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23 Seiten

Fisteip - teil 3

Romane/Serien · Spannendes
Der Samstag Morgen begann für Tommy mit den Befragungen von Claire und den Jungs, wobei herauskam, dass Claire behauptete, sie habe von dem Geld nichts gewusst und erst davon gehört, als Beth ihr abends davon erzählt hatte.
„Kennst du die Uhr, die gestohlen worden ist?“
„Kann sein.“
„Weshalb hat jemand die Uhr geklaut und den Fernseher dagelassen?“
„Weil sie in der Schublade beim Geld lag“, sagte Claire ungeduldig, „das hat Beth gesagt.“
„Muss wohl ’ne hübsche Uhr gewesen sein.“
„Was regt Beth sich eigentlich so auf?“ sagte Claire plötzlich, „das Geld bekommt sie von ihren Eltern ersetzt.“
„Hat sie das auch gesagt?“
„Das denke ich mir. Meine würden das tun.“
Die Jungs waren nicht so gesprächig. Tommy stellte ein paar Fragen und beobachtete mehr, welche Blicke sie sich zuwarfen, wo sie sich möglichst unauffällig auf eine Antwort zu einigen versuchten. Im Grunde hatte Claire recht – das Geld war nicht wichtig und die Uhr würde irgendwann wieder auftauchen. Schließlich schickte er die erleichterten Jungs in die Vorlesungen zurück, sagte, er könne sich schon einen Reim auf die Geschichte machen und er bräuchte sie nicht mehr. Außerdem ließ er ganz nebenbei fallen, dass er sicher sei, die Uhr und das Geld würden bis Montag im Büro abgegeben werden, und dann bräuchte er auch die Polizei nicht einzuschalten.
„Das war nämlich ein Scheißplan“, sagte er murmelnd, als spräche er zu sich selbst, während die Jungs in der Tür stehen geblieben waren und nervös wurden, „wer immer sich so was ausgedacht hat, sollte sich ein neues Betätigungsfeld suchen. Die Zimmertür war nicht aufgebrochen, nur das Schloss zerkratzt, nichts im Zimmer durchwühlt und nur das Geld und die Uhr sind verschwunden. Das riecht jeder, dass da was faul ist.“ Er drehte sich zur Tür herum, machte ein Gesicht, als habe er gar nicht gemerkt, dass sie noch da waren. „Habt ihr keinen Unterricht? Was steht ihr da rum, ist noch was?“
Sie rannten förmlich vor ihm davon und Tommy räumte zufrieden ein paar Akten in die Registratur zurück, mit denen er vorgegeben hatte, es seien ihre Unterlagen, in denen er jeden kleinen Verstoß gesammelt vor sich liegen hatte. Er rechnete fest damit, dass er das Geld und die Uhr am Montag auf seinem Schreibtisch hatte. Die beiden Pärchen hatten sich diese Geschichte ausgedacht, um die spendablen Eltern von Beth zu schröpfen, das stand für ihn fest, sie würden sich heftige Diskussionen liefern und alles anonym bei ihm abgeben. Das war keine Sache, die man an die Polizei übergab.

Samstags machte Lea das Café nur bis Mittags auf. Zwischen den Stoßzeiten schrieb sie kurze Drehbuchszenen, bis Spike vorbeikam und fragte, wie weit sie gekommen sei.
„Lass mir noch das Wochenende“, sagte sie, „dann können wir uns darauf einigen, was wir machen.“
Spike hatte ihr eine CD mit den Probeaufnahmen und Fotos und einigen Effekten gebrannt, damit sie sich schon mal ein Bild von den Möglichkeiten machen konnte.
„Wenn wir mit den Dreharbeiten anfangen“, sagte er, nahm sich einen Donut von der Theke, „muss ich noch ein oder zwei Jungs aus dem Club fragen, ob sie mitmachen wollen. Wenn ich denen sagen kann, dass Kaffee und Donuts frei sind, kann ich bestimmt leichter jemanden überreden.“
„Das ist Erpressung“, antwortete Lea düster, „aber ich beuge mich den Bedingungen.“
Sie winkte ihn freundlich von sich weg, als er den Donut bezahlen wollte und er verschwand mit einem zackigen Gruß, stieß in der Tür beinahe mit David zusammen. Der rettete seine rutschenden Bücher an den nächsten Tisch, wo er eine kleine Pyramide bildete.
„Kann ich einen Eiskaffee haben?” fragte er, als Lea zu ihm kam, „wenn ich jetzt was heißes trinke, vergessen meine Poren ihre gute Kinderstube.“
Lea brachte ihm den Eiskaffee in einem hohen Glas, nickte dem Bücherstapel zu und bemerkte: „Du hast dir ganz schön was vorgenommen.“
Er grinste und auf seinen Wangen erschienen großflächige rote Flecken. „Das geht noch. Ich verschaffe mir erstmal einen Überblick und dann starte ich durch. David McCann. Ich muss mich noch dafür entschuldigen, dass ich dich gestern so angestarrt habe.“
„Kein Problem, David. Ich bin Lea Salaberry. Du bist jederzeit willkommen zu einem Kaffee und Donut. Was studierst du?“
„Englische Geschichte.“
„Eine Lebensaufgabe, oder?“
„Das wird sich noch zeigen.“
Lea ging an die Arbeit zurück, David blieb fast zwei Stunden an dem Tisch sitzen, trank zwei weitere Eiskaffee und blätterte die Bücher durch, in denen er Notizen machte, sich Kapitel markierte und Verweise auf andere Bücher einfügte. Sie hatte den Eindruck, als würde er das ganze sehr ernst nehmen. Eine Stunde vor Ladenschluss, als es so ruhig wurde, dass Lea schon mit dem Saubermachen begann, war David noch immer da.
„Ich kann gehen, wenn du zumachen willst“, rief er und sie antwortete, dass er ruhig noch sitzen bleiben könne. Mittlerweile hatte sie einige klare Storyboards zusammen und es würde schwer werden, sich für eines zu entscheiden.
Tasse – eine Kaffeetasse wird auf den Tisch gestellt, Kaffee wird eingeschüttet, der gerade so heiß sein muss, dass er einen kleinen Schaumrand entwickelt und dampft, eine Hand gibt Milch und Zucker dazu, ein Löffel wird umgerührt, eine Hand nimmt die Tasse und sie verschwindet aus dem Bild. Sie ist halb leer, als sie auf den Tisch zurückgestellt wird, dann wiederholt es sich und sie ist ganz leer. Dann erscheint die Kanne wieder und füllt die Tasse auf. Entweder würde sie dann eine Stimme sagen lassen „Lea’s Café, Holland Street 208, Lewiston, Maine“ oder eine schöne geschwungene Schrift einblenden. Das war die schwarz-weiße Version, untermalt mit stimmungsvoller Musik.
Studenten – eine wahllos zusammengewürfelte Gruppe Studenten wird befragt, die wie in den eingeschnittenen Szenen der Ehepaare bei Harry und Sally kurze prägnante Statements von sich geben. Man könnte meinen, sie sprächen über das College, aber dann zieht die Kamera auf und alle sitzen im Café und trinken Kaffee. Zu dieser Version hatte Lea noch Probleme mit den Statements, dazu würde sie Hilfe brauchen, um die Texte kurz und knapp zu halten. Sie würde einen der Literaturstudenten fragen.
Internet – das Bild zeigt einfach, wie jemand „Café + Lewiston + nette Leute“ in eine Suchmaschine eingab und das einzige Suchergebnis zeigte die Adresse des Cafés und ein Foto von der Fassade oder vom Innenraum.
Die Fellini-Version – Zweigeteilter Film, eine Hälfte schnell, eine Hälfte langsam. Die schnelle Hälfte ist Lea, die Kaffee serviert und Donuts verteilt, die langsame Hälfte sind die Gäste, die an den Tischen sitzen und stehen, in Zeitungen blättern und Bücher lesen, dabei den Kaffee trinken.
Vermutlich wäre Spike davon angetan, aber sonst niemand würde es wirklich verstehen, deshalb war sie von dieser Idee nicht sehr angetan.
Ihr schwebte noch eine Zeichentrickversion vor, aber das würde daran scheitern, dass sie niemanden kannte, der Comics zeichnen konnte, es sei denn, sie fand jemanden von den Grafitti-Künstlern. Außerdem würde sie dann wieder nicht in dem Spot erscheinen. Diese ganzen Ideen ließen sich beliebig kürzen oder ausweiten, aber dazu brauchte sie Spikes Hilfe.
David kam zu ihr an die Theke, reichte ihr das Geld und sagte, der Rest sei für sie und sie bedankte sich.
„Was schreibst du da?“
„Ich arbeite ein paar Versionen aus für einen Videoclip, den ich als Werbung für das Café drehen will.“ Sie machte eine abwertende Handbewegung. „Ohne Budget, versteht sich. Spike aus dem Videoclub hilft mir dabei.“
„Das hört sich cool an. Wenn du Hilfe brauchst, sag bescheid, ich bin dabei.“
„Darauf komme ich zurück.“
„Ich finde es wirklich schade, dass du schon in festen Händen bist.“
Lea lachte auf, begann die Kannen mit heißem Wasser auszuspülen.
„Geh es langsam an, Cowboy, du bist gerade erst ein paar Tage hier. Mein Herz erobert man nicht in fünf Minuten.“
„Wie lange hat er sich Zeit genommen?“
„Sehr lange. Etwa ein halbes Semester. Ich hab in der College-Cafeteria gearbeitet und da hat er jeden Tag einen Kaffee oder einen Tee bei mir getrunken und Trinkgeld gegeben. Und dann hat er ganz ausgezeichnet für mich gekocht.“
„Es ist keiner von den Lehrern, oder? Sag mir bitte, dass es nicht einer von den Lehrern ist.“ David spielte den verzweifelt liebeskranken Verehrer, rang die Hände vor der Brust und brachte Lea wieder zum lachen.
„Keiner von den Lehrern“, bestätigte sie.
Er half ihr beim Abräumen der Tische und Zusammenstellen der Stühle, damit sie den Boden wischen konnte. Dabei erzählte er, dass er aus Boston war und sich das Bates ausgesucht hatte, weil seine Tante in Vermont lebte und er während der Semesterferien bei ihr wohnen konnte.
„Mein Dad ist im vorigen Jahr gestorben“, sagte er, „und vor drei Monaten ist meine Mom zurück nach Irland gegangen. Ich sollte mitgehen, aber die Chancen für eine gute Ausbildung sind hier einfach besser. Außerdem bin ich in Boston geboren. In Irland würde ich mich nicht wohl fühlen.“
„Das ist ein gewaltiger Schritt für deine Mutter.“
„Sie sah keinen Sinn mehr darin, in Boston zu bleiben, nachdem ich aufs College wollte und von zu Hause ausgezogen bin. Dad war auch nicht mehr da, um den sie sich hätte kümmern müssen. Es war das Beste, was sie machen konnte. Sie sagte, in ihrem Dorf sei mit Sicherheit noch alles so wie damals, als sie ausgewandert war. Da hat sich seit der Hungersnot nichts mehr verändert.“
„Studierst du deshalb englische Geschichte?“
David überlegte, legte den Kopf schief. „Gut möglich“, sagte er.
Lea spülte Tassen, Teller, Gläser und Besteck mit der Hand, weil sie die Spülmaschine noch immer nicht hatte reparieren lassen und David bot sich an, beim abtrocknen zu helfen.
„Vielen Dank, aber nicht nötig. Ich lass es stehen und abtropfen.“
David schnipste mit dem Finger. „Jetzt weiß ich’s“, sagte er, „du bist mit dem Koch zusammen. Den hab ich in der Mensa noch nicht gesehen, aber der muss es sein, wenn er für dich gekocht hat.“
„Es ist nicht der Koch“, erwiderte sie, „und wenn du ihn gesehen hättest, wüsstest du, warum. Der Kerl sieht aus wie Homer Simpson. Es ist Tommy vom Sicherheitsdienst.“
„Dieser große alte Kerl? Der könnte ja ’ne Tochter haben, die so alt ist wie du.“
„Was glaubst du denn, wie alt ich bin, David McCann? Das Café gehört mir, ich zahle monatlich den Bankkredit zurück und ganz nebenbei halte ich noch ein Haus in Ordnung. Vielleicht seh ich nicht so aus, aber ich bin bestimmt einige Jahre älter als du.“
„Okay, entschuldige. Ich werde dem Fettnäpfchen ausweichen und nicht raten, wie alt du bist.“
„Eine weise Entscheidung.“
David versprach trotzdem, am Montag vorbeizukommen, um bei dem Film zu helfen. Mit seinen Büchern unter dem Arm marschierte er zum Campus zurück. Lea sah ihm nach und dachte, dass er ein netter Kerl war, einer mit Humor, und dass sie ihm deshalb selbst diese Anmache verzeihen konnte. Da hatte sie schon schlimmeres erlebt. Ein Typ aus Auburn, dem sie den Kaffee über die Theke gekleckert hatte, hatte auf ihre Entschuldigung mit dem Spruch reagiert: „Ich verzeih dir, Schätzchen, wenn du rüber kommst und mir einen bläst.“ Sein Kumpel neben ihm hatte breit gegrinst. Mit dem Lappen in der Hand hatte sie geantwortet: „Wenn ich an ’nem Strohhalm saugen will…und jetzt packt ihr eure Hintern vor die Tür und kommt nicht wieder.“ Sie hatte sie nur vor die Tür setzen können, weil Tommy von seinem Platz aufgestanden war und sich neben die beiden gestellt hatte, mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht und schief gelegtem Kopf. Er hatte nicht einmal etwas sagen müssen.

Lea fuhr nach Hause, lockte die Katzen aus dem Garten herein und versuchte sich noch etwas für den Clip einfallen zu lassen, aber Emelda machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie hatte aus dem Garten eine Maus mit ins Haus gebracht, lief gurrend mit ihr durch alle Zimmer und als Lea sie endlich dazu brachte, das arme Ding fallen zu lassen, merkte sie, dass sie noch lebte. Sie war betäubt und stand unter Schock, war aber noch lebendig genug, um unter den Geschirrschrank zu kriechen. Die Katzen saßen davor, warteten darauf, dass sie wieder hervorkam und Lea wagte sich nicht von der Stelle zu bewegen, damit die Maus nicht in einem unbeobachteten Moment woanders hin verschwand.
„Böses Mädchen“, sagte sie, „ganz böses Mädchen.“ Emelda schien das nicht zu beeindrucken.
Schließlich holte Lea doch einen Holzstil, den sie vom Schneeschieber abschraubte, stocherte damit unter dem Schrank herum, während sie auf dem Bauch auf dem Boden lag. Sie hörte es quieken, aber die Maus kam nicht heraus. Sie hatte schon öfters Mäuse im Haus gehabt und würde wieder nicht schlafen können, wenn sie diese nicht nach draußen beförderte. Außerdem wollte sie sich nicht die Blöße Tommy gegenüber geben. So weit kam es noch.
„Ich gebe euch ins Tierheim und hol mir einen Terrier“, drohte sie, mit den Katzen auf Augenhöhe, die sie nur interessiert beobachteten, „der spielt mit den Mäusen nicht, der macht sofort kurzen Prozess.“
Es dauerte, aber schließlich kam die Maus, die eine halbe Stunde Auszeit genommen hatte, um sich zu erholen, an der Wandseite unter dem Schrank hervor und bevor eine der Katzen sie erneut packen konnte, hatte Lea sie auf die Schneeschippe genommen und rannte mit weit vorgestecktem Arm über die Terrasse nach draußen. Sie ließ sie fliegen – gefolgt von den schnatternden Katzen, die durch das hohe Gras sprangen, um sie wiederzufinden.
Vielleicht konnte sie Tommy dazu bringen, den Rasen zu mähen und ein paar Bäume zu stutzen. Davor drückte er sich gern. Sie war der Meinung, dass sich nicht so viele Mäuse in einem ordentlichen Garten versammeln würden.
„Bei uns hatten wir Ponys und Schafe, die das übernommen haben“, sagte er gewöhnlich.
„Dann kauf mir doch ein Schaf, Honey.“
Als Tommy nach Hause kam, hatte sie gerade angefangen, die Küche in Ordnung zu bringen, womit sie eigentlich längst hatte fertig sein wollen. Sie begrüßten sich, sie sagte, sie sei in einer halben Stunde fertig und er solle ein ernstes Wort mit den Katzen reden, dass sie die Mäuse im Garten lassen sollten.
Der Garten war groß genug, dass sie sich überall verstecken konnten, aber gewöhnlich lungerten die beiden in der Nähe der Terrasse herum, auf der nichts weiter stand als ein alter Gartentisch und zwei Stühle. Tommy und Lea hatten selten Zeit, sich nach draußen zu setzen. Ganz am Anfang hatte Tommy sich zum Rauchen auf die Terrasse gesetzt, um ihr einen Gefallen zu tun, aber spätestens im Winter hatte er das eingestellt. Wenn er sich an etwas nicht hatte gewöhnen können, dann waren es die Winter in Maine. Er war lange Zeit im Mittelwesten und an der Westküste gewesen und das Klima dort hatte ihm bedeutend besser gefallen. Lewiston war nicht nur vom Klima her zunächst eine riskante Sache gewesen. Boston und die irische Gemeinde waren einfach zu nahe, aber dafür lag Maine direkt an der Grenze nach Kanada. Das hatte seine Vorteile.
In der Post waren ein paar Rechnungen und Werbung, die Lea desinteressiert beiseite legte. Dafür checkte sie jeden Abend ihre Mailbox im Computer, den sie in ihrem ehemaligen Mädchenzimmer stehen hatte. Es war offiziell ihr Büro, sah aber aus wie eine Abstellkammer. Sie pflegte keine großartigen E-mail Bekanntschaften, nur ab und zu bekam sie elektronische Post von Kaffeelieferanten und Bäckereien aus der Umgebung, neben den üblichen spam-mails, die automatisch aussortiert wurden. Sie hatte ihre spartanische Cafe-homepage noch immer über den Collegerechner laufen. Manchmal (sehr selten) bekam sie anzügliche Mails von Kerlen, die sie anzumachen versuchten und es nicht auf dem direkten Wege wagten, denen schickte sie gewöhnlich die Security-Seite des Colleges zurück mit der Bemerkung, dass sich bei Fortsetzung dieser Belästigungen einer der kräftigen jungen Männer darum kümmern würde.
Tommy war bei seiner Einstellung aufgefordert worden, ein Portraitfoto von sich machen zu lassen, um es auf die Homepage bringen zu können, und er war im Erfinden der Ausreden ausgesprochen kreativ gewesen, hatte schließlich gegen ein Gruppenbild nichts einzuwenden gehabt. Gruppenbilder waren immer perfekt, wollte man die einzelnen Gesichter nicht deutlich erkennen.
„Du hat wirklich ein Fotoproblem“, hatte Lea gesagt.
„Fotos fallen in den Privatbereich“, hatte er erklärt, „und eine Webpage ist alles andere als privat.“
Als sie in der Küche endlich fertig war, Tommy noch unter der Dusche stand, ging sie nach oben, schaltete den PC an und warf einen schnellen Blick auf ihre neuen eingegangenen Mails. Sondra, eine alte Freundin, die nach Ontario gegangen war, hatte sich nach langer Zeit mal wieder gemeldet, hatte aber nicht viel zu sagen. Die Mail klang, als habe sie aus einem schlechten Gewissen heraus etwas geschrieben, was ihr gerade in den Sinn kam.
Ich könnte jetzt antworten, dachte sie, aber ich glaube, ich werde warten und ihr das fertige Video schicken. Das wird Sondra umhauen.
Sie klickte weiter und fand eine Mail, die wieder über den frei zugänglichen Campus-Rechner gekommen war. Sie überlegte einen Moment, dann öffnete sie die Mail und machte sich auf einigen spät-pubertären Blödsinn gefasst.
„Das glaub ich ja nicht“, murmelte sie, „McCann lässt nicht locker.“
Er schien sich direkt nach seiner Rückkehr in Bates an den Rechner gesetzt zu haben, um ihr etwas zu sagen, was er ihr nicht von Angesicht zu Angesicht hatte sagen können – er verpackte es sehr niedlich und auf der romantischen Schiene, was Lea daran zweifeln ließ, wie gut er ihr zugehört hatte, wenn sie mit ihm sprach. Hatte sie ihm nicht deutlich genug gesagt, dass bei ihr kein Interesse bestand?
Das ist ihm egal, dachte sie, ließ den Cursor auf der Mail hin und her gleiten, er macht sich auch weiterhin Hoffnung. Weil er einfach der Meinung ist, dass Tommy nicht der richtige sein kann.
Sie speicherte die Mail ab, obwohl sie sie hätte löschen sollen. Würde Tommy das sehen, könnte sich daraus ein dicker Streit entwickeln, obwohl er nicht der eifersüchtige Typ war. Aber Tommy benutzte den PC nicht, ihn interessierte nicht, was es im Internet alles zu sehen gab. Ihm genügten die Tageszeitung, die Magazine, die er ab und zu kaufte und die Nachrichten in Fernsehen. Er wartete nie auf den Wetterbericht.
„Im Sommer ist es drückend schwül und im Winter reicht mir der Schnee bis an die Eier“, sagte er, „was soll ich mir da jeden Morgen den Wetterbericht ansehen.“
Lea dachte manchmal, ihm sei alles zuwider, was über seine Welt in Bates und Lewiston hinausging, fand es seltsam, dass er nicht einmal Kontakt zu seiner Familie in Irland gehalten hatte.
Sie hörte ihn unten aus der Dusche kommen, ließ den PC runterfahren und schaltete den Bildschirm von Stand-by auf Aus. Auf dem Weg nach unten kam ihr Emelda entgegen, hob sie auf und klemmte sie sich unter den Arm. Emelda war in Kuschelstimmung, aber sie mochte keine Männer und ließ sich von Tommy nur mit dem Ausdruck des Abscheus auf dem Gesicht anfassen.
„Wie wär’s mit Kino heute Abend?“ fragte sie, ließ die Katze von ihrem Arm springen, „vielleicht laufen ein paar interessante Filme.“
Tommy brummte abwesend. Er hatte versucht, das Tape wegzulassen nach dem Duschen, aber als er die Hand aus Versehen gedreht hatte, hatte dort irgendetwas aneinander gerieben und der dumpfe Schmerz war bis in den Oberarm gezogen.
„Wenn was Gutes läuft, lass uns fahren. Willst du unterwegs was essen?“
Wir werden uns vermutlich wieder nicht auf einen Film einigen können, dachte Lea, suchte das Kinoprogramm aus der Tageszeitung heraus.
Die sicherste Kinozeit war um Weihnachten herum, da liefen jede Menge netter Filme, ohne sich zwischen einer Schnulze und einem Actionfilm entscheiden zu müssen. Meist war Tommy mit einer Komödie einverstanden und er mochte auch die Elmore Leonard-Verfilmungen.
Ein paar Komödien liefen schon, aber als Lea die Titel laut vorlas, kam von Tommy wieder nur ein unbestimmtes Brummen.
„Wir können auch nur essen gehen“, schlug sie vor, faltete die Zeitung länglich zusammen und klatschte damit nach ihm. Mit seiner gesunden Hand griff er nach ihr und sie sprang quiekend von ihm weg, um ihn dann im nächsten Augenblick wieder anzuspringen.
„Ich hau dich heute auf die Bretter“, sie keuchte vor Anstrengung und lachte atemlos, „heute krieg ich dich.“
„Versuchs“, sagte er, klemmte sie sich unter den Arm und hebelte sie vom Boden hoch.
„Lass mich runter, Feigling. Lass mich runter und kämpfe wie ein Mann.“
Er trug sie zur Couch, warf sie auf das Polster und blieb neben ihr sitzen. Weil er die Rangelei abbrach, zog Lea sich das verrutschte T-Shirt zurecht, stützte den Kopf in die Handfläche und bohrte den Ellebogen in ein Kissen.
„Was ist los?“ fragte sie.
„Nichts, schon gut.“ Er machte eine abwesende Geste.
„Hmh?“
„Mir geht da was nicht aus dem Kopf“, sagte er schließlich, „wir kriegen auf der Notrufnummer schon das zweite Mal einen seltsamen Anruf. Es klingt nach einem Mädchen, und außer Weinen und ein paar Wortfetzen ist nichts zu verstehen. Dann entschuldigt sie sich und legt auf.“
„Jemand mit Problemen.“
„Ich fürchte, dass sie irgendwann nicht mehr anruft und wir sie irgendwo finden.“
„Deshalb möchtest du lieber zu Hause bleiben.“
„Ich mach uns was zu essen.“
„Okay.“ Lea wartete, bis er sich von der Couch erhob, dann klatschte sie ihm die flache Hand auf den Hintern und erinnerte ihn daran, wo sie stehen geblieben waren. Sie gingen nicht aus an diesem Samstagabend, aber sie vergnügten sich nach ihren eigenen Regeln.
Bis Sonntagmittag blieben sie im Bett, bis die Katzen endlos nach Futter bettelten und Lea erst ihnen eine Dose aufmachte und dann ein spätes Frühstück für zwei zusammenstellte. Als sie das Tablett ins Schlafzimmer trug, kickte sie ihre Tasche mit einem Fuß aus dem Weg und da erst fiel ihr wieder die CD ein, die Spike ihr mitgebracht hatte. Vielleicht ergab sich noch die Gelegenheit, Tommy die Bilder zu zeigen und seine Meinung zu hören.
„Ein Tag in der Woche für uns ist zu wenig“, sagte sie, reichte ihm die Tasse Kaffee, „der Sonntag geht so schnell um.“
Tommy wollte nur Kaffee, hatte sich im Bett aufgesetzt und die Decken um sich herumgezogen. Die Sonne schien den ganzen Vormittag in das Fenster, wanderte langsam weiter und zauberte ein weiches Licht durch die Vorhänge. Leas Haut war noch von den langen Sommermonaten gebräunt, an den Schienbeinen schuppte sich die Haut, egal, wie oft sie sich eincremte. Sie sah trotzdem in der kurzen Hose und dem Bustier, in dem sie geschlafen hatte, zum anbeißen aus. Ihr blonder Haarschopf war verwirbelt, würde es auch bleiben, wenn sie im Haus oder auf dem Grundstück blieb. Tommys Sonnenbräune beschränkte sich auf Arme und Beine, Nacken und Gesicht, weil er nie die Gelegenheit nutzte, sich mehr auszuziehen.
„Ich muss nicht jedem meine besonderen Merkmale präsentieren“, hatte er dazu nur gesagt.
Das magere Frühstück machte Lust auf mehr und während Tommy in der Küche nachsehen ging, woraus er etwas zusammenkochen konnte, setzte Lea sich an den PC und schob die CD ein. Die Videos brauchten eine kleine Ewigkeit, bis sie starteten, aber was sie da sah, gefiel ihr richtig gut. Spike hatte schon mit verschiedenen Schriften herumgespielt und Musik drunter geschnitten. Eines der Videos war betitelt mit ‚Die Dogma Version’ und die Bilder bestanden hauptsächlich aus verwackelten Aufnahmen aus dem Café, die in schnell wechselnder Folge hintereinander geschnitten waren.
Soll das Kunst sein? dachte Lea, das hätte ich mit einer alten Videokamera auch allein zustande gebracht.
Außerdem sahen einige Sequenzen wirklich unheimlich aus. Und damit lockte sie sicher keine Kunden ins Café.
Von unten hörte sie ein laut piepsendes Geräusch, das dem Feueralarm ähnelte. Sie wünschte, es wäre der Feueralarm, aber es war Tommys Pieper, der ausgegangen war und das bedeutete vermutlich, dass er wegen eines Notfalls zum Bates musste.
„Jetzt sag mir nicht, dass du weg musst“, rief Lea, machte einen langen Hals in Richtung Treppe. Tommy kam aus der Küche, griff sich seinen Pieper vom Couchtisch und sah auf die Nummer.
„Es ist Scott“, rief er, „ich ruf ihn nur kurz an und frag, ob es dringend ist.“
Damit sie mithören konnte, wie dringend der Rückruf war, kam Tommy mit dem Schnurlosen die Treppe hoch, drückte die Kurzwahltaste für Bates Büro und sah Lea über die Schulter, die sich gerade durch ein paar Fotos klickte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass Spike ein Talent dafür hat“, begann er, machte ein beeindrucktes Zucken mit den Mundwinkeln, meldete sich dann mit lauterer Stimme: „Was gibt’s, Scott?“
„Hast du Zeit, vorbeizukommen? Es gibt da etwas, was du dir ansehen solltest.“
„In einer Stunde?“ erwiderte Tommy, worauf Lea sich zu ihm herumdrehte und ihn strafend ansah.
„Okay. Stör ich gerade bei irgendwas?“
“Scott fragt, ob er bei irgendwas stört.”
„Wir kochen gerade“, sagte Lea laut, „und danach essen wir.“
„Hast du’s vernommen?“ Tommy drehte sich zum Fenster hinüber, abgewandt von Lea und dem PC, sagte so etwas wie ‚Hab ich’s doch gewusst’ und lachte seltsam. Er drückte das Gespräch weg, strich Lea im Vorbeigehen mit zwei Fingern über den nackten Nacken. Sie zog die Schultern hoch und kicherte.
„Das Essen ist in fünfzehn Minuten fertig. Wir essen gemütlich und ich bin wie der Blitz zurück.“
„Wenn nicht, komm ich dich holen.“
Sie aßen in der Küche, unter dem Tisch spielten ihre nackten Füße miteinander und sie sprachen über die Fotos, die Spike gemacht hatte.
„Dich hat er wirklich gut getroffen“, sagte Tommy, „aber ich hab immer lieber Fotos in den Fingern als nur auf dem PC.“
Der eigentliche Grund war, dass er bei Bildern und Filmdateien auf dem Rechner immer daran denken musste, dass sie auch blitzschnell ins Internet gestellt waren. Er konnte nicht behaupten, dass sein Verfolgungswahn mit den Jahren weniger geworden war.

Als er in den Wagen stieg und schon losfahren wollte, sah er im Augenwinkel durchs Fenster, dass Lea in der Haustür stand und eine Handbewegung zu ihrer Armbanduhr machte. Sie versuchte, ein strenges Gesicht zu machen, schaffte es aber nicht, weil sie immer wieder zu grinsen begann. Tommy machte das Kreuzzeichen über seinem Herzen und warf ihr einen Handkuss zu.
Scott wartete im Büro des Sicherheitsdienstes auf dem Campus, saß an seinem Schreibtisch und löste ein Kreuzworträtsel. Tommy kam herein und klopfte an die Tür.
„Wie hast du das geschafft?“ fragte er, schob die Zeitung beiseite und deutete zu Tommys Schreibtisch hinüber. Sein Tisch war immer ordentlich aufgeräumt, alles hatte seinen Platz und alle Unterlagen waren in Hängeregistern abgelegt. Manchmal frozzelten die anderen darüber, dass er daran etwas ändern müsse. Es ließ alle anderen Tische schlampig aussehen und außerdem sah es immer so aus, als hätte er nichts zu arbeiten. Auf seinem Tisch lag ein Umschlag, in dem er das Geld wusste und daneben lag die Armbanduhr. Es war eine hässliche schwere goldene Uhr, mit der die Hand in jedem engeren Ärmel stecken blieb, wenn man sie am Handgelenk trug.
„Ich löse die Dinge gerne auf die einfache Art und Weise“, erwiderte Tommy. Er nahm das Geld und die Uhr und legte beides in den Tresor, in dem sie die Waffen und andere wichtigen Dinge wegschlossen.
„Das erledige ich morgen“, sagte er, „war sonst noch was?“
„Nein, alles ruhig. Wie willst du rauskriegen, wer die Sachen zurückgebracht hat?“
„Das weiß ich doch längst.“
„Was wirst du unternehmen?“
„Nichts. Ich geb die Sachen zurück und damit ist es erledigt.“
Scott machte ein fragendes Gesicht und Tommy sagte mit Achselzucken: „Die einfache Lösung. Was soll ich jetzt die Polizei einschalten?“
Er klopfte Scott auf die Schulter, wünschte ihm gut gelaunt noch einen ruhigen Sonntag und verließ das Büro. Er wäre direkt zum Parkplatz gegangen und nach Hause gefahren, wäre da nicht sein seltsames Gefühl gewesen. Er dachte, dass es nicht schaden konnte, noch einen schnellen Rundgang durch das Wohnheim zu machen. Es würde höchstens eine halbe Stunde mehr in Anspruch nehmen und sein seltsames Gefühl wäre beruhigt. Auf den Fluren und im Treppenhaus war alles ruhig, aus manchen Zimmern war Musik zu hören, ab und zu klackte irgendwo eine Tür. Tommy stieg die Treppen zur nächsten Etage hoch, wo die Abstellräume und ein alter Trockenspeicher unter dem Dach lagen. Letztes Jahr hatten ein paar Spaßvögel ein Skelett besorgt und es dort oben an den Treppenabsatz gehängt. Sie hatten ihm Nikes angezogen und eine Zigarette zwischen die blanken Zähne geklemmt. Ein paar Mädchen hatten sich fürchterlich erschreckt, aber die meisten waren brüllend vor Lachen davongerannt und hatten allen anderen Bescheid gesagt. Tommy hatte den Quatsch mitgemacht und das Skelett (das jemand Mr. Bates getauft hatte) in Handschellen in Arrest genommen. Im Jahrbuch hatte man Mr. Bates eine ganze Seite gewidmet.
Schon am ersten Treppenabsatz hörte Tommy Geräusche von oben. Er nahm zwei Stufen auf einmal, kam oben an und konnte in dem halbdunklen zunächst nichts erkennen. Es kam nur wenig Licht aus der Dachluke, Staubteilchen tanzten durch die Luft, es roch nach alter Möbelpolitur und Kreide. Tommy blieb stehen, sah sich auf dem breiten Treppenabsatz um, von dem aus ein Flur zu den abgeschlossenen Räumen führte. Unter normalen Umständen waren die Räume abgeschlossen, Tommy begann bei der ersten Tür, drehte den Knauf und ging zur nächsten. Der Lichtschalter befand sich zwischen der dritten und vierten Tür, Tommy klickte ihn an und eine Reihe staubiger Glühbirnen erhellte den Flur. Das Schluchzen und Weinen brach abrupt ab und eine dünne Stimme sagte: „Mach bitte das Licht aus.“ Es klang, als würde ein kleines Mädchen zu ihm sprechen. Er machte das Licht wieder aus, ging in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
„Okay“, sagte er, „wie soll’s jetzt weitergehen?“
Er konnte vor der Tür des Trockenspeichers eine zusammengekauerte Gestalt erkennen, dort saß jemand mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, die Knie vor die Brust gezogen. Die weißen Sneakers in Mädchengröße waren das einzige, was deutlich erkennbar war.
„Lassen sie mich allein. Bitte.“
“Das kann ich leider nicht.”
„Ich will aber nicht, dass mich jemand so sieht.“
„Wir können auch erstmal miteinander reden. Ich hab Zeit.“
Er setzte sich an die Wand gegenüber, streckte das Bein, das immer ein wenig Ärger machte, von sich weg und legte die Hände auf die Oberschenkel. Er behielt das Mädchen im Auge. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, sie hatte sich im Schatten versteckt.
„Wer sind sie? Keiner von den Lehrern, oder? Ich kenne ihre Stimme nicht.“
„Tommy Gallagher vom Sicherheitsdienst.“
Sie machte ein verzweifeltes Geräusch, aber sie weinte nicht mehr. Sie zog die Nase hoch und sagte: „Tommy vom Sicherheitsdienst. Entschuldigung. Ich hab kein Taschentuch dabei.“
“Schon gut. Du hast bei uns angerufen in den letzten Tagen. Was ist los mit dir? Wie können wir dir helfen?“
„Ich bin total fertig. Ich weiß nicht, ob mir überhaupt jemand helfen kann. Ich sitze hier oben, um mir klar zu werden, was ich tun soll.“ Das Zittern in ihrer Stimme wurde langsam weniger.
„Wir sind dazu da, um zu helfen. Ich höre zu. Erzähl mir, was passiert ist und wir finden eine Lösung.“
„Das ist nicht so einfach.“
„Das ist es nie.“
Sie blieb eine ganze Weile stumm, setzte sich um, weil es ungemütlich wurde und ihre Stimme wurde beruhigend fest, als sie endlich sagte: „Ich bin Nicole. Ich kenne Vern schon seit zwei Jahren. Wir sind zusammen ans Bates gekommen, um zu studieren und es lief alles gut. Aber Vern hat sich plötzlich verändert. Er behauptet, es wäre der Stress und der Lerndruck, den er nicht aushalten könne, aber ich seh doch, was er mit seinen Freunden anstellt, anstelle zu lernen. Das hab ich ihm gesagt und dafür hab ich dann die erste Ohrfeige bezogen. Ich will hier bleiben, aber ich muss mich von Vern trennen. Er macht mich fertig. Er will mich nicht gehen lassen. Er sagt, wir gehören zusammen, dabei streiten wir uns nur noch.“
„Soll ich mit ihm reden?“
„Das würde er nur wieder an mir auslassen, weil ich jemandem davon erzählt habe.“
Tommys Beine begannen einzuschlafen, er stand auf und erwiderte: „Ich verspreche dir, dass das nicht passieren wird. Komm mit nach unten und wir trinken einen Kaffee zusammen.“
„Geht nicht“, erwiderte Nicole, „ich hab ’ne kaputte Lippe.“
„Lass mich das mal ansehen.“
Sie versuchte zu protestieren, aber Tommy schaltete das Licht wieder ein, trat vor sie und reichte ihr die Hand, dass sie sich hochziehen lassen konnte. Ihr Gesicht sah böse aus. Tommy drehte sie vorsichtig ins Licht und besah sich die Sache. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt, das rechte Auge zugeschwollen und die Verfärbung zog sich bis zur Wange herunter.
„Wie lange sitzt du schon hier oben?“
„Ich wollte niemandem begegnen und warten, bis alle schlafen gegangen sind.“
„Hat er sonst noch irgendwo hingeschlagen?“
„Er hat meine Arme festgehalten, aber das sind nur blaue Flecken.“
„Okay. Gehen wir nach unten?“
“Niemand soll mich so sehen.”
„Dann lass ich mir was einfallen.“ Er zog seine Kapuzen-Jacke aus, reichte sie ihr und sagte: „Zieh dir die Kapuze dir über den Kopf, wenn du möchtest. Was wir besprechen, bleibt unter uns. Wir setzen uns ins Büro und reden darüber, was wir tun können.“
Nicole war noch immer nicht davon überzeugt, dass es eine gute Idee war, zog sich aber die Jacke über und ließ ihr Gesicht verschwinden. Sie begleitete ihn ins Büro, seufzte erleichtert, als sie niemandem begegneten. Tommy brachte ihr einen Kaffee und eine Packung Taschentücher.
„Ich muss erst mal weg von hier“, sagte Nicole, „für ein oder zwei Tage, damit ich mir klar werde, was ich will. Was mit Vern passiert, ist mir egal. Den will ich nicht mehr sehen.“
Sie hatte ein Zimmer im Wohnheim, obwohl ihre Großeltern in Auburn lebten. Ohne lange zu überlegen ließ Tommy sich die Telefonnummer geben, rief dort an und sagte, dass er Nicole vorbeibringen würde.
„Was ist mit deinen Sachen?“
„Ich hab ’ne Freundin, die mir alles zusammenpacken kann. Sie kann mir alles vorbeibringen.“
Er ließ sie im Wagen warten, während er eine kurze Nachricht für Scott hinterließ, mit einem Coolpack auf dem Auge und die Jacke bis zum Haaransatz hochgezogen. Sie zitterte, obwohl es nicht kalt war. Tommy stieg ein, lenkte den Wagen vom Parkplatz.
„Ich werd ihnen eine Menge zu erklären haben“, sagte Nicole, hielt den Kopf schräg gegen das Coolpack gelehnt.
„Du hast dir gar nichts vorzuwerfen.“
Erst mit dem Blick auf die Uhr fiel ihm ein, dass es dringend nötig war, Lea anzurufen und bescheid zu sagen, dass es doch etwas später wurde.
„Ich muss eben zu Hause anrufen“, sagte er, „und wenn du Beschimpfungen durchs Telefon hörst, gilt das nicht dir, Okay?“
„Okay“, flüsterte Nicole. Sie schien sich zu fragen, mit welcher Art von Drachen ihr Helfer zusammenlebte, wenn er einen Mordsärger erwartete, nur, weil er sie zu ihren Großeltern fuhr. In einer Notsituation.
„Ich bin nämlich gerade dabei, unseren Tag in der Woche zu ruinieren.“ Übers Mobile wählte er die Nummer zu Hause an und Lea meldete sich mit einem knappen „Ja?“, bei dem er sofort die Luft anhielt. Es war offensichtlich, dass sie angepisst war und er konnte das gut nachvollziehen.
„Hallo“, sagte er.
„Hi. Wo steckst du?”
„Ich bin auf dem Weg nach Auburn, was dringendes erledigen.”
„Das glaub ich jetzt nicht. Du hast versprochen, dass du gleich zurück bist.“
„Das konnte ich nicht wissen, dass mir was dazwischen kommt. Tut mir leid, honey.“
Nicole versank immer tiefer in der Jacke. Über die Freisprechanlage bekam sie jedes Wort mit und es wurde ihr richtig peinlich.
„Dein tut mir leid kannst du dir wo hinstecken, Tommy.“ Leas Stimme klang tödlich beleidigt und sie legte auf, bevor er überhaupt noch etwas sagen konnte. Tommy schaltete das Mobile ab, warf Nicole einen entschuldigenden Blick zu. Nicole sah ihn an, hielt sich die offene Lippe und sagte: „Das tut mir echt leid.“ Sie fand es fast komisch, dass Tommy ein Gesicht machte, als hätte er von seiner Freundin eine gusseiserne Bratpfanne über den Schädel bekommen.
„Heute ist unser einziger gemeinsamer freier Tag“, erklärte er, „deshalb ist sie sauer. Aber das krieg ich schon wieder hin.“
„Vielleicht sollten sie mich an einer Bushaltestelle absetzen und nach Hause fahren.“
„Soweit kommt’s noch.“
Tommy suchte nach seinen Zigaretten, bis ihm einfiel, wo sie steckten.
„Greif mal in die rechte Jackentasche“, sagte er, „da sind meine Zigaretten.“
„Darf ich mir auch eine nehmen?“
„Klar. Ich erzähl’s auch keinem.”
“Ich auch nicht.”
Das brachte sie endlich auf andere Gedanken.
„Kann ich ihnen eine Frage stellen, Tommy?”
„Schieß los.”
“Würden sie mir einen Gefallen tun und diesen Gefallen danach wieder vergessen?“
„Ich unterschreibe keine Blanco-Schecks, Nicole.“
„Ich weiß, dass sie so ziemlich der einzige im Bates sind, der mir diesen Wunsch erfüllen würde.“
Tommy versuchte sich weiter auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, warf immer wieder beunruhigende Blicke zu Nicole hinüber. Sie drehte das Coolpack an ihrem Auge, sah ihn auffordernd an.
„Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber...“
„Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie mit ihren Methoden die Spinner auf dem College unter Kontrolle halten und niemand redet darüber, wie genau sie das machen.“
„Das ist kein Geheimnis. Ich rede mit ihnen.”
“Dann tun sie mir den Gefallen und nehmen sie sich Vern zur Brust.“
Tommy setzte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. Sie standen neben einer Fliegenverseuchten Rinderweide.
„Du meinst nicht etwa, dass du einen Auftragskiller brauchst, oder?“ Er biss sich auf die Zunge, um ein ruhiges Gesicht bemüht. Fast hätte er sniper gesagt, kaum zu glauben. Nicole sah nach vorn auf die Straße.
„Ich frage sie, ob sie etwas unternehmen können, dass er mich in Ruhe lässt. Ich will die zwei Jahre auf dem Bates mit den besten Noten abschließen und da kann ich keinen Vern gebrauchen, vor dem ich ständig Angst haben muss.“
„Ich werde nichts tun, was gegen das Gesetz ist“, sagte Tommy, „aber ich nehm ihn mir vor, das verspreche ich dir. Er wird dich in Ruhe lassen. Wirst du ihn anzeigen?“
„Nein, es soll nicht an die große Glocke.“
Sie rauchten, verwirbelten den Qualm im Wagen und drückten nacheinander die Kippen im Aschenbecher aus.
„Es war nicht das erste Mal, dass er es getan hat. Wie hast du’s davor geheim gehalten?“
„Mit Glück und viel Schminke.“
„Was wirst du heute sagen, wenn dich jemand anspricht? Diese Lippe wirst du nicht überschminken können.“
„Ich lass mir schon was einfallen.“
Sie fuhren weiter, Nicole dirigierte ihn in Auburn bis vor das Haus ihrer Großeltern. Im Wagen sitzend zog sie sich die Jacke aus, fragte, ob ihr Gesicht noch schlimm aussähe und Tommy erwiderte ausweichend, dass sie nur weiter gut Kühlen solle.
„Soll ich noch mit reinkommen?”
„Nein, das steh ich lieber allein durch.“
Sie stieg aus, winkte ein letztes Mal und klopfte an die Haustür ihrer Großeltern. Von weitem sah ihr Gesicht nur noch verheult aus, aber das konnte Tommy nicht darüber hinwegtrösten, dass er wusste, wie hart Vern zugeschlagen hatte. Er wartete, bis sich die Tür öffnete und Nicole im Haus verschwand, fuhr dann zurück. Wäre Lea nicht wütend bis in die Knochen gewesen, hätte er sich Vern noch an diesem Tag vorgenommen, aber in Anbetracht des Haussegens war es besser, unterwegs ein paar Blumen zu kaufen und sich ein paar nette Worte einfallen zu lassen.
Die Versöhnung nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Lea machte zwar eins auf harte Nuss, aber sie ließ ihn ausreden und von Nicole erzählen, die von Vern vermöbelt worden war und vermutlich auch das Schluchzgespenst von der Notrufleitung war. Kein Wort mehr davon, wie lange er sie hatte warten lassen; sie wollte etwas von dem armen Mädchen hören, wie es ihr ginge und wer dieser Idiot war, der einem Mädchen so etwas antat.
„Konntest du ihr wenigstens helfen?”
„Ich hab sie nur nach Hause gefahren“, erwiderte Tommy, „mehr konnte ich gar nicht für sie tun.“
„Ist der Typ auch am Bates?“
„Ja“, sagte er knapp.
„Na, dann kann der sich warm anziehen, denke ich.“
Die Blumen, die er im Supermarkt gekauft hatte, waren weder frisch noch hübsch, erregten eher Mitleid und bettelten nach Erlösung. Lea stellte sie ins Wasser, platzierte die Vase auf dem Tisch. Vermutlich würden die Katzen sie schon in den nächsten zwei Stunden aus der Vase pflücken und etwas umdekorieren.
Ihr gemeinsamer freier Sonntag fand einen ruhigen Ausklang. Sie lagen gemeinsam im Bett, Tommy blätterte in einer Zeitung, Lea las in einem Stephen King und die Katzen hatten es sich dazwischen gemütlich gemacht. Lea lag auf dem Bauch, das Kopfkissen unter das Kinn gestopft und das Buch so dicht vor den Augen, dass Tommy ab und zu zu ihr herübersah, ob sie nicht schon eingeschlafen war. Meist war sie so in das Buch vertieft, dass sie es nicht merkte, wenn Tommy ihr Seitenblicke zuwarf. An manchen Textstellen kicherte sie oder murmelte „Igitt.“
„Wieso liest du solche Bücher, wenn du sie igitt findest?“
Sie legte das Buch beiseite, drehte sich halb zu ihm herum und sagte: „Es ist nicht nur alles igitt. Ich mag die Bücher einfach. Du solltest es auch mal versuchen.“
„Ein anderes Mal vielleicht.“
Er hatte einige Bücher gelesen, seit er bei Lea wohnte, aber er bevorzugte andere Geschichten als die Bücher von King. Er sagte, es gab für ihn andere Dinge, über die er etwas wissen wollte und die es seiner Meinung nach Wert waren, von ihm gelesen zu werden. Geschichten von toten Tieren, die aus ihren Gräbern krochen, gehörten nicht dazu.
Lea legte die Wange auf das Kissen, versuchte an der Zeitung vorbei Tommys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
„Was war das letzte Buch noch mal, was du gelesen hast? Das war doch irgendwas mit einer Garnele, oder?“ Sie schaukelte mit einem Unterschenkel hin und her, brachte das Bett in eine sanfte Bewegung. Tommy legte die Zeitung beiseite und erwiderte stirnrunzelnd: „Du willst mich jetzt verarschen, richtig? Das war kein Garnelenbuch. Das war...“
“Dante’s Hummer?”
“Dante und der Hummer. Bleib du ruhig bei deinem Mic Mac Friedhof.”
Sie nahm das Taschenbuch, das inzwischen reichlich gelitten hatte in Badewanne und Garten, schlug ihm mit dem Buchdeckel voran auf den Bauch.
„Du hast also doch einen Blick reingeworfen“, rief sie, versuchte weiter, das Buch als Fliegenklatsche zu benutzen, aber Tommy brauchte nur eine Hand, um sie daran zu hindern.
„Ich hab nur den Text auf der Rückseite gelesen“, sagte er, „das ist nicht verboten.“ Er kicherte darüber, dass sie sich von ihm loszumachen versuchte, dabei ein verbissenes Gesicht machte, als ginge es um Leben und Tod.
„Auf der Rückseite steht aber nichts von den Mic Macs.“ Sie schaffte es nicht, sich los zu machen, rollte sich auf ihn und passte dabei nicht auf ihre spitzen Knie auf – die Katzen waren längst aus dem Bett geflüchtet und Tommy biss die Zähne zusammen, weil Lea auf ihm kniete, da, wo es weh tat, und sie ihm in die Hand biss, damit er sie endlich losließ.
„Okay“, quetschte er hervor, „ich hab es irgendwo aufgeschlagen und eine Seite gelesen. Ich gebe es zu. Und jetzt hör auf mich zu beißen.“
Sie tat triumphierend, blieb auf ihm liegen und bewegte wieder eines ihrer Beine.
„Ich wusste doch, dass ich ein Geständnis aus dir rauskriege.“
„Was wird das jetzt hier?“ fragte er, aber im Grunde musste Lea das nicht weiter erklären.

Es war gut, dass Tommy einen Tag Zeit hatte, um sich Gedanken darüber zu machen, wie er sich Vern vornehmen wollte – direkt am selben Tag hätte er sich vielleicht zu etwas hinreißen lassen, was er später bereut hätte. Er traf sich mit Scott Soucy am Morgen, um mit ihm seine Vorgehensweise zu besprechen.
„Seit wann brauchst du Schützenhilfe?“
„Ich werde die Sache anders angehen als sonst“, sagte Tommy, „einer, der seine Freundin verprügelt, hat’s nicht verdient, sanft angepackt zu werden.“
Er machte einen schriftlichen Bericht an Larry, gab Veronica Lingam, der Vertrauenslehrerin, bescheid, dass Nicole für einige Tage aus familiären Gründen fehlen würde. Er erkundigte sich nach Vern und dessen Kurse und bat den Lehrer, ihn am Nachmittag zu ihm ins Büro zu schicken. Um den Rest würde er sich kümmern. Er versuchte sich zunächst kein Bild von Vern zu machen, erledigte andere Dinge, bis er wirklich bei ihm an die Tür klopfte und dabei ein Gesicht machte, als wüsste er überhaupt nicht, weshalb er antanzen musste.
Tommy betrachtete ihn kurz, ließ ihn in der Tür stehen. Mochte sein, dass Vern ein gutaussehender Junge war, er war blond, lockenköpfig und von großer Statur, machte keinen dummen Eindruck.
„Vern?“ fragte er, der Junge nickte nervös und machte einen Schritt in das Büro hinein. Tommy griff nach der Sporttasche, die unter seinem Schreibtisch platziert gewesen war, warf sie Vern über die kurze Distanz in die Arme.
„Wir haben eine Verabredung“, sagte er, „komm mit.“
„Ich muss...“, begann Vern, deutete mit einer Hand auf den Flur zurück und suchte nach den richtigen Worten, wurde von Tommy energisch unterbrochen und erstarrte bei dem harschen Ton.
„Du musst gar nichts“, sagte Tommy sehr deutlich, „du trägst die Tasche und hältst den Mund.“
Vern schaffte es, sich an diese Vorgaben zu halten, bis Tommy die Tür zur Sporthalle öffnete und ihn eintreten ließ.
„Was passiert denn hier?“ fragte er, bekam aber keine Antwort.
Die Halle war hell erleuchtet, Scott stand wie unbeteiligt in der Ecke beim Boxring.
„Mach die Tasche auf“, sagte Tommy, „und zieh dir die Schuhe an.“
In der Tasche fand Vern Sportschuhe in seiner Größe, die er ohne ein fragendes Wort anzog.
„Treibst du Sport?“
„Ein wenig“, sagte Vern, „aber in letzter Zeit hab ich es vernachlässigt.“
„Dann lauf die erste Runde“, sagte Tommy.
Vern trabte los, drehte sich immer wieder zu den beiden Männern herum, während er auf der äußeren Bahn durch die Halle lief. Seine Schuhe quietschten auf dem glatten Boden. Tommy setzte sich zu Scott auf die Bank, zog sich seine Laufschuhe an und fing Vern bei der nächsten Runde ab.
Er hasste das Laufen, nicht nur, weil er wusste, dass ihm am Abend das verdammte Bein wehtun würde. Laufen war etwas, was ihn an Flucht denken ließ, egal, ob man es nun Jogging oder Aufwärmtraining nannte. Er hatte keine Ahnung, ob seine Hand schon bereit war zum Sparring, er würde es einfach ausprobieren. Vern passte sich seinem langsamen Trott an, hatte dadurch die Möglichkeit, ein paar Fragen loszuwerden.
„Tommy“, begann er, „Sir, kommt noch irgendjemand zum Training?“
„Nein, das ist eine Privatstunde. Ich hab gehört, du boxt ganz gern.“
Vern hatte keinen Schimmer, wovon Tommy sprach, sie drehten noch eine Runde und Tommy sagte: „Bist du bereit?“
Vern hatte schon verloren, als er sich damit einverstanden erklärte, sich Boxhandschuhe anziehen zu lassen und in den Ring zu steigen. Da dachte er noch, es sei wirklich nur eine lockere Boxrunde, die bevorstand; er tänzelte hin und her, nahm es nicht ernst, da Tommy seine linke Hand offensichtlich auch nicht einsetzen wollte. Die ersten Schläge, die er einsteckte, waren nicht der Rede wert, aber er schaffte es auch nicht, selbst nur einen Schlag anzubringen. Nach dem ersten harten Treffer, der Vern nach hinten taumeln ließ, testete Tommy seine schwache Hand und setzte noch einmal nach.
„Hast du was von Nicole gehört?“ fragte er und endlich ging Vern ein Licht auf. Er vergaß das Boxen und gab seine Deckung auf, kassierte dafür den nächsten Schwinger. Seine Nase begann zu bluten.
„Nicole?“ fragte er undeutlich, “was ist mit ihr?”
Nach fünf Minuten brach Scott die Runde ab, weil ihm die Sache zu heikel wurde. Tommy war nicht wirklich außer Atem, aber seine getapte Hand tat weh und er war froh, die Handschuhe los zu werden. Verns Nase würde irgendwann aufhören zu bluten, aber die Veilchen würden einige Tage länger unter seinen Augen blühen.
„Du wirst Nicole in Ruhe lassen“, sagte Tommy freundlich, „wenn ich mitbekomme, dass du sie auch nur ansprichst, wirst du an fünf Abenden in der Woche mein Sparringspartner, hast du mich verstanden? Und dann wird kein Scott Soucy daneben stehen, der mich davon abhält, bis ins letzte zu gehen.“
Vern schien etwas erwidern zu wollen, aber er verkniff es sich rechtzeitig. Am nächsten Morgen würde er vor Schmerzen kaum aus dem Bett hochkommen, aber Tommy wusste, dass selbst das nur ein schwacher Trost für Nicole sein konnte. Vern würde sie in Ruhe lassen, aber nur, um seine eigene Haut zu retten, nicht, weil er begriffen hatte, dass man Frauen nicht schlug. Er zog mit steifen Bewegungen seinen Sweater über, streifte sich die Turnschuhe von den Füßen, indem er sich in die Hacken trat. Er schlich sich davon, ohne etwas zu sagen.
„Er wird versuchen, dich anzuschwärzen“, sagte Scott, als sie die Halle abschlossen, er Tommy in die Kantine begleitete, wo er sich einen Beutel Eiswürfel für die Hand besorgte.
„Er wird drüber nachdenken, aber er wird nichts sagen“, sagte Tommy, „dazu ist er wieder zu schlau. Er wird sich auf sein Studium konzentrieren und so unauffällig wie möglich bleiben. Wenn er sein Spiegelbild sieht morgen nach dem Aufstehen, wird er alle Rachegedanken runterschlucken und sich eine neue Freundin suchen.“
„Du hängst dich da zu sehr rein, Tommy.“
„Du hast das Mädchen nicht gesehen“, erwiderte er.

Während Tommy Vern vermöbelte, nutzte David seine freie Zeit, um dem Videoclub einen Besuch abzustatten. Sie hatten einen abenteuerlich eingerichteten Raum, in dem sie ihre Computer und TV-Anlage untergebracht hatten, der selbst für die Putzkolonne tabu war. Als David anklopfte und eintrat, waren Spike und ein Mädchen mit schwarz geschminkten Augen gerade dabei, zwei verschiedene Sequenzen zusammenzuschneiden, die auf dem ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten.
„Hi“, sagte David, stellte seine Tasche ab, „kann ich euch über die Schulter sehen? Ich würde gern bei dem Café-Projekt helfen.“
„Hast du schon mal mit Video gearbeitet?“ fragte Spike und David sagte: „Nicht so richtig, aber ich würde gern Lea helfen. Ich dachte, das Café wäre ein guter Anfang.“
Spike machte ein grunzendes Geräusch. „Hat sie dich noch nicht abblitzen lassen?“
„Doch, aber so schnell gebe ich nicht auf.“
„Armer Irrer“, sagte das Mädchen.
David wurde dazu verdonnert, einen Haufen Videokassetten neu zu beschriften und CDs zu sortieren, schaffte es dabei, jede Menge Fragen zu stellen, was die Arbeit des Videoclubs anging. Spike hatte während der Semesterferien jede Menge Material gesammelt, konnte es aber nirgendwo unterbringen, weil es in kein Konzept passte.
„Wo liegen deine Interessen?“ fragte er David, „woraus würdest du einen Film machen wollen?“
„Ich weiß nicht“, sagte David, „vielleicht über Fabrikarbeiter. Ohne die Fabrik zu zeigen. Oder Soldaten ohne Krieg. Ich würde das zeigen, was drum rum ist und dass man von allein an das offensichtliche denkt. Und es aber nicht wirklich sieht.“
Sie hockten bei drei Litern Coke zusammen und diskutierten lange darüber, wie man daraus etwas machen konnte, bis David fragte, wie weit das Internet eine Hilfe sein konnte. Davon hielt Spike überhaupt nichts.
„Das einzige, was ich im Netz suche, sind Anleihen bei Kinofilmen. Alles andere im Netz ist Schrott was Videofilme angeht.“
„Ich hab mal eine Art Film gemacht“, sagte David, “da hatte ich alte schwarz-weiß Fotos hintereinander montiert und sie wie einen Slapstickfilm ablaufen lassen. Weil ich nicht genug eigene hatte, hab ich mir den Rest aus dem Internet rausgezogen.“
Spike lud David auf eine kurze Kennenlernrunde zu den anderen Videofreaks ein, auf dem Weg durch das Wohnheim, als sie sich über Independent Regisseure unterhielten, trafen sie auf Vern, der sich unauffällig zur Seite drückte, als sie an ihm vorbeigingen. In seinem Gesicht blühten bereits die deutlichen Flecken, die Tommys Boxhandschuhe hinterlassen hatten.
„David hat ein paar echt gute Ideen“, sagte Spike zu den anderen beiden Jungs, „wir sollten uns morgen alle Mann zusammensetzen.“
David machte ein freundliches Gesicht in die Runde, obwohl er von den beiden Jungs, die er vorgestellt bekam, dachte, dass sie aussahen wie die hirnlosen Zeichentrickfiguren von MTV. Alles, was er wollte, war Lea näher zu kommen und dafür würde er einiges in Kauf nehmen. Als er endlich in sein eigenes Zimmer wieder fand, war sein Zimmernachbar Abraham bereits schlafen gegangen und er weckte ihn aus Versehen.
„Erzähl mir nicht, du hast dich in der Bücherei einschließen lassen, du Streber“, murmelte Abraham verschlafen.
„Ich war mit Spike unterwegs.“
„Einer von den Gestörten.“
„Über ihn komme ich an Lea heran“, sagte David verträumt.
„Lass dir mal was sagen von jemandem, der in LA groß geworden ist.“ Abraham schwang sich zu einer wahren Ansprache auf. „Lea gibt sich nicht mit Kleinkram ab, das hat sie noch nie getan. Alles unter fünfundzwanzig zählt dazu. Ich hab sie damals auf den Partys erlebt, auf die mein großer Bruder mich mitgeschleppt hat, weil ich ihn sonst verpetzt hätte und da hat sie nie was anbrennen lassen. Und ich rede jetzt von den großen Dingen, die auf solchen Partys angesagt sind. Auf der anderen Seite hat sie einen Lachkrampf bekommen, wenn sie einer von den Jungs angesprochen hat, die nicht wussten, wo’s langging. Wenn sie dich mag, macht sie alles mit, aber sie macht dich fertig, wenn du ihr die Gelegenheit dazu gibst.“
„Was ist mit ihrem Freund?“
„Bist du ihm schon begegnet?“
„Nur flüchtig.“
„Dem gibst du besser keinen Grund zur Eifersucht. Tommy hat bei uns im Nebenhaus gewohnt, als er noch nicht beim Sicherheitsdienst war und ich hab ihn oft im Park herumsitzen sehen. Er hat stundenlang auf der Parkbank gesessen, Eis gegessen oder mit den Hunden gespielt. In der Bar, in die mein Dad freitags immer geht, hat er auch oft gesessen, hat sich mit den Leuten unterhalten. Mein Dad sagte, dass er ihn nie hat Alkohol trinken sehen.“
„Es gibt viele Männer, die nicht trinken“, sagte David.
„Ja, aber ich mach mir dann immer Gedanken darüber, weshalb sie’s aufgegeben haben. Du nicht?“
Obwohl David für die Nacht schon halb ausgezogen war, stieg er in seine Hosen zurück und auf Abrahams Frage, was er noch vorhabe, sagte er: „Ich muss noch ’ne Mail nach Hause schicken.“
 
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Tommi kann fantastisch mit Jugendlichen umgehen, die etwas auf dem Kerbholz haben. Man fragte sich, wer er in der Vergangenheit gewesen ist.

Petra (08.04.2009)

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