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12 Seiten

Der alte Mann und die Finsternis - Kapitel 8 - 10

Romane/Serien · Amüsantes/Satirisches
Kapitel 8

Es ist bereits ein wenig kühler und es ist Nachmittag. Wir gehen über eine kleine Allee und ich denke, dass dies eines der besseren Viertel ist, dass die Häuser, die ihre herausgeputzten Frontseiten dem Betrachter entgegenrecken, gewiss einigen Wert besitzen, dass die Gestaltung der ewig gleichen Vorgärten bestimmt irgendeinem modischen Prinzip unterliegt. Er geht langsam, provozierend langsam, schleift von Zeit zu Zeit seinen Fuß nach, dann wieder schnell, gehetzt, so dass ich mich beeilen muss, um ihm zu folgen, schließlich wieder langsam, und ich denke, dass man seine Zerrissenheit nicht besser beobachten könnte als anhand seines Ganges, der zwischen militärischem Drill und der Langsamkeit des herannahenden Todes schwankt.

„Ich hasse Alleen, müssen Sie wissen, hasse sie aus dem gleichen Grund, aus dem ich Haustiere hasse, selbst meine Katze gehasst habe, diesen Bastard, ja, ich hasse jede Form der Natur, die der Mensch domestiziert hat. Warum züchten die Wissenschaftler denn keine neue Natur, eine Natur aus Plastik, das wäre eine Natur, über die ich lachen könnte, eine abwaschbare Natur, eine selbstreinigende Natur, das wäre eine Natur, die dieser Gesellschaft würdig wäre.
Warum gießen die Menschen nicht endlich all ihr Öl in die Meere, warum zögern sie, warum schaffen sie sich keine eigenen Meere, die so schwarz glänzen wie ihre Seelen, nein, unterbrechen Sie mich bloß nicht.
Umweltschutz ist eine der größten Lügen, von der ich je gehört habe. Ich habe gelacht, als ich diesen Begriff das erste Mal gelesen habe. Wozu brauchen wir noch Tiere, ich verstehe es nicht, verstehen Sie es, nein, wie sollten Sie es auch verstehen? Niemand versteht, dass genau das Natur ist, dass wir unseren Unrat in die Flüsse kippen. Es ist unsere Natur; die Natur will, dass wir sie quälen. Verstehen Sie, dass dies der groteskeste, der gewaltigste Geno-Suizid der Natur ist,
dass sie uns, über Hunderttausende von Jahren Evolution hinweg, dahingehend geschaffen hat, dass wir sie vernichten können, nein, nicht vernichten, evolutionieren können, begreifen Sie? Unsere Natur ist nichts als Asche, aus der langsam aber stetig die Wolkenkratzer einer neuen Natur wachsen, und Naturschutz ist Lüge, weil die Natur keinen Schutz braucht, wir bräuchten Schutz vor der Natur. Unsere Natur sind die verklebten Augen der Fische, Missgeburten mit mehreren Köpfen, Baumstümpfe, die aus unserem Unrat ragen wie Grabsteine. Lachen Sie ruhig, ja, lachen Sie ihr angepasstes, entfremdetes Lachen, aber zeigen Sie Ihre Zähne, vergessen Sie nie Ihre Zähne zu zeigen und bei Gelegenheit zu beißen. Beißen Sie die Menschen, wo Sie sie antreffen. Das ist meine Pietät, ja, das ist meine Pietät.“

*

Wir sitzen auf der Bank, die er mir beschrieben hat, und es ist tatsächlich ein schönes Fleckchen, obwohl er es nicht so gesagt, obwohl er es nicht so gemeint hat. Es ist friedlich hier, friedlich, wie es zumeist auf Friedhöfen ist, und ich denke, dass es so friedlich ist, weil er schweigt, dass selbst er friedlich aussieht, wenn er schweigt.

„Dort hinten haben sie meine Frau vergraben“,

sagt er und lacht, so als wäre es etwas Lustiges.

„Ihre ganze Familie war da, beziehungsweise, alle waren da, die noch
lebten, während von mir niemand da gewesen ist, selbst wenn noch jemand gelebt hätte, in dessen Adern das gleiche Blut wie in meinen fließt“,

sagt er und spuckt auf den Boden.

„Ich wollte eigentlich nicht hingehen, aber an jenem Tag hatte ich das seltsame, das zwingende Gefühl, dass ich es tun müsste. Ich folge immer meinen Gefühlen, verstehen Sie, bin immer meinen Gefühlen gefolgt, weil sie für mich der Ausdruck meiner Triebe sind, oder die Triebe Ausdruck der Gefühle, was meinen Sie, unterbrechen Sie mich nicht, ich weiß es nicht.
Alle standen sie dort, dort hinten, sehen Sie, dort, wo sich die zwei Wege kreuzen, alle hatten sich feingemacht, sind in ihre vermutlich besten Kleidungsstücke geschlüpft, haben sich herausgeputzt für den Tod, so als wäre es angebracht, sich für den Tod herauszuputzen. Ich war nie so, warum hätte ich mich auch auf eine besondere Art kleiden sollen?
Nur weil in dem schwarzen Sarg das offene Fleisch der Frau lag, mit der ich fast 30 Jahre das Bett geteilt habe? Achten Sie auf jedes Wort, das Bett geteilt, nicht das Leben. Ich habe mein Leben nie geteilt, dazu bin ich zu geizig, aber das Bett haben wir geteilt, verstehen Sie, das Bett haben wir geteilt, bis es nicht mehr ging“,

sagt er,

„bis es nicht mehr ging.“

*

„Ich habe eine Weile als Steinmetz gearbeitet“,

sagt er und weist auf die Reihe von Grabsteinen zu unserer Linken, die sich an der Bank entlangzieht.

„Dilettantisch“,

sagt er und spuckt ein weiteres Mal aus,

„aber es sind ja auch nur Grabsteine, was ist schon ein Grabstein, nichts als ein Stein auf einem Grab, aber die Menschen vergessen das, die Menschen vergessen so vieles. Ich selbst habe Skulpturen geschaffen, Skulpturen für Kirchen wie für Kunstsammler, wobei Kirchen mir nichts anderes sind als Kunstsammler. Eine ganze Weile lang war ich damit sehr erfolgreich und obwohl ich immer dieselbe Art, denselben Stil favorisiert habe, war ich auf einmal irgendwann überhaupt nicht mehr erfolgreich, aber es blieb mir genug Geld zum Leben, Geld zum Atmen, verstehen Sie, und wenn ich sterbe, dann werde ich alles, was ich besitze, spenden,
ja, hören Sie, ich werde es spenden: Spenden für Tierversuche, Spenden für Waffenfirmen, Spenden für den internationalen Terrorismus, verstehen Sie, weil ich nichts verschenken will als den Tod, denn was sollte ich sonst verschenken außer meiner Verachtung? Sehen Sie, ich habe immer mit Stein gearbeitet, weil es ein totes Material ist. Stein ist immer Stein, immer gleich, verändert sich nicht, und selbst wenn man die kühnsten Formen, die vollendetsten Formen in seine Oberfläche schlägt, bleibt er doch tief in seinem Innern derselbe Stein, der der er immer war. Verstehen Sie? Wenn man etwas verändern will, dann gibt es keinen enttäuschenderen, keinen niederträchtigeren Beruf als den des Steinmetzen, denn es ist alles nur Makulatur,
dieser Gedanke gefällt mir. Ich glaube, dass alles, durchweg alles, Makulatur ist, so wie wir nichts als Fleisch und Knochen sind, Fleisch, Knochen und die Triebe, die sich zwischen Fleisch und Knochen eingenistet haben. ‚Ich bin Steinmetz’, habe ich früher immer gesagt, wenn mich jemand nach meinem Namen gefragt hat. Aber schauen Sie, sehen Sie die Bäume?
Dieselben Bäume wie damals, ich glaube, sie sind nicht einmal gewachsen, obwohl der Boden hier mit Tod getränkt ist, nein, es sind noch dieselben Bäume wie an jenem Tag. Dort standen sie, dort, ach ich kann sie sehen, diese Heuchler, diese verlogen trauernde Gesellschaft. Nicht einmal ich habe an jenem Tag getrauert, und ich stand ihr am nächsten, nein, ich habe gelacht, weil ich mich frei gefühlt habe, ich habe nicht gelacht, obwohl sie gestorben ist, ich habe gelacht, weil sie gestorben ist, und ich habe es jedem gesagt, jedem, der es wissen wollte. Und sie, sie haben nur geweint, sie haben immer geweint, wenn ich gelacht habe, begreifen Sie, wie verschieden wir waren, wie verschieden wir sind. Sehen Sie, es wird langsam dunkel, es wird langsam Nacht. Glauben Sie, dass die Ratten nachts schlafen?“

*

„Ich habe einmal einen Engel aus Stein geschlagen“,

erzählt er und seine Augen blicken ins Leere,

„für eine kleine Kirche, in einer kleinen Stadt, aber es war meine beeindruckendste, meine schönste Arbeit.
Verstehen Sie, wie ich ‚schön’ meine“,

fragt er mich und ich zucke mit den Schultern.

„Nicht in einem trivialen Sinne schön, wie eines dieser magersüchtigen Models, oder wie eine Hure schön ist, nein, ich verstehe den Begriff ‚schön’ losgelöst von wechselnden Moden, wechselnden Geschmäckern, wechselnden Leben, wechselnder Heuchelei. Wenn ich
‚schön’ sage, dann meine ich erhaben, erhaben über alles, das nur Heuchelei ist. Es war ein zorniger, ein boshafter Engel, man könnte fast sagen, ein finsterer Engel, und in seiner Finsternis war er schön, können Sie das verstehen? Begreifen Sie, was ich mit ‚schön’ meine? So ist auch meine Schönheit beschaffen, meine Pietät, Sie wissen, wie ich es meine. Als ich die ersten Stücke vom Steinblock weggeschlagen habe, sogar mit einiger Wut weggeschlagen habe, ich entsinne mich genau dieser Wut, da habe ich ihn bereits gesehen, habe seine Finsternis gesehen, man könnte sagen, ich habe das schwarze, boshafte Herz dieses Engels gesehen, genau in der Mitte des Quaders, genau in der Mitte, unveränderlich böse, und ich habe mich Schlag um Schlag an es herangetastet. Nie war ein Stein härter, den ich bearbeitet habe, und in dieser Härte habe ich meine eigene Schwäche erkannt, verstehen Sie, ich habe erkannt, dass meine Finsternis gar nicht so finster ist, wie ich immer dachte, dass sie abstirbt in dem dunklen Glanz dieses Steines, dass sie irgendwo Licht in sich trägt, meine Finsternis, dass sie unrein ist, diese meine Finsternis. Der Engel war schon da, bevor es mich gab, bevor es die Kirche, ja bevor es die Stadt gab. Man könnte sagen, dass er ewig ist, dass er noch Engel sein wird, wenn seine Form längst gebrochen, zerborsten, entartet ist, so wie Menschheit bricht, birst und entartet. Mir wurde viel Geld für diesen Engel geboten, für mich, zum damaligen Zeitpunkt, eine unermessliche Summe, damals, als ich noch an Zahlen geglaubt habe, doch was sind schon Zahlen, nein, ich wollte es nicht, ich wollte, dass dieser Engel eine Kirche ziert, eine Kirche entlarvt, nahezu entweiht, wenn es so etwas wie Weihe gibt und ich glaube nicht an Weihe. Man könnte sagen, dieser Engel hat eine Heuchelei entheuchelt, falls Sie mir noch folgen können. Folgen Sie mir? Folgen Sie mir in meine Finsternis?“

*

„Danach habe ich nichts mehr zustande gebracht, weil ich nie wieder einen solchen Stein gefunden habe, vielleicht gab es auch nur ihn, vielleicht habe ich auch vorher niemals etwas zustande gebracht und es ist mir erst in diesem Moment bewusst geworden, dass ich niemals etwas zustande gebracht habe. Es war gewissermaßen, auch wenn dieser Begriff trivial geworden ist, eine Umkehrung der Werte. Mit einem Mal, eben in jenem Moment, als ich den letzten Funken des Zorns aus dem Stein befreit hatte, war ich als Steinmetz verloren und ich habe es in jenem Moment begriffen: Das meine Arbeit getan war. Niemals wieder seit jenem Moment habe ich eine Skulptur geschaffen, bewusst geschaffen, denn wir schaffen ja tagtäglich Tausende und Abertausende von Skulpturen, wohlan:
Abertausende Skulpturen habe auch ich, aber in Gedanken, aus Stein und wieder zu Stein, zu Sand, zu Staub geschlagen, manchmal mit meinem Steinhammer, manchmal mit meinen nackten Fäusten.
Wissen Sie, welche Kraft es kostet, sich die Fäuste blutig, die Knöchel mehlig zu schlagen, an kaltem Stein, der nichts als Gedanke ist. Manchmal wird mir kalt bei jenem Gedanken und wenn wir frieren, sterben wir. Haben Sie einmal darüber nachgedacht? Haben Sie es jemals so betrachtet? Wenn ich friere, beginne ich zu sterben, ich nähere mich dem Tod und halte erst wieder inne, wenn ich mich wärme. Man stirbt täglich, immer wenn man friert, beginnt man zu sterben und man wird sehr nachdenklich, wenn man friert und die größten Lügen kamen aus den Mündern sterbender Menschen.
‚Vergebung’ ist so ein Wort, verstehen Sie, ‚Barmherzigkeit’ ist so ein Wort, das mir einfällt, wenn ich friere und ich friere oft und danach lache ich über dieses Wort, schreie über dieses Wort, lache und schreie über diese Heuchelei. Man braucht nicht die äußere Temperatur zu verringern, um zu frieren, nein, man muss die innere Temperatur senken, senken, immer tiefer hinab. Immer tiefer hinab.“

Er betrachtet einen Vogel, der sich auf einem Grabstein niederlässt.

„Frieren Sie manchmal?“,

fragt er mich und ich nicke:

„Ja, manchmal friere ich“,

antworte ich ihm und er nickt zurück.

„Bewahren Sie ihre Gedanken, wenn Sie frieren, schreiben Sie sie auf, halten Sie sie fest und sie werden Finsternis, glauben Sie mir! Nein, glauben Sie mir nicht,
erleben Sie es selbst, achten Sie darauf, wenn Sie frieren.“


Kapitel 9


Und der alte Mann sprach:

„Ich bin mein Leben lang über Scherben gelaufen, ein Leben lang über Scherben, natürlich barfuß, über Scherben und Feuer, deshalb war ich immer so rastlos, verstehen Sie. Ich konnte nie innehalten, war mein Körper doch auch nie zum Innehalten geschaffen, es war stets Streben,

Streben und Scherben,

verstehen Sie, selbst wenn ich sitze oder stehe, gehe ich über Scherben, begreifen Sie meine Finsternis, und wenn ich schlafe, dann schlafe ich auf Scherben;
Scherben, zu denen mein Leben und mein Streben geworden ist. Ist das nicht verrückt“,

fragt er mich und als ich nicke, mustert er mich misstrauisch.
*
„Wollten wir nicht noch zum Grab Ihrer Frau?“,

frage ich ihn, als wir uns wieder erhoben haben und in Richtung des Ausganges gehen, doch er antwortet nicht, pfeift stattdessen eine Melodie, die mir bekannt vorkommt, die ich aber nicht zuordnen kann.

„Waren Sie schon einmal in einem Konzentrationslager?“,

fragt er, lacht dann und sagt:

„Nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich weiß sehr wohl, dass Sie nie in einem Konzentrationslager waren,
dafür sind Sie zu jung, aber waren Sie später einmal in den Trümmern eines Konzentrationslagers, in den Ruinen unserer deutschen Gründlichkeit?“,

fragt er mich und ich schüttele den Kopf.

„Ich bin einmal dorthin gereist“,

sagt er,

„aber denken Sie nicht, ich hätte es mit einem schlechten Gewissen getan, weil man kein schlechtes Gewissen haben kann, wenn man den Krieg erlebt und überlebt hat, weil diejenigen dort gestorben sind, diee an so etwas wie ein Gewissen geglaubt haben. Nein, es war ein Gedanke, der mich dort erschreckt hat“,

sagt er, als wir durch das Friedhofstor auf die Straße gehen.

„Nicht die Haare haben mich schockiert, die Haare oder die Zähne, die sie dort gesammelt haben, als hätten sie eine Aussage. Ich habe so viele Haare, so viele Zähne in meinem Leben gesehen, nein, das hat mir keine Angst gemacht, ebenso wenig wie diese Stehzellen,
in die ich mich zum Zeitvertreib auch für einige Minuten hineingestellt habe, nein, es war etwas anderes, etwas subtileres, was im Entferntesten mit dem zusammenhängt, was ich Ihnen über die Sinnlosigkeit der Körperhygiene erzählt habe. Es war in einem dieser Waschräume, einem dieser Räume, in dem Menschen über Menschen getrieben wurden, um ihre kotverschmierten, verlausten, blutenden und geknechteten Leiber zu reinigen, verstehen Sie, nicht aus Pietät und das wäre auch nicht meine Pietät gewesen, sondern einzig und alleine aus dem Gedanken heraus, dass man nicht wollte, dass sich Seuchen ausbreiten, denn die Gefangenen mussten das Lager ja immer weiter ausbauen, allein schon, um die Vernichtung der zukünftigen Gefangenen zu sichern. Ich stand also in diesem Waschraum und habe versucht mir vorzustellen, wie es damals dort wohl war, wie die Menschen dort dichtgedrängt standen, nackter Leib an nacktem Leib,

eiskaltes Wasser und Faustschläge

und genau in dem Moment, in dem ich es gefühlt habe,

eiskaltes Wasser und Faustschläge, Stiefeltritte,

da habe ich diese kleinen Seifenschälchen bemerkt, die in der perfektesten Symmetrie immer wieder rechts, neben jedem Waschbecken, angebracht waren, verstehen Sie? Verfallen Sie bloß nicht dem Gedanken, dass jemals auch nur das kleinste Stück Seife auf diesen Schalen gelegen hat, die wurde gebraucht, wir hatten nicht einmal genug Seife an der Front. Nein, es war vielmehr so, dass man Seife aus den Menschen gemacht hat, die dort eben ohne Seife standen. Nein, diese kleinen Seifenschälchen waren dort nur, weil neben ein Waschbecken ein Seifenschälchen gehört, begreifen Sie nun, was ich mit der deutschen Gründlichkeit meine, verstehen Sie, manchmal habe ich Angst, dass meine Finsternis gar nicht finster genug ist, begreifen Sie, manchmal habe ich das Gefühl, dass dort zu viel Licht ist, in meiner Finsternis, denn ich war für einen kurzen Moment betroffen, betroffen wegen der Seifenschälchen und ihrer Sinnlosigkeit, wobei ja auch die gesamte Körperhygiene sinnlos ist, ich habe es Ihnen erklärt. Ich habe dann aber meine Betroffenheit überwunden und habe laut gelacht, so wie ich immer laut lache, nachdem mich etwas erschreckt hat, weil der Schrecken doch sinnlos ist und weil ich mehr Schrecken gesehen habe als diese gekachelten Wände. Verstehen Sie? Verstehen Sie meine Finsternis?“

*

„Ich habe ihr immer Blumen gekauft“,

sagt er als wir bereits wieder über die Allee schreiten,

„Blumen gekauft und neben das Bett gestellt, damit sie sehen konnte, wie sie welken. Oft habe ich sie auch darauf hingewiesen, nicht mit Worten, aber mit einem Fingerzeig. Ich habe dann über die welke tote Blüte gestrichen, ebenso, wie ich zuweilen mit der Hand über ihre welke, tote Haut gestrichen habe. Nur so konnte ich ihr deutlich machen, dass sie nicht mehr erwünscht war, dass sie aufhören soll zu kämpfen. Manchmal hat sie versucht sich aufzusetzen und dann musste ich sie schlagen, verstehen Sie, man braucht keine große Kraft, um den Willen einer todkranken Frau zu brechen, es reicht eine gewisse Finsternis, meine Finsternis, und ich besaß immer genug Finsternis für uns beide.

‚Es geht auf zur Hölle’

habe ich manchmal gesagt, wobei ich ansonsten geschwiegen habe, eigentlich immer geschwiegen habe,
als ich sie noch nicht belog. Auch der Geschlechtsakt war verlogen, können Sie es sich vorstellen, ein Geschlechtsakt, bei dem ihr jede Bewegung schmerzte, jede Bewegung Qual war, ein Geschlechtsakt als Pflichterfüllung, denn sie kannte ihre Pflichten, kannte sie bis zuletzt, diese Hure. Ich war immer so zornig, wenn ich sie gefickt habe, ja, ich sehe es, ich habe es vor Augen, sehen Sie es auch? Ich war immer so zornig, weil mich der Geschlechtsakt an ihren Betrug erinnert hat, weil jeder Geschlechtsakt Betrug war, wenn nicht sogar insgesamt jeder Geschlechtsakt Betrug ist, verstehen Sie, Betrug. Milliarden von Samen habe ich in meinem Leben auf und in ihr vergossen, Finsternis gesät, warten Sie, sehen Sie den Mann dort vorne?“

Er weist mit der Hand auf einen Obdachlosen, der am Straßenrand in sich zusammengesunken eingeschlafen ist, der noch nicht dort war, als wir zum Friedhof gingen.

„Kommen Sie“,

sagt er und wir treten zu der traurigen Gestalt, die dort sitzt, wie auf den Asphalt gegossen.

„Was sind Sie nur für eine traurige Gestalt?“,


sagt der alte Mann und ich blicke mich auf der Straße um, weil mir die Situation unangenehm ist, weil ich nicht will, dass man uns beobachtet, aus den unzähligen Fenstern heraus, die in unsere Richtung blicken.

„Hören Sie mich“,

sagt er und stößt den Obdachlosen mit der Hand grob gegen die Schulter.

„Ich kenne Sie, oh ja, ich kenne Sie.“


*

„Wenn man alt ist und in unseren Zeiten lebt“,

sagt er zu mir,

„dann kennt man viele Menschen aus dem Krieg, kennt Sie als Täter, Verräter oder einfach als Opfer. Dieser Mann hier war ein Täter und in seiner Eigenschaft als Täter ebenso Opfer. Ist es nicht so?“,

sagt er zu dem Obdachlosen, der langsam zu sich kommt, den Kopf aufrichtet, uns betrachtet.

„Dieser Mann war bei der Gestapo“,

sagt er, nun mehr zu sich selbst,

„verstehen Sie die Ironie des Lebens? Damals gab es keine Obdachlosen, weil es die Gestapo gab und weil die Obdachlosen entweder zur Gestapo befördert oder von der Gestapo erschossen wurden. So ist das Leben, Fortuna, es tauscht die Rollen und nun sehen Sie sich dieses arme Geschöpf an. Ich verachte Sie“,

fährt er den Obdachlosen an und tritt ihm mit dem Bein in die Seite.

„Wir sollten weitergehen“,

sage ich, blicke mich immer wieder um, doch niemand kümmert sich um uns, obwohl ich sicher bin, dass man uns beobachtet.

„Wo ist Ihre Disziplin geblieben“,

ruft er empört und tritt noch einmal nach dem hilflosen Mann, dessen Gesicht vor Schreck erstarrt ist und der uns seine schmutzigen Hände sich verteidigend entgegenreckt.

„Ich glaube an die Finsternis“,

predigt der alte Mann, wobei er noch immer streng nach unten sieht, wie ein zorniger Richter,

„auf dass es keine andere Finsternis neben ihr gebe, und kein Sabbat ist mir heilig, ich habe nie meine Eltern geehrt, ich habe die Ehe gebrochen, gestohlen, ich habe meine Frau belogen, belogen habe ich sie, jeden Knecht, jede Magd, jedes Kind, jeden Esel habe ich begehrt, lachen Sie nicht, obwohl mir niemals jemand nahe stand. Begreifen Sie das? Kommt Ihnen das bekannt vor? Aber ich gehe aufrecht. Ich habe diesen Mann morden sehen, habe gemeinsam mit ihm gemordet, doch heute gehe ich aufrecht, während er zu nichts als zu einem bettelnden, schwachen Stück Fleisch verkommen ist. Wollen Sie Geld?“,

fragt er plötzlich den Obdachlosen und lacht ein böses Lachen, als dieser immer wieder nickt, bittend seine Hände hochhält, die gerade noch zur Verteidigung vorgestreckt waren.

„Verstehen Sie“,

sagt er zu mir,

„begreifen Sie, wie determiniert er ist, unabhängig davon, dass jeder und alles determiniert ist, erscheint mir doch dieses Objekt am determiniertesten.
Ich brauche nur ‚Geld’ zu sagen und er ist mir hörig, verstehen Sie, er ist meine Hure, und dieser Mann war einmal mein bester Freund, soweit es so etwas wie Freundschaft überhaupt gibt.“

Er spuckt auf den Boden, denkt kurz nach und spuckt dann noch einmal aus, auf den Obdachlosen.

„Sehen Sie, dieser Mann ist ein seltsamer Grenzfall. Er ist seinen Trieben gefolgt, hat ein unreines Leben geführt, so wie ich, aber er ist doch schwach, schwächer als ich, verstehen Sie? Deshalb empfindet er Schuld, weil er diese Schuld nicht früh genug in seiner Finsternis versenkt hat, weil er seine Schuld erkannt, aber nicht versenkt hat. Würde ich eine Waffe bei mir führen, hätte ich ihn erschossen, ohne Wort, ohne Bedeutung, so wie man eine Dose öffnet oder das Licht anschaltet und glauben Sie mir, er wäre mir dankbar gewesen. Er sitzt dort und wartet auf eben diese Kugel, die ihm verwehrt bleiben wird. Ich habe keine Waffe, weil sich die Zeiten geändert haben, weil niemand mehr die Straßenränder von jenen säubert, die finster, aber zu schwach sind. So muss er weiter hier sitzen bleiben, weiter sitzen und frieren, weiter sitzen und hungern, weiter sitzen, bis er stirbt, angewiesen auf Barmherzigkeit und Heuchelei.“

Er streicht ihm mit der Hand durch das feuchte, schweißnasse Haar, krallt dann plötzlich seine Hand darin zusammen und zieht ihn ein Stück zu sich empor, so dass sie sich in die Augen blicken.

„Es geht auf zur Hölle“,

sagt er,

„auf zur Hölle derer, die schwach sind. Grüßen Sie meine Frau!“,

sagt er, wendet sich ab und wir gehen weiter


*

Wir gehen gerade an einer Kirche vorbei, als er plötzlich anhält, einen Moment nachdenkt und mich dann ansieht:

„Lassen Sie uns in die Kirche gehen“,

sagt er dann,

„ich möchte beichten!“

Ich nicke und er lacht.

„Nein. Glauben Sie es im Ernst? Warum sollte ich beichten? Ich lebe gar nicht mehr lange genug, um alle meine Sünden zu beichten. Warum sollte ich damit beginnen?, wo es doch auch keine Sünden gibt, wo alles Natur ist, nein, ich finde es zuweilen lustig die Menschen zu beobachten, die dort beten, ja, zuweilen ist es mir eine große Freude, sie dort zu beobachten, wenn sie beten, verstehen Sie, es bringt mich zum Lachen, kommen Sie, nun kommen Sie schon. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

*

„Manchmal denke ich an meine Tochter“,

sagt er, als wir auf einer der hinteren Bänke in der fast leeren Kirche sitzen. Es ist kalt hier, so wie es meist kalt in Kirchen ist, und ich blicke mich um, betrachte den Kreuzweg, die bunten Fenster, die vielen Kerzen.

„Ich denke an meine Tochter, aber ich habe kein Bild von ihr in meinem Kopf, verstehen Sie, ich stelle mir manchmal vor, wie sie wohl aussieht, meine Tochter, und dann frage ich mich, ob sie wohl einen Teil meiner Finsternis geerbt hat, ob auch sie Finsternis in sich trägt. Verstehen Sie die Brisanz dieser Frage? Wird meine Finsternis mit mir absterben, vergehen, an dem Tag, an dem sich meine Krankheiten gegen mich verbünden, oder ist es mir gelungen einen Teil weiterzugeben? Es sind jene Momente, jene heuchlerischen weil religiösen Momente, in denen ich mich frage, was mit meiner Finsternis geschieht, wenn ich sterbe, jene Finsternis, deren Kleid ich so sorgsam mein Leben lang gewoben habe. Es sind meine schwächsten Momente, in denen ich so denke, denn es ist falsch so zu denken, weil ich ja auch zweifle, zweifle, ob meine Finsternis tatsächlich einzigartig ist. Sie ist finster, das steht außer Frage, aber ist sie vielleicht nur für mich einzigartig. Ich weiß es nicht. Wie sollte ich es wissen? Verstehen Sie, nach meinem Tod wird sie also erst recht nichts Besonderes mehr sein, ihre Einzigartigkeit verlieren, aber wird es sie noch geben?“

Dann lacht er.

„Lassen Sie uns ein Licht entzünden, dort vorne“,

ruft er und weist mit der Hand auf einen schwarzen Tisch mit Lichtern.

„Lassen Sie uns ein Licht für meine Finsternis entzünden“,

ruft er noch einmal, diesmal so laut, dass seine Stimme hohl von den Wänden zurückgeworfen wird.


*

„Ich trage solchen Zorn in mir“,

sagt er, als er behutsam ein Licht an einem anderen entzündet.

„Begreifen Sie diesen Zorn?“,

fragt er mich und ich weiß nicht, ob ich nicken oder mit dem Kopf schütteln soll.

„Sehen Sie dieses gewaltige Haus, das man für eine Lüge errichtet hat, und es gibt unzählige solcher Lügenhäuser, überall auf der Welt. Verstehen Sie diese Heuchelei? Man predigt Barmherzigkeit, während sich die Menschen auf den Straßen zusammenrotten, auf den Straßen hungern, auf den Straßen frieren, die Straße prostituieren mit ihrer Armut, doch man errichtet Lügenhäuser für Geister, Lügenhäuser für Geister überall auf der Welt, so viele Lügenhäuser, dass es ein Leichtes wäre, den Armen, den Schwachen dieser Welt dort Schutz vor dem kalten Wind unserer Zeit zu bieten, aber es sind eben die Schwachen, die Armen, die ihr prostituiertes, ihr erbetteltes Geld in die Kollekte werfen, in die Kollekte für neue Lügenhäuser.

Absolution für den Papst“,

schreit er, doch es ist niemand da, der auf uns achtet.
Dann ist er auf einmal wieder ganz ruhig.

„Vielleicht sollte ich, falls sich meine Krankheiten einmal gegen mich verbünden, mein gesamtes Hab und Gut der Kirche spenden, damit sie noch mehr dieser Lügenhäuser errichtet. Was meinen Sie?“,

fragt er mich und lacht.

„Es ist finster hier“,

sagt er dann,

„vielleicht fühle ich mich deshalb manchmal heimisch, wenn ich durch diese Pforten schreite, finster ist es hier, und mit jeder Kerze, die hier brennt, wird es finsterer.
Verstehen Sie, die Finsternis hat nichts mit dem Licht zu tun, das habe ich Ihnen doch erklärt“,

sagt er und entzündet eine weitere Kerze.
 
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