Gleißendes Sonnenlicht fiel auf den breiten Strom unterhalb der Burgruine Giebichenstein. Immer noch schlängelte sich die thüringische Saale glitzernd durch die Händel-Stadt. Gleich einem Reptil, auf dessen Rücken funkelnde Diamanten eingelegt waren. Der Tag war ein besonderer. Er würde zeigen, wie persönliche Zuwendung Barrieren niederreißen kann.
Der gebeugte Oberkörper der Greisin geriet während ihrer Trippelschritte zeitweise bedrohlich ins Wanken. Da wurde jeder Meter zur Hauptverkehrsstraße zum Kreuzweg der Marter. Erst vor Kurzem hatte die Stadt die Ampelanlagen so geschaltet, dass auch behinderte Senioren die andere Straßenseite sicher erreichen konnten. Doch an diesem Tag schienen die Verkehrsampeln die „Sommer-Grippe“ zu haben. Sie waren „tot“. Wollte die Alte die andere Straßenseite sicher erreichen, blieb nur der Zebrastreifen allein. Aber kein Autofahrer hielt vor diesem markierten Fußgängerüberweg.
„Schön warten, Mutti, bis die Straße frei ist“, sagte Markus zu der Oma und fasste nach ihrem rechten Arm“, hier sind doch lauter Irre mit Hitzekoller unterwegs.“ Die alte Frau hob ihr liebes Gesicht, nickte zustimmend, lächelte verlegen und trat wieder einen Schritt zurück.
Der Frau muss geholfen werden, überlegte Markus. Entschlossen hob er seine linke Hand dem rollenden Verkehr entgegen. Jetzt verstanden die Autofahrer und hielten vor dem Zebrastreifen. Ohne zu zögern hob Markus sein altes Mütterchen mit starken Armen hoch und parkte sie an seiner breiten Brust. Noch einmal umsichtig geguckt, auch auf die Gegenfahrbahn, und mit schnellen Schritten trug er seine kleine Last zur anderen Straßenseite. Hier ließ er sie sanft zu Boden gleiten und empfing seinen Dank: Einen zarten Kuss von welken Lippen.
Ehe die Frau nun ihr Haus betrat, sah sie noch einmal zurück zu ihrem Helfer, der durch persönliche Zuwendung Barrieren niederzureißen vermochte. Hob ihre kleine Hand, winkte einen Abschied und bewegte lautlos ihre Lippen: „... du warst sehr lieb, mein Junge.“
© 30.09. 2006 joLepies