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Maskaron - Kapitel 1

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 1

Er trat hinaus auf die verregnete Straße und zog die schwere Metalltüre hinter sich zu,
deren erschrecktes Kreischen im Stakkato des Niederschlages erstickt wurde. Es war kalt
und hässlich an solchen Abenden im heraufziehenden Winter, doch er mochte solche Tage,
an denen sich die Welt so zeigte, wie sie war. Grau und dunkel blickte ihm die Stadt entgegen, die im Glanz der schmutziggelben Laternen fahl und surreal wirkte. Trotz des Regens blieb er einige Momente stehen und betrachtete die Insekten, die in der scheinbaren Sicherheit eines gebeugten Vordaches immer wieder gegen die Glasschale des elektrischen Lichtes flogen, hinter der sie nichts als der Tod erwartete.
„Sie sind einfach einsam“,
hatte der Mann mit der Brille gesagt und zu der obligatorischen Photographie auf seinem Schreibtisch geblickt, so als wolle er sich versichern, dass sein Leben einen Sinn hatte.
Vielleicht hatte er recht, doch er glaubte nicht, dass dies die Antwort auf all seine Fragen war. Fast schien ihm die Geselligkeit der anderen Menschen wie ein Schleier, der die Antworten verbarg oder sie entwertete. Er ging weiter.
Rechts und links seines Pfades blitzten zunächst vereinzelt die Neonreklamezeichen einiger Bars aus der Monotonie sanierter Reihenhausfassaden auf, dann wurden sie häufiger, je näher er dem Stadtkern kam. Er hatte kein wirkliches Ziel, wenn man sich nicht damit zufrieden gab, dass der Weg das Ziel war, doch manchmal, an Tagen wie diesem, zog es ihn zu den belebten Plätzen, obwohl er stets nur Zuschauer blieb, und so boten die Orte auch nur Erinnerungen an Situationen, die er beobachtet, aber nie erlebt hatte.
„Du musst dich mehr einbringen, du bist so ein netter Junge“,
hatte die Mutter früher oft gesagt, während der Vater stets geschwiegen hatte, so dass sein Tod damals nicht wirklich aufgefallen war.
Er musste kurz und schmerzhaft lachen, dass er sich immer wieder an diese Worte erinnerte,
die sie vor über zwanzig Jahren, zwar mehrmals, aber doch wohl nur aus einer Laune heraus an ihn gerichtet hatte.
Wortfetzen einer vorbeiziehenden Gruppe Jugendlicher drangen an sein Ohr, doch er konnte sie nicht zusammensetzen, überdeckte der Regen doch alles mit einem traurigen Rauschen, welches keinen Platz für etwas anderes ließ. Vielleicht war es das, was Fremde bedeutet.
Er wich dem Strom der entgegenkommenden Passanten aus, die sich unter bunten Schirmen versteckten und doch alle nass wurden, da der Regen wie von allen Seiten die Stadt benetzte.
Wie sinnlos dies doch war, und wie traurig, dass er der Einzige war, der die Sinnlosigkeit erkannte und keinen bunten Schirm hatte, den er über seinem Kopf aufspannen konnte. Doch bestimmt wäre es auch aufgefallen, dass er den Schirm nicht aus Überzeugung trug, und er wollte sich nicht anbiedern.
„Sie sind einfach einsam.“
Wie gemein diese Worte doch waren und wie falsch das Wort „einfach“ wirkte, das nicht neben „einsam“ passte. Er bog von der Hauptstraße ab und kehrte denen den Rücken zu, die er für ihren Selbstbetrug gleichzeitig bewunderte und verachtete.
Schnell hatte sich die Gosse mit Wasser gefüllt, welches seinen Weg aber nur träge durch die verstopften Gullydeckel fand. Wieder blieb er stehen, diesmal neben einem dieser Deckel, die mit Blättern, Zigarettenschachteln und einigem anderen Unrat übersät waren, zögerte kurz und schob dann mit dem Fuß die feuchte Masse ein Stück beiseite, ein Stück auf die Straße.
Wie befreit stürzte das Wasser hinab und das kleine Bächlein setzte sich zuerst im vorderen Bereich in Bewegung, dann strömte Wasser von hinten nach und die Geschwindigkeit steigerte sich, bis sie schließlich das gesamte Wasser in der Gosse erfasst hatte, so weit er blicken konnte. Es waren die kleinen Dinge, die Bedeutung hatten.
Er lachte laut, dann verstummte er abrupt und blickte sich nach allen Seiten um, ob ihn jemand beobachtet hatte. Doch niemand außer ihm war da, dort in der kleinen Seitengasse, nur der Regen hämmerte Beifall auf das schwarze Pflaster. Er ging weiter. Von hier aus wäre es nicht mehr weit bis zu ihm nach Hause gewesen, doch nichts reizte ihn weniger, als die bemitleidenden Blicke der Nachbarn, deren Schatten er oft durch die Türspione zu erahnen glaubte, egal wie leise er die Treppen in die Einsamkeit emporschlich. Jeder beobachtete ihn.
So beschloss er noch einen kleinen Umweg zu machen und zu inspizieren, inwieweit die Sanierungsarbeiten an der Fassade der örtlichen Dorfkirche fortgeschritten waren. Immer noch regnete es und seine Kleidung hatte sich zwischenzeitlich derartig voll Wasser gesogen,
dass er das Gefühl hatte, als hätte sich sein Gewicht verdoppelt, das er zuvor noch leichtfüßig aus der Wohnung des Therapeuten getragen hatte.
„Jeder hat sein Kreuz zu tragen“,
rief er einem vorbeifahrenden Auto hinterher, nachdem er sich versichert hatte, dass die Fensterscheiben geschlossen waren.
Wer fuhr auch bei diesem Wetter mit geöffneten Scheiben?
Bald hatte er den Kirchvorplatz erreicht und blickte die Mauern hinauf, die einen bedrohlichen Schatten über ihn warfen.
Hässliche Gerüste aus lackiertem Metall rankten sich noch immer an dem Bauwerk empor
und ächzten leise im aufkommenden Wind, der an diesem Platz immer besonders heftig den Regen aufwirbelte. Nichts schien sich hier verändert zu haben, doch das Interesse an der Fassade war auch nur ein vorgetäuschtes, eine Beruhigung des Geistes, der in der letzten Zeit immer mehr von der Furcht getragen war, wahnsinnig zu werden oder die Erkenntnis zu erlangen, dass er es bereits war. Es war eine Ausrede, die ihn beruhigte, ein Scheingrund, denn eigentlich war es die in den Verzierungen versenkte Büste eines Engels, in Form eines Wasserspeiers, der sein Interesse galt. Ein Stück weiter oben, nur unzureichend beleuchtet von den Laternen auf dem Vorplatz, blickte dieser Engel zu ihm herunter und es war, dessen war er sich sicher, das Bildnis eines boshaften Engels.
Er entsann sich genau, wie er ihn das erste Mal entdeckte hatte und bestimmt eine halbe Stunde, selbst zur Figur erstarrt, im Strom der Passanten stehen geblieben war. Noch nie zuvor hatte er einen bösen Engel gesehen, und er hatte ihm immer wieder tief in sein Antlitz geblickt, einfach um sich sicher zu sein, dass er sich nicht täuschte.
Trotz eingehender Recherche hatte er nicht herausfinden können, wer diese Gestalt aus dem Stein, der vorher so gnädig seine Konturen verschleiert hatte, befreit hatte, doch wer auch immer der Schöpfer gewesen war, es war ihm gelungen, das Böse an einem Ort zu verstecken, an dem es niemand vermutete.
Hasserfüllt blickten die steinernen Augen seit Jahrzehnten auf die Menschen hinunter, von denen die wenigsten einen Blick nach oben verschwendeten, zornig waren die kleinen Fäuste geballt und die Flügel schienen in eben der Position versteinert, in der er sich aufschwingen wollte, um seine Wut auf die Welt unter sich zu schleudern. Der Regen ließ nach und für einen kurzen Moment fühlte er sich frei.
Er brach den Blick, der sie beide verband, wandte sich ab und suchte den Marktplatz nach etwas ab, von dem er nicht wusste, was es war.
Einige Menschen, die in den Häusernischen und unter den Vordächern der Geschäfte vor dem Unwetter Zuflucht gesucht hatten, verließen ihre Verstecke und folgten weiter ihren unbekannten Zielen, die der Regen kurzzeitig verwischt hatte. Er wollte nicht nach Hause, nicht zurück in diesen Raum, in dem die Einsamkeit konzentriert schien. Er wollte nicht einsam auf seinem Sessel sitzen und im Fernsehen das Leben anderer verfolgen, die im Alltag Bestätigung und Freude fanden. Ein Stück oberhalb des Marktplatzes blickte ihm eine Leuchtreklame entgegen, die in der sich langsam verdichtenden Dunkelheit wie ein Irrlicht wirkte. „Soma“ stand auf dem Schild, und es erinnerte ihn an ein Buch, welches er vor langer Zeit einmal gelesen hatte. Er wusste nicht mehr, wie es hieß.


So folgte er dem Zufall, dachte beim Gehen eine Weile darüber nach, ob es so etwas wie Schicksal gab und stand dann nach kurzer Zeit vor dem Eingang, vor dem sich einer dieser breitschultrigen Türsteher aufgebaut hatte, der ihn prophylaktisch mit einem bösen Blick musterte.
„Darf ich hinein?“ fragte er vorsichtig und der Mann trat beiseite.
Hinter ihm führte eine Treppe hinab, über die ihm Musik und Qualm entgegenschlugen.
Er folgte den Stufen, wurde um eine enge Kurve herumgeführt, dann öffnete sich der Club vor ihm, seine Füße hinterließen nasse Spuren. Der Raum war nicht besonders groß, architektonisch ungeschickt in die Länge gezogen, so dass die neuen Gäste sich an denen, die gingen, vorbeidrängen mussten, wie es an solchen Orten üblich war. Er mochte es nicht, so nahe bei den anderen zu stehen, hatte es noch nie gemocht, und bei jedem Schritt, den er vorwärts ging, fragte er sich, warum er eigentlich hier war. Nach hinten weg ging es in eine Art Tanzbereich, den einige blinkende Lichter als solchen auswiesen, davor war, parallel zum Gang eine lange wuchtige Theke aufgebaut, an der einige Gestalten zusammengekauert saßen. Es gab auch Tische, aber keiner war völlig unbesetzt, und ihm fehlte der Mut sich einfach so zu einer der Gruppen hinzuzusetzen, an diesen Runden teilzuhaben, in denen die Jugend der Stadt ihre Nichtigkeiten austauschte.
Dann erst sah er den Clown.
Breitbeinig saß dieser auf einem der Barhocker, das Gesicht war mit dicker weißer Schminke überzogen, aus dem sich der fast leuchtend rote Mund abhob, an den er gerade ein Whiskyglas heranführte. Er beobachtete den Clown genauer, diese schwarz umrandeten Augen, die bunten Punkte auf der Jacke. Er war unbewusst stehen geblieben, was ihm erst auffiel, als ihn ein Ellbogen in den Rücken traf und nach vorne schob. Er beugte sich dem Druck, nur nicht auffallen, weiter.
Auf dem Kopf trug der Clown eine dieser wirren Perücken, aus künstlichem roten Haar, welches in die verschiedensten Richtungen strebte, in dem jedes Haar für sich frei wirkte. Neben ihm war ein unbesetzter Barhocker, und ohne lange darüber nachzudenken, bestimmte er diesen Platz als den seinen und trat an die Theke.
„Ist hier noch frei?“
Der Clown wandte sich um, streifte ihn aber nur mit einem Blick.
„Sieht so aus, oder?“
Er ließ sich auf den Sitz nieder, der sein Gewicht angenehm abfederte.
Beide schwiegen eine Weile, doch als die Bedienung ihn endlich entdeckt hatte und er sich einen Scotch bestellte, wandte sich der Clown zu ihm um.
„Na, du siehst aber nicht glücklich aus. Ärger mit der Frau?“
Dann lachte er ein falsches Lachen, so wie es Clowns zu tun pflegen, und sah ihm direkt in die Augen.
„Ich bin Karl. Wie heißt du.“
Er wunderte sich, wie plump Menschen sein konnten. Wie eine dieser elektrischen Puppen mit fünf vorprogrammierten Sätzen, die so ausgesucht waren, dass sie in den meisten Situationen angebracht schienen.
Dann überlegte er, welchen Namen er nennen sollte, und da ihm kein anderer einfiel, sagte er: „Momus“.
„Seltsamer Name“, meinte der Clown, was ihn aber nicht davon abhielt sein Glas zu heben und ihm zuzuprosten.
„Also, Momus“, er betonte den Namen anders, als er ihn zuvor ausgesprochen hatte,
„auf diese gottverdammte, verregnete Nacht“.
Er versuchte das Gesicht hinter der Maske zu erkennen, doch immer wieder entglitt sein Blick auf der weißen Schminke.
„Warum sind Sie so verkleidet?“, konnte er sich nicht beherrschen zu fragen, während er von der jungen Frau hinter der Theke sein Getränk entgegennahm.
„Ach das, das ist mein Job“, sagte der andere,
„ich war bis abends auf so ’ner Veranstaltung und habe Flyer verteilt. Aber warum bist du so durchnässt?“ Er musterte die nasse Kleidung.
„Es hat geregnet.“
Der Clown brach in ein tiefes kehliges Lachen aus, welches nun gar nicht mehr zu seiner Verkleidung passte.
„Also, Momus“, wieder zog er das „o“ quälend in die Länge,
„was machst du denn so, beruflich, meine ich. Schließlich sagt deine Kleidung weniger über dein Leben als meine.“
Wieder überlegte er, sagte schließlich „Tischler“ und nippte an seinem Scotch, in dem viel zu viele Eiswürfel schwammen.
„Ein Tischler also?“
Er blickte wieder geradeaus, wusste nicht, was er sagen sollte.
Ihr Gespräch erstarb ähnlich abrupt wie es begonnen hatte, und als der Clown schließlich den Rest seines Getränkes hinuntergekippt hatte und umständlich und betrunken in seine Jacke schlüpfte, beschloss auch er zu gehen. Er wartete noch einige Momente, bis der andere sich die Treppe emporbewegte, dann bezahlte er seinen Drink und stieg ebenfalls die Stufen hinauf.

Als er auf die Straße trat, war es inzwischen vollständig dunkel geworden. Das Geräusch des Regens war nun gänzlich verstummt, nur vereinzelt glitten einige widerwillige Tropfen von den schrägen Vordächern.
Einige Meter weiter sah er den Clown die Straße hinauftorkeln, welche zurück zur Kirche führte und ohne zu wissen warum, beschloss er ihm zu folgen, wobei er sich bemühte möglichst leise aufzutreten, obwohl der andere sowieso zu betrunken schien, um zu bemerken, dass er verfolgt wurde. Gerade hatten sie den Kirchplatz erreicht, als ihm zu seiner Linken ein großer Haufen mit Pflastersteinen auffiel, mit denen in den nächsten Tagen die Passage ausgebessert werden sollte. Er hatte davon in der Lokalzeitung gelesen. Zunächst nur probeweise hob er einen der schweren Steine empor, doch weil sich dieser richtig anfühlte, beschleunigte er seinen Gang und blickte im Vorbeigehen noch einmal zu der Engelsstatue empor, vor der er zuvor verweilt hatte. Der Zufall wollte es so, dass der Clown die Schritte seiner viel zu großen Schuhe in die Richtung seiner Wohnung lenkte und er gedachte ihn zu erreichen, bevor dieser das alte Fachwerkhaus passieren würde. Schnell hatte er ihn eingeholt und passte sein Schritttempo dem des Clowns erst an, als er einen knappen Meter hinter ihm schritt. Auf einmal wusste er genau, was zu tun war. Eine fremde und seltsame Erregung bemächtigte sich seines Körpers, so dass der Stein in der Hand zu zittern begann und er ihn fester packen musste, um ihn nicht zu verlieren. Hoch über den Kopf hob er ihn, mit beiden Händen, und eben in dem Moment, in dem sich sein Opfer schwerfällig umwenden wollte, ließ er ihn mit aller Gewalt auf dessen Kopf nieder krachen. Es gab ein ächzendes, knackendes Geräusch, so wie sich Scheite im Feuer anhören, und fast ohne Widerstand gab der Schädel bis zu einem gewissen Punkt nach, verformte sich unter dem Gewicht des Steines. Wie ein Kartenhaus fiel der Clown in sich zusammen und wie auf Kommando floss dickes Blut aus dem aufgerissenen Schädel, das im Licht einer entfernten Laterne schwarz wirkte.
Er war nach vorne auf das Gesicht gefallen, so dass er ihn erst einmal herumdrehen musste, um in sein Clownsgesicht blicken zu können. Die Schminke war durch den Kontakt mit dem nassen Pflaster verlaufen, so dass sein Antlitz wie ein Bild wirkte, das ein grobmotorisches Kleinkind ohne große Konzentration gezeichnet hatte. Überall war Blut.
Er musste lachen.
„Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei“ , er summte eine kleine Melodie, die ihn an den Zirkus erinnerte und setzte dann hinzu:
„Jetzt schlag ich dir den Kopf entzwei.“
Er stockte. Obwohl der Hinterkopf unter dem schweren Schlag fast bis zur Hälfte eingedrückt war, schien sich doch noch Leben in diesem Körper zu finden, denn mit einem Mal, riss der Clown die Augen auf, starrte ihn entsetzt an, erkannte ihn und brach dann in ein hysterisches Lachen aus, in das auch er für einige Sekunden einstimmte, dann wurde es ihm zu laut - man musste ja auch an die Nachbarschaft denken – und so kniete er sich auf den Brustkorb des Opfers, hob den Stein erneut hoch über den Kopf und ließ ihn mit der Gewissheit der Endlichkeit in das lachende Gesicht krachen, wo dieser zwischen Zähnen und Knochen hindurch den Weg zu den seinen fand. Dann war es still.
„Ich heiße nicht Momus“, flüsterte er leise.
„Das ist doch eine Romanfigur von Franz Kafka“,
belehrte er den starren Körper und:
„ich bin auch nicht Tischler.“
Niemand sollte ihm nachsagen können, dass er nicht zu seinen Lügen stand.
Dann erhob er sich, warf einen kurzen, prüfenden Blick in alle Richtungen und ging dann in einem gemütlichen Tempo zu seiner Wohnung, die nur knappe hundert Meter von dort entfernt war, wo der Clown auf dem Pflaster lag.
Als er die Haustüre öffnete, welche mit einem zusätzlichen Sicherheitsschloss die Bewohner vor der wachsenden Kriminalität in der Stadt schützte, fühlte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit nicht mehr einsam.



Erst als er im Bett lag, die durchnässte Kleidung, auf der sich auch einige Blutspritzer gefunden hatten, mit seinem samtroten seidenen Pyjama vertauscht hatte und die kalten Füße aneinander rieb, wurde ihm bewusst, dass er einen Menschen getötet hatte.
Warum hatte er dies getan? Er dachte einige Zeit über diese Frage nach und entschied dann, dass es ohne Bedeutung war. Wichtig war, dass dieser Abend anders gewesen war als die vorigen, dass er sich strahlend und bedeutend aus dem Alltag erhob und dass er sich merkwürdig erregt fühlte, wie ein wildes Tier, das nach einem blutigen Kampf das geschlagene Wild in sein Versteck schleift, um sich an ihm zu erfreuen. Die eigenen vier Wände, an denen er sich oft in stumpfer Verzweiflung die Fäuste blutig geschlagen hatte, umfingen ihn nun voller Geborgenheit und Ruhe. Wie lange hatte er sich nach einem solchen Moment gesehnt, in dem es nichts gab als Frieden, keine Zweifel, keine Unsicherheit, nichts als Geborgenheit und auch Stolz, dass er sie gefunden hatte. Mild lächelte ihm von der Wand die Mona Lisa entgegen, welche er selbst nach einer Vorlage auf die Leinwand gezeichnet hatte, und zum ersten Mal glaubte er in seiner Bettwäsche tatsächlich den Frühling zu riechen, der ihm in der Werbung versprochen worden war. Und welche Konsequenz sollte er fürchten? Die Abgeschiedenheit einer Gefängniszelle schien ihm nicht bedrohlich, nur dieses Bild, welches er betrachtete, würde er gerne mitnehmen. Außerdem war es schwer ihm auf die Schliche zu kommen und das wusste er. Er hatte kein Motiv und er war sich einigermaßen sicher, dass ihn niemand in der finsteren Straße gesehen hatte. Das Töten an sich war nicht schwer gewesen. Jeder würde es fertig bringen, einen Stein emporzuheben und ihn vor sich niederzuschmettern. Er wusste nicht warum, aber irgendwie war der Gedanke beruhigend. Er fühlte sich mit sich selbst im Reinen und er nahm sich vor, den Fortschritt, den dies zweifellos darstellte, seinem Therapeuten in der nächsten Sitzung mitzuteilen. Wie würde sich dieser mit ihm freuen. Dann, kurz bevor sich der Schlaf auf ihn hinabsenkte, dachte er noch an den steinernen Engel, und in einem Zustand irgendwo an den Grenzen des Wachseins sah er dessen Gesicht genau vor sich, strich mit dem Finger die feinen Konturen und Linien nach, die er sich bis ins kleinste Detail eingeprägt hatte. Dann, irgendwann, entglitt er ganz und noch im Schlaf wollte das Lächeln nicht weichen, welches in sein Gesicht getreten war und sich dort auch überhaupt nicht mehr fremd anfühlte.
 
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autoralexanderschwarz (14.04.2008)

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