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6 Seiten

Lilly (Kapitel 02)

Romane/Serien · Spannendes
Wenn Kinder einschlafen sollen, dann brauchen sie eine gemütliche und geradezu traumhafte Atmosphäre. So etwas mussten sich Mark und Tanja Jenssen, die Eltern der kleinen Lilly auch gedacht haben. Lillys Kinderzimmer entsprach tatsächlich einem Kindertraum, denn sie war auch ihr Traumkind. Sie wünschten sich immer eine kleine Tochter oder einen kleinen Sohn, aber es dauerte lange, bis ihnen dieses Glück beschienen wurde.
Lilly lag in ihrem Bettchen. Es war ein weißes Holzbett von Ikea mit rosa Ausstattung und einem blassrosa Tüllhimmel. Ein kleines Schlaflicht hing in der Steckdose gleich neben der Tür und eine Lampe, die eine Unterwasserlandschaft an die Wände projizierte, stand auf einer hohen Kommode. Die Landschaft drehte sich im Kreis und simulierte so Bewegung der ansonsten regungslosen Delfine und Seesterne. Lilly liebte das Wasser. Sie war eine gute Schwimmerin, obwohl sie erst sechs Jahre alt war. Diese Lampe wünschte sie sich, sobald sie sie im Laden vor einigen Monaten entdeckt hatte. Sie fügte sich gut in den restlichen Raum ein, der mit einem sandfarbenen Teppich und einer mit Blumen verzierten Tapete daherkam. Außerdem liebte Lilly, wie wohl fast jedes andere Mädchen auf der Welt Puppen, die sich in hoher Anzahl überall verteilt im Zimmer aufhielten. Lilly hatte dafür eine Komplettausstattung: Puppen mit verschiedenen Kleidungsstücken für fast jeden Anlass, Puppenwagen, ein großes Tuch um eine Puppe wie ein echtes Baby auf dem Rücken tragen zu können, Fläschchen und Hunderttausende anderer Pflege- und Haushaltsartikel um eine kleine Puppe optimal zu versorgen.
Mark saß bei Lilly auf dem Bett. Er hatte sie eben gerade ins Bett gebracht. Es war bereits halb zehn und für ein sechsjähriges Kind viel zu spät. Es kam zwar nicht oft vor, dass sie so spät ins Bett kam, aber jedes Mal dachte er darüber nach, ob sie es am nächsten Morgen überhaupt rechtzeitig zum Kindergarten schafften. Nicht selten kam es dann vor, dass er seine kleine Tochter einfach zu Hause behielt, da sie sonst kaum einen Anschluss an die Gruppe finden würde. Dort entschied man sich schon recht früh für Aktivitäten. Die Erzieherinnen schlugen noch vor dem Frühstück in einem Sitzkreis mögliche Angebote vor und die Kinder mussten sich wie an einer Universität für einen der „Kurse“ eintragen lassen. Lilly würde, käme sie zu spät, nur noch da mitmachen können, wo noch ein Platz frei war, ob sie nun wollte oder nicht. Da sie sehr sensibel war, würde das kaum schadlos an ihr vorbeigehen. Mark, oder auch seine Frau, durften dann mittags ein völlig verheultes Kind abholen, das man dann erst recht nicht rechtzeitig bettfertig bekam.
Lilly war sehr lebhaft. Sie hatte mit ihren Eltern noch eine Sendung übers Tanzen angesehen und prompt wollte Lilly ebenfalls tanzen. Durch ihre mitreißende und lebensfrohe Art hatte sie ihre Eltern, vor allem ihren Vater schnell auf ihrer Seite und es wurde ordentlich getanzt. Tanja fand manchmal, dass Mark zu weich zu ihr war. Kleine Mädchen wickeln dich um ihren Finger, das merkst du gar nicht, sagte sie viel zu oft zu ihm. Das wollte er sich kaum sagen lassen und rechtfertigte sich mit dem Argument, er würde sich nur sehr liebevoll um seine einzige Tochter kümmern, die man ja auch mal verwöhnen kann, wenn man nicht auf jeden Cent achten musste.
So geschah es, dass sie anderthalb Stunden zu spät ihr Einschlafritual abhielten. Dazu gehörte das Buchvorlesen genauso wie ein kleines Gespräch über den Tag und natürlich ein Gute-Nacht-Kuss.
„Doch was er dort sah, erschreckte ihn noch mehr“, las Mark aus dem Kinderbuch vor. Es war ein etwas gruseliges Buch, was Lilly normalerweise nicht mochte. Oft bekam sie von solchen Geschichten Alpträume und ließ sich nur schwer wieder trösten. Sie verbrachte dann die restliche Nacht bei ihren Eltern im Bett. „Es war seine Oma, die wie ein Geist eine kleine Winzigkeit über dem Boden schwebte. Dann erkannte er, dass sie tatsächlich ein Geist war und er schrie. Ahhhhhhhhhhhh!“ Das letzte Wort stand nicht im Buch, das erfand Mark dazu und belustigte Lilly damit. Sie fing auch an zu schreien.
„Ich hoffe ich muss keinen Arzt holen“, meinte auf einmal Tanja, die am Türrahmen stand und aus einiger Entfernung zusah.
„Keine Sorge, Mama. Papa liest mir nur eine Gruselgeschichte vor“, antwortete Lilly.
„Soso, Grusel. Ich finde es ist ganz schön spät geworden. Ihr solltet so langsam zum Ende kommen.“
Mark und Lilly versprachen nickend dem Folge zu leisten. Mark kuschelte Lilly noch tiefer ins Bett hinein. Er wickelte sie in ihre Bettdecke ein und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Papaaaa“, sagte Lilly und zog dabei das ‚a’ dermaßen in die Länge, dass es nur bedeutete, dass sie noch etwas ganz Besonderes wollte.
„Ja Liebes.“
„Kann ich die Kassette mit der leisen Musik wieder hören?“
„Aber ja“, sagte er und schaltete den Kassettenrekorder ein. Seit einiger Zeit mochte es Lilly mit Musik einzuschlafen. Dafür gaben ihre Eltern ihr eine Kassette mit klassischer uns sanfter Musik. Es war eine von einer CD auf Kassette kopierte Version von „Traumreise“, einer Wellness-CD aus der Drogerie für 3,99 Euro mit Songs von Blackmore’s Night bis Chopin, alles unterlegt mit sanften Geräuschen vom Meer, das Lilly so sehr liebte. Als die Kassette das erste Lied, „Ocean Gypsy“ anspielte, sog die Kleine die Klänge förmlich in sich hinein. Mark streichelte sie sanft über die Stirn und wuschelte durch ihre Haare.
„Ich liebe dich, mein Engel.“
„Ich liebe dich auch, Papa.“
Er näherte sich vorsichtig ihrem Gesicht und gab ihr erneut einen Kuss. Ach, wie sehr er doch sein Kind liebte. Würde ihr jemals etwas zustoßen, es gäbe kaum einen Grund für ihn, weiterzuexistieren. Da wäre noch Tanja, die er ebenfalls liebte. Auch sie würde ähnlich fühlen. Es gab zwar keinen Grund für diese Gedanken, aber als Vater macht man sich eben mal paranoide Gedanken, dachte er. Es geschah so viel Leid und Elend in dieser Welt und oft mussten Kinder die Suppe auslöffeln, die Erwachsene eingebrockt hatten. Dies durfte Lilly niemals geschehen, dafür würde er sorgen. Jedes Mal wenn von einer Kindesentführung berichtet wurde, oder von einem kleinen Mädchen, das man missbraucht und tot in irgendeinem Keller auffand, kam ihm gleich die Galle hoch. Seine Frau musste ihn dann regelrecht zügeln. Er könnte doch eh nichts dran ändern, wenn er an die Decke ginge. Er argumentierte damit, es hätte auch ihr Kind sein können, das man geschändet und ermordet auffand. Die Eltern des Kindes aus dem Fernsehen mussten ähnlich denken wie er. Verzweifelt und rachsüchtig würde er sich jedenfalls fühlen auch wenn er wusste, dass er durch einen Vergeltungsschlag gegen den Täter alles nur noch schlimmer machte. Dennoch wäre es manchmal besser, als das was der Staat mit den Tätern machte. Die wurden ja geradezu für ihre Tat belohnt, wetterte Mark. Es gab kaum Haftstrafen, vieles wurde zur Bewährung ausgesetzt. So eine milde Strafe animierte potentielle Nachahmungstäter ja beinahe sich ebenfalls eines Kindes habhaft zu machen, obwohl es nach Marks Empfinden das schlimmste Verbrechen auf Erden war, wenn ein Kind Leidtragender war. Es würde wesentlich schwerer wiegen als ein Kapitalverbrechen oder der Mord an einem Mafiosi. Ein Kind konnte sich niemals irgendetwas schuldig machen, dass diese Schändung rechtfertigte. Aber warum dachte er nur immer mit Wehmut an diese Dinge, wenn er seine Tochter so liebte als wäre es ihr bereits geschehen?
Der Kuss löste sich langsam. Lange klebten seine Lippen an ihrer Stirn, so liebevoll sagte er ihr Gute Nacht. Mark wollte ihr gerade abschließend ein Lächeln schenken, da bemerkte er ihre Blässe. Lilly wirkte etwas angestrengt und sie verlor immer mehr Gesichtsfarbe. Er wölbte eine Augenbraue. Sie zeigte den ganzen Tag über keinerlei Anzeichen für eine Krankheit, wieso schien sie ausgerechnet jetzt blass zu werden, als hätte sie eine schlimme Erkältung?
Lilly sog tief Luft durch die Nase ein. Sie schien sich zusammenreißen zu wollen, als müsste sie einen Würgereiz unterdrücken. Dann verzog sich ihr liebliches Gesicht zu einer schmerzverzerrten Fratze. „Papa,….. m-mir g-g-geht’s irgendwie so komischhhhh“, zischte sie durch eine kleine Öffnung zwischen ihren Zähnen. Mark wollte gerade aufspringen um ihr eine Schüssel zu geben, da begann seine Tochter sich urplötzlich zu schütteln. Unkontrolliert heftig schlug sie unter der Decke wild um sich. Sie krampfte und schien nicht locker zu lassen.
„Lillyschatz, was ist denn nur los?“ Doch sie konnte ihm nicht antworten. Seine Gedanken rasten. Das war wohl kaum eine Erkältung. Epilepsie hatte sie auch nicht. Es wirkte wie ein Schock, als würde sie eine heftige allergische Reaktion erleben, doch sie war kerngesund und war gegen nichts allergisch. Jedenfalls bis jetzt. Was soll ich nur tun, flog es ihm im Kopf herum. Krankenwagen!
Mark hastete ins Wohnzimmer zum Telefon, doch der Hörer war nicht da. Es war ein schnurloses Telefon und der Hörer konnte so oft woanders liegen.
„Wo ist das verdammte Telefon?“ brüllte er und schmiss sich in Richtung Sofa.
„Wieso? Was ist denn auf einmal?“ Tanja verstand seine Raserei kaum.
„Lilly,… ich muss einen Arzt holen“, mehr konnte er nicht sagen, denn er entdeckte den Hörer in einer Sofaritze.
Tanja schlug ihm den Hörer aus der Hand. „Was zum Teufel ist denn los?“
Mark sprach nicht sondern führte seine Frau bloß ins Kinderzimmer. Lilly lag noch immer auf dem Bett und wurde von starken Krampfanfällen durchgeschüttelt. Das Haar, das ihr Tanja vor einer halben Stunde noch sorgfältig gekämmt hatte, war wieder total zerwühlt. Die Bettdecke hatte sie inzwischen auf den Boden gestrampelt. Es war nicht schön für Tanja, ihr kleines Mädchen so zu sehen.
„Deswegen muss ich einen Arzt holen“, erklärte er.
„Du weißt genau, dass wir es nicht riskieren dürfen, dass ein Arzt sie sieht. Was ist wenn er es rausbekommt?“
Das durfte nicht geschehen. Nein, Lilly durfte sich kein Arzt ansehen. Aber vielleicht kann man einen anrufen und er gibt ihr dann ein Beruhigungsmittel und dann kann sie in Ruhe schlafen. So erklärte er es Tanja, doch die war strikt dagegen. „Ich will nicht, dass man sie uns wegnimmt. Sag ja nicht, dass das niemand tun würde, denn du weißt es genauso wenig wie ich, aber es könnte soweit kommen.“
„Ich will ihr doch nur helfen.“
„Dann tu etwas, halte ihr die Hand oder gib ihr Baldriantee, aber lass die Ärzte aus dem Spiel.“ Sie fand, sie hatte ein Machtwort gesprochen und begab sich zurück in die Küche zu ihrem Abwasch. „Und lass das Telefon in der Station“, warf sie hinterher.
Er wägte das Für und Wider ab. Er konnte sich keinen Reim drauf machen, was mit Lilly los ist. Niemand würde uns unser Kind wegnehmen, dachte er und wählte wie automatisch die Notrufnummer.
„Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?“
„Ich…“, noch immer war er etwas geistesabwesend. „Meine Tochter hat Krampfanfälle; ich brauche einen Arzt.“
„Wer sind Sie denn und wo wohnen Sie?“
Er gab der Dame von der Notrufstelle alle Angaben, die sie brauchte. Am Ende des Gesprächs sagte sie: „Keine Sorge, die Notdienstmitarbeiter sind informiert. Ein Rettungswagen ist bereits zu Ihnen unterwegs.“ Es knackte in der Leitung und die Verbindung brach ab.
Ein Rettungswagen ist bereits zu Ihnen unterwegs, hallten die Worte der Dame am Telefon durch seinen Kopf. Oh nein! Was hatte er getan! Der Rettungswagen war unterwegs. Die Mediziner werden erkennen, dass seine Tochter unter seltsamen, urplötzlich aufgetretenen Krämpfen litt und werden sie mit ins Krankenhaus nehmen. Dann sind wir sie bestimmt bald los. Wieso wurde ihm erst hinterher klar, war er getan hatte? Er konnte doch jetzt unmöglich die Notrufnummer erneut anrufen und behaupten alles wäre wieder in Ordnung. Dann wäre keiner unterwegs zu ihnen, aber das Kind würde weiter krampfen und sich womöglich noch schwer verletzen. Er stürzte zu ihr hin und versuchte sie zu beruhigen. Immer wieder redete er beruhigend auf sie ein, doch keines seiner Worte vermochte zu ihr durchzudringen. Tanja hatte Recht. Sie durften sie nicht zu einem Arzt bringen, die Gefahr war einfach zu arg. Jetzt, wo er bereits Mist gebaut hatte in dem er Fremde mit hineinzog und er bei seinem Kind war, wurde ihm klar, was vor sich ging. Der Tag, vor dem er sich seit sechs Jahren fürchtete, war gekommen. Nun würde es beginnen und nicht aufzuhalten sein.
 
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Kommentare  

Vielen Dank für deine Anregungen, Rosmarin. Ich habe das in meinem Manuskript berücksichtigt.

Christian Sander (18.03.2008)

hallo, christian, schöner flüssiger schreibstil,und inhaltlich spannend.
gruß von rosmarin
kleine anmerkung: ...schicksal beschie(n)den wurde.
...eben gerade ins bett gebracht. ist doppelt.


rosmarin (18.03.2008)

Stefan, Stefan... hast du sie etwa doch weitergelesen ;-)
Nee, schon in Ordnung, ich versuch die Spannung noch hinauszuzögern und nein, sie ist kein Vampirkind... hehe


Christian Sander (18.03.2008)

Das Kind darf nicht zu einem Arzt? Warum?
Also steckt was dahinter, dass sie so klein ist und viel jünger wirkt? Ist das ein Mensch? Oder vielleicht ... ? Spannend!


Stefan Steinmetz (18.03.2008)

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