spinnen, um ihn damit zu füttern und zu zeigen, dass wir keine Feinde sind."
Der Penner blickte zu Eimerweise mit entsetzem Blick auf. Vermutlich überlegte er gerade, wer das größere Problem war: Die gewalttätige Frau, die seinen Arm malträtierte, oder der Verrückte, der Schwachsinn redete, ohne nach Alkohol zu stinken.
"Ich bin dafür, dass wir ihn, ähm, es, einfach freilassen", sagte ich. "Ich denke, es wird uns nicht mehr belästigen." Damit sah ich den Penner eindringlich an und dieser nickte mir äußerst eifrig zu.
"Wird wohl das beste sein", sagte Eimerweise.
Marion gab den Arm ihres Opfers frei und half ihm beim Aufrichten mit einem Tritt in den Hintern. Der Mann rannte davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Eimerweise hatte diese Szene längst vergessen und untersuchte das Gebüsch.
"Faszinierend", sagte er und verschwand im raschelnden Grün.
"Oh Mann", sagte Marion und eilte hinter ihm her. Ich sah mich gezwungen, zu folgen.
Es folgte eine verwirrende, unangenehme Kriecherei durch dichtes Gebüsch und ich trug ein paar Schrammen, schmutzige Hände und Knie und einen abgerissenen Knopf davon.
Plötzlich schrie irgendwo vor mir Eimerweise auf, gefolgt von einem lauten Platschen. Ich schätze, Sie können sich problemlos denken, was geschehen ist.



16 - Jenseits der Wasseroberfläche

Ja, Eimerweise war tatsächlich in ein Wasserbecken gefallen. Nachdem Marion und ich uns durch das Gebüsch gekämpft hatten, standen wir direkt am Rand eines großen Beckens. Ein Schild wies die Anlage als Trinkwasserschutzgebiet der Zone 1 aus. Auf weitere Details habe ich nicht geachtet, denn was ich dort im Wasser erblickte, zog meine Aufmerksamkeit auf sich wie ein schwarzes Loch.
Eimerweise befand sich unter der Wasseroberfläche und man sollte erwarten, dass er paddelte, Ruderbewegungen machte oder sich sonst wie bemühte, wieder an die Oberfläche zu kommen. Stattdessen stand er. Nein, er stand nicht auf dem Grund des Beckens. Ich konnte die Sohlen seiner Schuhe sehen, mit denen er unter der Wasseroberfläche stand, mit dem Kopf nach unten. Es schien, als sei die Wasseroberfläche für Eimerweise zu einem gläsernen Boden geworden und zwar mit umgekehrter Schwerkraft. Ich hoffe, Sie haben verstanden, was ich zu beschreiben versuche.
"Was in aller Welt ist das denn?" fragte Marion.
Ich zuckte nur mit den Schultern.
Eimerweise schien es recht gut zu gehen. Er spazierte unter der Wasseroberfläche, beugte sich herunter, beziehungsweise herauf, und winke uns zu. Seine Bewegungen wirkten nicht so, als sei er dem hinderlichen Widerstand von konventionellem H2O ausgesetzt.
Während ich noch unentschlossen dastand und zum x. Mal an diesem Tag vergeblich versuchte, absurde Informationen zu verarbeiten, hockte sich Marion am Beckenrand nieder und griff in das Wasser.
"Fühlt sich komisch an", sagte sie und holte ihre Hand wieder hervor. Wasser lief an ihren Fingern herab. "Jedenfalls scheint das Wasser nass zu sein."
Ich konnte noch immer nichts sagen.
Eimerweise schien etwas entdeckt zu haben, winkte uns aufgeregt zu und wandte sich dann ab, um etwas auf der anderen Seite in Augenschein zu nehmen.
Marion zog ihre teuren Schuhe aus und schwang die Beine ins Becken.
"Warte!" rief ich, doch zu spät. Marion ließ sich ins Wasser gleiten und als ihre Hüfte unter der Oberfläche verschwand, begann sie merkwürdig zu zappeln. Sie wirbelte herum und saß plötzlich unter der Wasseroberfläche. Ich konnte ihren plattgedrückten Hintern sehen, als sei die Wasseroberfläche eine Glasscheibe, auf der Marion saß und unter der ich stand.
Verrückt.
Ich beobachtete, wie Marion aufstand und sich verwundert umsah. Dann blickte sie zu mir herauf/herunter und deutete in eine Richtung. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass sie auf ihre Schuhe am Beckenrand zeigte. Nun zeigte sie auf mich und deutete auf den Grund des Beckens. Das sollte wohl heißen 'Komm zu uns. Und bring meine Schuhe mit!'
Ich starrte Marion an. Sie starrte zurück. Dann rollte sie mit den Augen, sagte irgendwas und ging hinter ihrem Vater her.
Was sollte ich bloß tun? Am liebsten wäre ich einfach nach Hause gegangen und hätte so getan, als wäre all dies nicht geschehen. Und das, obwohl mein Freund und seine Tochter sich an einem Ort befanden, den man nicht gerade als sicher bezeichnen konnte. Mein Gewissen bestand natürlich darauf, ihnen zu helfen. Doch ich war der Typ Mensch, der nur dann auf sein Gewissen hört, wenn es weder Unbequemes noch Mutiges verlangt.
Während ich also noch mit mir rang, hörte ich hinter mir das Rascheln von Blättern und Knacken von dünnen Ästen. Jemand näherte sich durch das Gebüsch.
Erschrocken sah ich mich um. War es der Penner, den Marion vor wenigen Minuten so unsanft verjagt hatte? Wollte er sich rächen? Doch es war noch schlimmer: Zwischen den Büschen trat ein Mann in dunkelblauem Anzug heraus. Er trug einen dunkelblauen, schmalen Aktenkoffer in der Hand. Erinnern Sie sich? Ich kann Ihnen auch noch das Gesicht beschreiben: Es entbehrte jeglicher auffälliger Merkmale und war geradezu grotesk normal. Ja, es war der Mann, der mich vor zwei Wochen mit einer Wasserpsitole ins Gesicht gespritzt hatte.
Meine Reaktion darauf war absurd. Ich hatte die Wahl zwischen einem Kerl mit einer Wasserpistole und einem großen Becken voller Wasser. Und trotzdem sprang ich in das Wasser – nicht ohne vorher Marions Schuhe aufgehoben zu haben.
Einem richtigen Romanhelden wären die Schuhe vermutlich egal gewesen und er hätte sich auf den Mann gestürzt, ihn kräftig durchgeschüttelt, angeschriehen, oder sonstige beeindruckende Dinge getan, um endlich herauszufinden, was hier eigentlich vorgeht.
Nun ja.
Ich traf also die dümmste aller Entscheidungen und hielt mich dabei noch mit irrelevanten Nebensächlichkeiten auf. So war ich.
Mein Körper durchstieß die Wasserobfläche. Doch es fühlte merkwürdig an. Die Welt drehte sich um mich und mit einem Mal saß ich wieder im Trockenen. Feucht war ich trotzdem, aber nur so, als hätte ich einen kurzen Nieselregen abbekommen. Ich schaute mich um und mir wurde etwas schwindelig, denn die Informationen, die mein Gleichgewichtssinn lieferte, standen im Gegensatz zu denen meiner Augen. Ich schien in einer großen Halle zu stehen. Über mir war ein Abflussloch in der Decke. Der Boden, auf dem ich stand, war eine flexible, transparente Scheibe, die Wellen schlug, wenn man über sie hinwegschritt. Ich stand nun also auch kopfüber im Wasserbecken und spazierte unter der Wasseroberfläche entlang. Unter mir lag die normale Welt und ich sah Wolken in morgendlichem Rosa unter meinen Füßen dahinziehen.
"Na endlich!" rief Marion mit hallender Stimme. Sie stand mit Eimerweise in der Nähe des gegenüberliegenden Randes.
"Oha", rief Eimerweise und deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Ich blickte nach unten und sah den dunkelblau gekleideten Mann am Rand stehen. Er schaute zu uns herunter und machte dann Anstalten, ins Wasser zu springen.
"Schnell!" rief Marion mir zu.
Dieses Mal reagierte ich schneller und lief zu meinen beiden Gefährten, in der Hoffnung, dass Eimerweise einen Weg hinaus finden würde.
Hinter mir hörte ich ein Platschen.
Die Jagd hatte begonnen.



17 - Gejagd von den Wassern grotesker Normalität

Ich lief zu Eimerweise und Marion, doch der Boden widersetzte sich meinen Fortbewegungsbemühungen auf flexibelste Art. Die Wellen schlagende Oberfläche brachte mich aus dem Gleichgewicht, ich stürzte und schlitterte mit unverminderter Geschwindigkeit vorwärts, Marions Schuhe noch immer in den Händen haltend.
Eimerweise und Marion versuchten mich zunächst aufzufangen, doch plötzlich zog mein Freund seine Tochter ruckartig beiseite. Etwas Glitzerndes kam herangeflogen – offenbar hatte der Mann mit der Wasserspritzpistole etwas geworfen – und knallte neben meinen beiden Gefährten zu Boden. Eine blubbernde Explosion folgte, doch es waren keine Flammen, die sich ausdehnten, sondern klares Wasser. Die Flüssigexplosion dehnte sich kugelförmig aus, bis sie einen Durchmesser von etwas über einem Meter erreichte und erstarrte dann zu Eis. All das geschah in Sekundenbruchteilen. Eimerweise hatte den Explosionsradius leicht tangiert und fand sich nun mit einer Schulter in einer riesigen Eiskugel gefangen. Während er mit Marions Hilfe versuchte, wieder frei zu kommen, schlitterte ich vorbei und knallte gegen die Beckenwand. Es flimmerte vor meinen Augen und ich schrieb diesen Effekt zunächst der ungestümen Kontaktaufnahme von Kopf und Beton zu. Doch das Flimmern bekam Struktur: Linien und rechte Winkel bildeten sich.
In dem Moment knirschte Eis und Eimerweise hatte seine Schulter aus der Eiskugel befreit.
"Ist mit dir alles in O-", begann Eimerweise zu fragen und starrte dann mit hochgezogenen Augenbrauen das Geflimmere an.
"Oh."
Es sah aus wie Wasser, das vom unsichtbaren langsam in den sichtbaren Zustand wechselte, sich zu einer Leiter zur Decke formte und in dieser praktischen Form zu Eis erstarrte.
"Gut gemacht, Peter", sagte Eimerweise und erklimmte flink die Leiter.
"Vorsicht" rief Marion, bevor ich überhaupt in der Lage war, Eimerweises Lob zu interpretieren und mit irgendeiner meiner jüngsten Handlungen zu assoziieren.
Ich rappelte mich auf und sah unseren Verfolger. Er hatte seine Waffe gezogen und zielte auf uns.
"Schnell!" rief Eimerweise.
Marion half mir hoch und ich kletterte meinem Freund hinterher.
Es gab einen zischenden Laut und aus der Wasserpistole des grotesk normal aussehnden Mannes schoss ein merkwürdiger Strahl heraus, der dicht neben meinem Kopf gegen die Wand traf. Der Strahl war kurzzeitig von funkelnder Struktur, wie ein perfekt geradliniger Wasserstrahl, der dann plötzlich gefrohr. Mit einem Knacken löste der Mann seine Waffe vom Anfang des Eisstrahls und zielte erneut.
Inzwischen hatte Eimerweise das obere Ende der Leiter erreicht und stieß mit dem Kopf in einer Weise gegen die Decke, als hätte er erwartet, dass sie ihn einfach hindurchlassen würde.
"Aua", gab er von sich, rieb sich den Kopf und winkte mich dann heran. "Komm du mal her."
"Was soll das bri-" begann ich zu fragen, wurde jedoch von einem Eisstrahl unterbrochen, der unter meiner rechten Achselhöhle hinduchschoss.
Ich fragte nicht weiter und kletterte neben Eimerweise die Eisleiter hoch. Skeptisch sah ich zur Decke hoch, die aus festem Beton zu bestehen schien. Doch als ich sie berührte, begann ein kreisförmiges Segment Wellen zu schlagen, wie eine Wasserobfläche.
"Dachte ich mir!" sagte Eimerweise triumphierend und kletterte einfach in den zu Wasser gewordenen Beton hinein. "Kommt!"
Etwas Eiskaltes traf mich am Rücken, durchbohrte meinen Körper, kam aus meinem Bauch wieder heraus und traf auf die Wand.
Einer der Eisstrahlen aus der Waffe unseres Verfolgerst hatte mich aufgespießt.
Dass Marion entsetzt aufschrie, nahm ich kaum war. Kälte begann sich in meinem Leib auszubreiten.
Sollte dies mein Ende sein?
Konnte man all diese Absurditäten, die schließlich zu meinem Tode führten, in einem kurzen, denkwürdigen Satz auf einem Grabstein festhalten?
"Von den Wassern grotesker Normalität gejagt / getauft in Absurdität / niedergesteckt durch finale Eisigkeit / für alle Ewigkeit, Amen."



18 - Eisinfiltration

Es war natürlich nicht mein Ende. Sie kennen das ja von anderen Romanen. Der Held scheint draufzugehen aber nee: Da war dann alles gar nicht schlimm, wie es aussah und er trotzt dem Tod.
Nicht, dass ich mir dabei besonders heldenhaft vorkam. Aber ich schaffte es, trotz Verwundung, weiter nach oben zu klettern. Unser Jäger verharrte und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
Sind Sie schon mal von einem Gegenstand aufgespießt oder zu mindest in den Bauch gestochen worden? Nein*? Ich auch nicht. Ich hätte es mir aber schlimmer vorgestellt, vor allem schmerzhafter. Stattdessen fühlte ich nur Kälte in meinen Eingeweiden.
Wir kletterten durch die Öffnung in der Decke (oder im Boden, je nach Standpunkt) und fanden uns am Südpol eines kugelförmigen Raumes von etwa zehn Metern Durchmesser wieder. Die Öffnung, die wir durchquert hatten, war mit einer schweren Metallluke versehen, die zur Zeit offenstand. Eimerweise gab ihr einen Stoß und sie knallte zu. Auf ihrer Oberseite waren zwei Leuchttaster und Eimerweise drückte denjenigen, der mit "Verschließen" beschriftet war.
Kurz darauf gab es von unten einen Stoß gegen die Luke, dann herrschte Stille.
Wir hatten unseren Verfolger abgehängt. Vorläufig.
Ich ließ mich ungeschickt zu Boden fallen und zog mit zitternden Händen das Hemd hoch.
Ein paar Zentimeter rechts vom Bauchnabel war ein harter eisblauer Fleck, etwa so groß wie ein Daumenabdruck. Es sah wie ein Eiszapfen aus, den mir jemand in den Bauch gerammt und dann glatt abgebrochen hatte.
Marion untersuchte meinen Rücken.
"Glatter Durchschuss", meinte sie.
Jetzt erst begriff Eimerweise, dass ich getroffen worden war.
"Bei der Kälte des Alls!" rief er aus. "Peter, er hat dich erwischt."
"Ehrlich?" fragte ich mit schwachem Sarkasmus.

*) Wenn doch, dann schicken Sie mir bitte eine Beschreibung, wie sich das anfühlt und auswirkt.



19 - Beziehungskugel

Merkwürdigerweise floß kein Blut. Es sah so aus, als hätte sich die Haut direkt mit dem Eis verbunden – ja, als wäre das Eis zu einem Teil meines Körpers geworden.
"Schmerzt es?" fragte Eimerweise.
"Nein. Es ist nur sehr kalt", antwortete ich.
"Er muss ins Krankenhaus", sagte Marion mit Bestimmtheit und erhob sich.
"Dazu müssten wir erstmal hier herauskommen", antwortete ich und stand auf. Meine beiden Gefährten sahen mich erstaunt an.
"Unglaublich, dass du stehen kannst, mit einer solchen Wunde", sagte Marion. "Ich meine, du wurdest regelrecht aufgespießt. Da müssen doch Organe kaputt sein, oder so."
Ich wurde blass.
"Meinst du?"
"Ich glaube, das hängt mit der Hydrofikation zusammen", sagte Eimerweise. "Deswegen hatte seine Anwesenheit auch die Eisleiter und das getarnte Wassertor aktiviert, was uns zur Flucht verholfen hat."
"Du meinst, es gibt hier so etwas wie magisches Wasser, dass auf mich reagiert?" fragte ich.
"Ich sträube mich massiv gegen das Wort 'magisch'! Es ist muss irgendeine Art molekularer Programmierung sein, die das Wasser hier modifiziert."
"Was auch immer", sagte Marion und ihre Augen verengten sich. "Jedenfalls haben hier ein paar Leute es verdient, was aufs Maul zu bekommen."
"Ja, das kannst du am besten", rief ich und meine Worte hallten durch den kugelförmigen Raum.
Marion drehte sich zu mir um und starrte mich herausfordernd an.
"Was? Trägst du mir die Sache immer noch nach?", fragte sie und sprach gleich weiter. "Das war eine rhetorische Frage..."
"Ja! Ich trage es dir nach, dass du mein Date k.o. geschlagen hast!" sagte ich trotzdem.
"Ich sagte, das war eine rhetorische Frage..."
"Dann schlag mich doch..."
Blamm! hatte ich eine sitzen. Benommen nahm ich war, dass ich taumelte und mich dann auf den Hosenboden plumpsen ließ.
"Fräullein Marion!" rief Eimerweise und sah Marion mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
"Ich bin kein Fräullein", schrie Marion Eimerweise an. "Ich bin deine Tochter!"
"Natürlich können Sie meine Assisstentin sein", sagte Eimerweise. "Eigentlich hätte ich Sie schon vor langer Zeit befördern sollen. Ihr Aufgabengebiet hat sich erweitert und Sekretärin ist wohl nicht mehr die richtige Berufsbezeichnung für Sie, Fräull... Frau Marion. Wann haben Sie eigentlich die letzte Gehaltserhöhung von mir bekommen?"
Marion starrte ihn einen Moment lang an, dann ließ sie die Schultern hängen und sah zu Boden.
"Ich will keine Gehaltserhöhung."
"Wie bescheiden!" rief Eimweise erfreut aus. "Wie auch immer – zunächst müssen wir einen Ausgang suchen!"
Ich rappelte mich in der Zwischenzeit wieder auf und rieb mein Kinn.
"Tut mir leid", sagte Marion zerknirscht zu mir.
"Nun", sagte ich leise, "ich hab ja auch ein wenig Schuld."
Erwähnt ich schon, dass ich einfach zu weich bin?
Marion grinste mich an.
"Du weisst ja, wie du es wieder gut machen kannst."
"Ich habe gesagt 'ein wenig' Schuld", betonte ich. "Aber das du das wieder ins Extrem verdrehst, ist klar."
"Ach, du kotzt mich an."
"Und schon wirst du wieder ordinär. Warum verpasst du mir nicht gleich noch eine?"
Das hätte ich nicht sagen sollen.



20 - Nun ja

Nein, das hätte ich wirklich nicht zu Marion sagen sollen. Warum? Das werden Sie später noch erfahren. Jetzt hatte ersteinmal der wahre Held dieser Geschichte seinen Auftritt: Eimerweise!
Er erstaunte uns mit folgendem Kunststückchen: Er ging einfach an der runden Wand des kugelförmigen Raumes, in welchem wir uns ja zur Zeit befanden, entlang. Auf halber Raumhöhe hatte sein Körper eine um neunzig Grad unterschiedliche Neigung, als die unsere. Und unter der Decke (konnte ich das überhaupt Decke nennen? Und kommt Ihnen dieses Decken/Boden-Problem nicht irgendwie bekannt vor? Gewöhnen Sie sich besser dran), also am Nordpol des Raumes, stand er schließlich kopfüber.
"Hier befindet sich ebenfalls eine Luke", rief er zu uns herunter.
Nach dem Erlebnis von vor vier Kapiteln wies ich eine gewisse Abhärtung in Bezug auf wechselnde Schwerkraftverhältnisse auf. Mutig folgte ich Eimerweise und ging die Wand nach oben. Es ist so ähnlich, als laufe man im Inneren einer Kugel, während diese so rollt, dass man immer unten ist. Aber eigentlich war es so, dass ich im Inneren einer Kugel lief, während sich das 'Unten' so bewegte, dass ich immer senkrecht stand.
Nun ja.
Schließlich standen wir alle drei an der Luke, die zwar auf dieser Seite keine Tasten zum Entriegeln hatte, aber zum Glück nicht verschlossen war. Wir öffneten die Luke und kletterten über eine Leiter hinab in einen Raum, der zu meiner Erleichterung rechteckig war und auch keine Abnormitäten in Bezug auf Oben-Unten-Orientierung aufzuweisen schien.
Dafür war dieser Raum ziemlich groß – größer als das Wasserbecken. Wir befanden uns an einer der kurzen Seiten und waren umgeben von Geländern und Gerüsten. In der Raummitte war eine Art Laboratorium aufgebaut, mit zahlreichen Apperaturen, die dem entsprachen was man in den 1930er Jahren für futuristisch hielt. Maschinen stampften und rotierten und Wasser blubberte in riesigen Zylindern und spiralförmigen Rohren. Funken knisterten zwischen Elektroden und Zeiger von klobigen Messgeräten zuckten hecktisch hin und her. Es roch nach heißem Metall und Chemikalien.
"Ha!" rief Eimerweise. "Dies ist das Zentrum all der Konspirationen. Hier haust der Antagonist!"
"Kann es sein, dass wir irgendwie in Elmers Fantasiewelt geraten sind?" fragte ich Marion, während mein Blick an den skurilen Gerätschaften entlangwanderte.
"Oder vielleicht ist er gar nicht verrückt", antwortete Marion. "Sondern wir sind es."
"Haben Sie ihn?" fragte eine fremde Stimme und Schritte erklangen. Ich erschrak.
Zwischen den Apperaturen kam ein Mann in einem blauen Overall und mit einer Taucherbrille vor den Augen hervor. Als er uns entdeckte, blieb er abrupt stehen.
"Wer sind Sie?" fragte er.
Eimerweise streckte die Brust raus und deutete mit einem Finger auf den Mann.
"Wir sind gekommen um Ihrem Treiben ein Ende zu setzen!"
"Scheiße!" rief der Mann, drehte sich herum und hastete davon.
"Hinterher!" rief Eimerweise und lief los. Marion folge ihm sofort. Ich zögerte einen Moment und ging ihnen dann nach.
Im Zentrum des Labors angekommen, blieb Eimerweise stehen und sah sich ratlos um.
"Wo ist er?"
"Er kann sich überall versteckt haben", sagte Marion und deutete auf die riesigen Maschinen, die uns umgaben und ein reiches Spektrum an Geräuschen und Gerüchen von sich gaben. Ich fühlte mich nicht besonders sicher.
"Bei der Kälte des Alls!" rief Eimerweise plötzlich aus und deutete auf die Wand, die unserem Eingang gegenüber lag. Eine kreisförmige Sektion begann Wellenmuster zu bilden, als bestände sie aus einer senkrecht stehenden Wasserwand. Ähnliches hatte ich bereits im Wasserbecken beobachtet.
"Da muss er durchgegangen sein!" rief Eimerweise und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als jemand durch die Wasserwand hindurchtrat. Es war der Mann im blauen Overall und mit der Taucherbrille. Er blieb direkt an der Wand stehen und deutete auf uns.
"Da sind sie!" rief er.
Eine zweite Gestalt durchquerte die verflüssigte Sektion.
Es war eine Frau.
Mir stockte der Atem, als ich sie erkannte.
Es war DIE Frau!



21 - Rückblendenbehälter

"Vittora!" rief ich erstaunt aus. Es war meine angebetete Vittora. Ich erinnerte mich noch genau an unsere erste Begegnung.


Rückblende

Ich war gerade auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als mich plötzlich etwas am Kopf traf. Ich verlor das Bewusstsein und als ich die Augen wieder aufschlug, war mir, als hätte ich eine Erscheinung. Ein Engel, gekrönt mit einem golden Heiligenschein schaute mich aus blauen Augen besorgt an.
"Alles klar bei Ihnen?" fragte sie mich mit zarter Stimme.
"Ja", sagte ich in benommenem Wohligsein und lächelte.
"Oha, sie scheinen echt groggy zu sein", sagte der Engel und bewegte sich. Aus dem Heiligenschein des Engels wurde plötzlich eine grelle Sonne die mir in die Augen stach, als die fremde Frau ihren Schatten von mir nahm. Nun bemerkte ich auch die starken Kopfschmerzen.
"Autsch", sagte ich nun mit deutlich realitätskompatiblerer Stimme und richtete mich auf.
"Es tut mir so leid", sagte die Frau. "Mir ist was heruntergefallen... genau auf Ihren Kopf."
Ich befühlte meinen Kopf und erspürte die getroffene Stelle.
"Zum Glück blutet es nicht", sagte die Fremde und half mir beim Aufstehen. Sie deutete auf den Telefonmast neben mir.
"Ich hab da oben gearbeitet... es tut mir echt leid."
Ich betrachtete den Mast und dann wieder die Frau. Sie war offenbar eine Technikerin. Neben dem Mast stand eine kleine Werkzeugkiste und zwei Steigeisen lagen herum. Unwichtig. Ich hatte noch nie eine so schöne Frau gesehen. Kein Wunder, dass ich sie erst für einen Engel hielt.
"Wie kann ich das bloß wieder gut machen?" fragte sie.
Perfekt. Eine schöne Frau, die in meiner Schuld stand. Und was tat ich?
"Die Kopfschmerzen gehen wieder weg", sagte ich. "Machen Sie sich keine Gedanken."
Und wandte mich zum Gehen – ehrlich. War ich ein Idiot oder was?
"Warten Sie!" sagte die Frau und hielt mich am Arm fest. "Ich muss das doch wieder gut machen."

Beenden wir diese Rückblende mit der Feststellung, dass Vittora – so der Name der Schönheit – mich zum Essen eingeladen hatte. War ein netter Abend gewesen und wir hatten ihn eine Woche später wiederholt.
Bei diesem zweiten Treffen war es dann geschehen. Plötzlich war Marion aufgetaucht und hatte Vittora k.o. geschlagen.
Das war vor einem Jahr gewesen.
Nun stand ich hier in diesem skurilen Labor, tief unter der Erdoberfläche, verwundet durch einen Eiszapfen und ohne den blassesten Schimmer was das alles zu bedeuten hatte.

"Vittora!" rief Marion aus.
"Ich kennt Euch?" fragte Eimerweise überrascht.
"Sieh an, sieh an!" sagte Vittora. Ihre Stimme hatte sich verändert. Sie klang tiefer und voller, irgendwie oberbösewichtenhaft. "Wenn das nicht Peter und seine Marion ist."
"Sie ist nicht meine Marion", protestierte ich.
"Unwichtig!" rief Vittora und kam näher. "Bald bist du mein Peter!"
Irgendwas an ihr hatte sich verändert. Sie schien etwas zugenommen zu haben.
"Ich frage mich, wie du den Weg allein zu mir gefunden hast", sagte sie. "Hm. Bestimmt waren es deine Gefühle, die dich zu mir geführt haben."
"Eigentlich war es Eimerweise...", sagte ich.
"Gestehe dir endlich deine Gefühle ein!" rief Vittora. Ihre Augen funkelten.
"Ich geb dir gleich was zum Fühlen!" sagte Marion und trat vor.
Vittora blieb vor Marion stehen und sah sie spöttisch an.
"Willst du mir etwa wieder eine reinhauen?"
Das hätte sie nicht sagen sollen.



22 - Schergenhaufen

Marion schlug zu. Déjà-vu. Ihre Faust traf Vittoras Gesicht wie eine Wiederholung der Geschichte. Naja, es ist vielleicht vermessen von Geschichte zu sprechen, aber Sie müssen meine Perspektive verstehen. Diese Szene damals war einfach das Unglaublichste gewesen, was mir bis dahin passiert war. Nicht nur, dass die Tochter meines besten Freundes wie aus dem Nichts aufgetaucht war und mein Date bewusstlos schlug – nein, auch die Gründe, warum sie das tat waren umwerfend. Vittora hatte einer Untergrundorganisation angehört, die mit derjenigen, der Marion angehörte, konkurierte. Damals hatte ich noch nichts von Marions wahrem 'Beruf' gewusst. Diese doppelte Offenbarung, dass sowohl die Tochter meines besten Freundes, als auch die Frau, in die ich mich gerade verlieben wollte, professionelle Gesetzesbrecherinnen waren, hatten die Wirkung einer Kollision mit einer Abrissbirne gehabt.
Vittoras Gesicht platzte. Ja, es platzte! Voller Entsetzen sah ich zu, wie Vittoras Haut aufriss und Marion bespritzt wurde – mit Wasser. Marion taumelte mit weit aufgerissenen Augen zurück, als Vittoras Kleidung und Haut auseinanderriss. Darunter kam eine neue Vittora hervor. Eine Vittora aus Wasser.
Triumphierendes Gelächter erklang und das Wasserwesen schüttelte die letzten Reste seiner Verkleidung ab.
"Sieh, was aus mir geworden ist, Liebster!" rief Vittora. "Die Schläge der falschen Schlange können mir nun nichts mehr anhaben!" Sie lachte Marion an. "Na los, schlag mich! Hahaha!"
Marion schlug zu. Ihre Faust durchquerte platschend Vittoras Wasserkopf, fügte aber keinen Schaden zu.
"Tja, war wohl nichts! Hahaha!" rief Vittora. "Ich bin unverwundbar! Und nicht nur das. Das Beste kommt noch! Bald bin ich die einzige Frau, mit der du dich vereinigen kannst, Liebster." Sie deutete auf mich und ich schluckte.
"Was soll das heißen?" fragte ich heiser.
"Ich habe dich von meinen Schergen hydrofizieren lassen. Bald wirst du so sein wie ich!"
"Das werden wir noch sehen!" rief Eimerweise und trat auf Vittora zu. "Zufällig kenne ich da ein paar Techniken..."
"Ich weiß", sagte Vittora und wich zurück. "Ihr seid leider zu früh gekommen – meine Hydroakkus sind noch nicht voll aufgeladen. Aber während ich das nachhole, werden sich meine Schergen mit euch befassen!"
Sie deutete auf einen Punkt hinter uns. Wir drehten uns um. An der Luke, durch die wir hereingekommen waren, standen vier Männer, die alle einen dunkelblauen Anzug trugen. Drei hielten Wasserpistolen auf uns gerichtet und der vierte öffnete die Luke, damit sich der fünfte, unser Verfolger, zum Rest gesellen konnte.
Vittoras Lachen erklang hinter uns.
"Meine Schergen werden euch einen langen, aufreibenden Kampf bieten, eine Schlacht, die eure Reihen lichten wird, die eure Kräfte nach und nach verzehren wird, während ich in der Zwischenzeit die letzten Vorbereitungen treffen werde um..."
Ich hörte nicht mehr weiter zu.
Mir stiegen die Tränen in die Augen.
Würde ein richtiger Held angesichts seines Erzfeindes in Tränen ausbrechen? Wenn Sie noch weitere Peinlichkeiten ertragen können, lesen Sie weiter.



23 - Erscheinen unten

Ich sah die fünf Männer nur noch als verschwommene blaue Flecken vor mir, denn die Tränen behinderten meine Sicht. Hinter mir hörte ich Vittoras Stimme, die sich entfernte.
"...meine Schergen werden mit euch spielen, wie die Katze mit der Maus, stundenlang, tagelang, wenn es sein muss..."
Meine Augen explodierten. So fühlte es sich jedenfalls an. Es gab ein lautes Zischen und als ich wieder sehen konnte, waren die fünf Männer verschwunden. Stattdessen standen fünf Eisblöcke dort.
"...dann wird meine Macht ihren Höhep-"
Vittoras Monolog fand ein jähes Ende.
"Exzellent!" rief Eimerweise und mit einem Satz war er an den Konsolen des Laborinstrumentariums.
"Neiiiiin!" schrie Vittora. "Meine Schergen! Wie hast du..."
"Marion!" rief Eimerweise. "Nimm den Schlauch dort!"
Marion erholte sich schnell von ihrer Überraschung und schnappte sich den dicken Schlauch, auf den Eimerweise gedeutet hatte.
"Ich werde euch in mir ertränken!" keifte Vittora. "Dich zuerst, du Schlampe!" Erschreckend schnell blubberte sie auf Marion zu.
"Öffne das Ventil!" rief Eimerweise, doch es war zu spät. Vittoras Wasserkörper platschte gegen Marion und hüllte sie ein. Marion ließ den Schlauch fallen und schlug mit den Händen um sich, doch ihre Schläge gegen das lebendige Wasser blieben ebenso wirkungslos als versuche sie Luft mit einem Messer zu schneiden. Marion gab das Umsichschlagen auf und versuchte zu fliehen. Doch die Wasserhülle folgte ihr und ließ ihr keine Chance, den Kopf herauszubekommen.
Dann geschah etwas gänzlich Unerwartetes. Etwas, dass ich für völlig unmöglich gehalten hätte – selbst nach diesen ganzen verrückten Erlebnissen.
Es konnte nicht sein.
Und doch geschah es: Ich benahm mich heldenhaft! Mutig hastete ich zu den beiden kämpfenden Frauen und griff in Vittoras wirbelnden Körper hinein.
"Es hat keinen Zweck!" blubberte es aus Vittoras Körper, der Marion wie eine lebendige Säule umschloss. "Du kannst mich nicht von Marion trennen, bevor sie ertrunken ist!"
"Ich hab mich heute gar nicht rasiert." Keine Ahnung warum ich das sagte, aber es war die Wahrheit.
Nun ja, das mit dem coolen Spruch, bevor man den Oberbösewicht unschädlich macht, muss ich noch üben.
Jedenfalls fand ich den Schlauch und öffnete das Ventil.
"Exzellent!" rief Eimerweise von irgendwo hinter mir. Es erklangen metallische Geräusche, als würde jemand eine Reihe von schlechtgeölten Hebeln bedienen.
Es zischte und blubberte und Vittora begann zu schrumpfen.
"Nein! Peter!" blubberte es.
Marion gelang es, sich aus dem kleiner werdenden Wasserwesen zu befreien und schnappte nach Luft. Ich hielt den Schlauch weiter fest und beobachtete, wie das lebendige Wasser zu einer Kugel schrumpfte.
"Ich wollte doch nur dich..." erklang ein letztes Mal Vittoras Stimme, dann wurde sie gänzlich vom Schlauch aufgesogen und war verschwunden.
"Juhuuu!" rief Eimerweise. "Wir haben es geschafft!"
Marion stand vornübergebeut da, stützte sich auf ihre Knie und atmete heftig.
Ich drehte das Ventil zu, ließ den Schlauch fallen und wandte mich Eimerweise zu. Der stand an einer Konsole mit zahlreichen Hebeln und Ventilen und hantierte damit hektisch herum. Um uns herum rumpelte und toste es in den Apperaturen. Kleine Fontänen aus Wasserdampf zischten mal hier, mal dort hervor und Funken tanzten.
"Oha", sagte Eimerweise. Seine Bewegungen wurden noch hektischer.
"Was?" brachte Marion schwer atmend hervor. Wir näherten uns Eimerweise, doch der wandte sich plötzlich um und gestikulierte wild.
"Es klappt nicht! Der Druck erreicht kritische Intensität!"
"Wir werden alle sterben!" rief eine Stimme.



24 - Genesung

Die panische Stimme gehörte dem Mann im blauen Overall mit der Taucherbrille. Bevor wir seine Anwesenheit mit angemessener Überraschung zur Kenntnis nehmen konnten, warf uns ein Beben zu Boden.
"Wir müssen hier raus und zwar schnell!" rief Eimerweise und rappelte sich wieder auf. Wir folgten seinem Beispiel und liefen so schnell uns unsere unsicheren Beine trugen zur Luke. Es folgte eine stolperintensive Hast den Weg zurückfolgend, den wir gekommen waren.
"Hoffentlich schaffen wir es hinaus, bevor die Detonation alles vernichtet!" rief Eimerweise.
Wir schafften es nicht rechtzeitig.
Als wir im Wasserbecken angelangt waren, brach über uns die Decke auf. Dann setzte eine Verwandlung unserer Umgebung ein. Aus dem Spalt schossen Blasen herunter und eine Druckwelle aus Wasser breitete sich aus. Gleichzeitig hatte ich plötzlich das Gefühl schwerelos zu sein. Ich sah, wie Eimerweise und Marion durch die Luft schwebten. Oder durch das Wasser? Ja, wir befanden uns plötzlich im Wasser. Mir wurde schwindelig, ich wusste nicht mehr, wo oben oder unten war (wieder mal). Ein gewaltiges Dröhnen wurde laut und steigerte sich, um dann mit einem dumpfen Knall zu enden. Eine gewaltige Kraft traf mich und plötzlich befand ich mich in der Luft. Unter mir tosendes Wasser, über mir der Vormittagshimmel, um mich herum die Stadt. Ich entdeckte das Rathaus, meinen Lieblingssupermarkt und ein Flunips-Werbeplakat. Dann stürzte ich zurück und landete wieder im Wasser. Ich hatte nicht einmal Zeit gehabt Luft zu holen.
Doch der Lärm und die Unruhe ebten ab. Ich trieb wieder an die Oberfläche und endlich war das Wasser still genug, damit ich Luft holen konnte. Neben mir tauchten auch Marion und Eimerweise auf und holten prustend Luft. Wir schwammen im Trinkwasserbecken und zwar so, wie es sich gemäßig der allgemein bekannten Naturgesetze gehörte.
"Der Wasserspiegel sinkt", stellte Eimerweise fest.
"Das Wasser fließt durch den Riss ab", sagte Marion und deutete nach unten auf den Beckenboden.
"Da ist eine Leiter", rief ich. Wir schwammen zum Rand und kletterten heraus.
Endlich wieder festen, natürlichen Boden unter den Füßen! Ehrlichen, schwerkraftgehorchenden Boden!
"Puh", machte Eimerweise und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. "Ein harter Kampf, aber wieder mal haben wir gesiegt. Die Festung des Bösen ist nicht mehr."
Wir gingen nach Hause, ich bekam eine Erkältung, wurde wieder gesund und lebte glücklich bis zum Ende meiner Tage.


Ende.


P.S.: Ach ja, übrigens verwandelte ich mich in ein Wasserwesen, aber Eimerweise fand eine Methode, um diesen Vorgang umzukehren und rettete mein menschliches Dasein.
Außerdem frage ich mich, warum Marion seit dem so introvertiert ist. Als ich mich überwand und versuchte, nett zu ihr zu sein, wurde sie kurzzeitig wieder zurFurie wie ich sie von je her kannte und warf mir vor, ich würde sie bloß für eine ordinäre Schlägerin halten. Unmittelbar danach verschwand sie und bis zum Ende meiner Tage sah ich sie nicht wieder. Ich bereue, was ich vor fünf Kapiteln zu ihr gesagt hatte. Ohne Marions Schutz wäre das Abenteuer sicherlich zu einer Bad-End-Sache geworden.
Und ich frage mich, was aus dem Mann mit der Taucherbrille geworden ist.
 
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