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44 Seiten

Fisteip teil 9

Romane/Serien · Spannendes
Tommy fuhr nach Augusta, um das zu bekommen, was er brauchte, führte von dort aus ein Telefongespräch, von dem er nicht erwartet hätte, es jemals führen zu müssen. Er brachte seinen Gesprächspartner nicht nur wegen der Zeitverschiebung in Nöten. Er berichtete, was los war, was er vermutete und wer seiner Meinung nach dahinter steckte, wurde zehn Minuten später zurück gerufen und erfuhr, dass sich die Vorgeschichte zu dieser Sache in einem Pub in Belfast zugetragen hatte. Jemand, von dem er es nicht erwartet hätte, hatte einen vollkommen überflüssigen moralischen Anfall bekommen (verbunden mit einer unverzeihlichen Logorrhoe) und Tommy konnte sich den Rest ausmalen.
„Ich werde mich nicht mehr bei euch melden“, sagte er auf gälisch, „ich wollte nur hören, ob ich der einzige bin, hinter dem sie her sind. Ja, es geht mir gut. Wie hör ich mich denn an? Deprimiert?“ Er lachte in den Telefonhörer. „Jeder Tag ist ein Geschenk“, sagte er, „selbst, wenn man ihn trocken und einsam verbringt.“
Diesen Anruf hätte er nicht machen müssen, er war ihnen nichts schuldig, aber diese Telefonnummer war in seinem Kopf noch immer abrufbar gewesen, selbst nach so vielen Jahren und es wunderte ihn, unter diesem Anschluss auch noch den alten O’Malley zu erreichen. In den nächsten Tagen würden sie dort drüben kein anderes Thema haben, den Anruf von Tommy, der sich anhörte wie ein waschechter Amerikaner und dem es offensichtlich so gut ging, dass ihm ein Anruf nichts ausmachte. Er war froh, als er endlich wieder zu Hause bei Lea war.
Er hatte von Doug den Fernseher ausgeliehen, der ihn im Moment nicht brauchte, wie er sagte.
„Wie geht’s ihm?“ fragte Lea, „ist Sarah wieder zu Hause eingezogen?“
„Ich glaube nicht, dass das wieder passieren wird.“
„Oh schöne Scheiße. Tommy, wenn es bei uns jemals so kriselt, musst du mir versprechen, dass du nicht einfach deinen Koffer packst und verschwindest.“
„Wir haben einen großen Vorteil den beiden gegenüber, wir reden miteinander. Douglas hat seit Monaten versucht ihr zu sagen, dass etwas nicht stimmt, aber sie wollte es nicht hören.“
„Hör ich dir immer zu?“
„Ich denke schon. Und wenn nicht, prügel ich dich einmal durchs Haus.“ Er flüsterte es zu ihr herüber und sie brach in Gelächter aus.
Erst ein paar Tage später erfuhren sie, dass Sarah nach New Orleans abgereist war. Dort hatte sie wohl eine Freundin (Lästermäuler munkelten allerdings, es könnte auch ein Freund sein), bei der sie eingezogen war, bereits auch wieder einen Job hatte. Douglas schien das alles gelassen hinzunehmen, wenn er das Haus schon nach seinen Wünschen umgestaltete.
„Ich bleibe erstmal in Lewiston“, sagte er zu Tommy, „ich hab mir kurzfristig andere Ziele gesteckt.“
„Mittwoch kannst du zum Sparring kommen, wenn du willst.“
„Das wär vor meiner Schicht, aber ich komme.“

In Augusta verbrachte er den ganzen Mittag. Das Waffengeschäft, in dem er die .45er kaufte, lag in einer engen Nebenstraße, in der man nichts anderes als dunkle Geschäfte erwartete. Am Anfang der Straße, wo sie von der Hauptstraße abging, lagen Müllberge, als wage sich die Müllabfuhr nicht mehr in diesen Teil der Stadt, es stank erbärmlich und direkt vor dem ersten Laden, einer Reinigung, die so schmutzige Fenster hatte, dass man nicht hindurchsehen konnte, standen Kartons mit Plastikabfällen. Obwohl der Laden um zehn Uhr öffnen sollte, Tommy um elf Uhr vor der Tür stand, war die Jalousie noch heruntergelassen. Er nahm einen Zug von der Zigarette, schirmte das Morgenlicht mit der Hand ab und versuchte etwas durch eine defekte Lamelle zu erkennen. Im ganzen Laden brannte kein Licht, nichts rührte sich. Er drehte noch eine Runde, zurück zur Hauptstraße, wo er an einer Straßenbude einen Kaffee trank. Mit dem Kaffeeverkäufer, einem Franko-Amerikaner, der von sich behauptete, etwas besonderes zu sein, redete er über die letzten Footballergebnisse und der Tatsache, dass es keine zu Herzen gehenden Lovesongs mehr gab.
Als er kurz vor zwölf wieder an dem Waffenladen vorbeiging, der sich schlicht ‚Hoover`s’ nannte, hatte er endlich geöffnet. Er betrat den Laden, über ihm tanzten die Glöckchen, die dem Verkäufer sagten, dass ein Kunde hereingekommen war.
Tommy war bereits vor Tagen dort gewesen, hatte mit dem freundlichen Italiener, der die Waffen verkaufte, ein kurzes Gespräch geführt. Vergeblich hatte Tommy versucht, seinen Akzent komplett abzuschalten, aber falls der Mann es bemerkt haben sollte, erwähnte er es nicht. Er klärte ihn sehr pflichtbewusst darüber auf, welche Bedingungen er erfüllen musste, um sich eine Waffe kaufen zu dürfen. Insgeheim fand Tommy es noch immer zu einfach, aber beschweren wollte er sich nicht darüber.
„Ich möchte meine Bestellung abholen“, sagte er, zeigte seinen Führerschein und der Mann verschwand nach hinten, wo er geräuschvoll zu kramen begann, dabei auf italienisch vor sich hinsang. Überall in dem kleinen Laden waren ausgestopfte Tierköpfe ausgestellt, Felle hingen an den Wänden, daneben die Waffen, mit denen sie erlegt worden waren. Tommy sah sich um, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Jackentaschen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man auch ein Foto von John Lennon aufhängen müssen oder die Namen der Schulkinder, die unschuldige Opfer geworden waren. Der Mann mit dem unglaublichen italienischen Akzent hatte ihn gefragt, wozu er die Waffe benötigte. Das hatte er sich schon Tage zuvor durch den Kopf gehen lassen, und seine Erklärung klang ein wenig schräg. Allerdings kannte er genug schräge Leute, die schräge Ansichten hatten und darüber wunderte sich auch niemand.
„Meine Freundin ist letzte Woche von einem Vieh attackiert worden“, hatte er gesagt, „sie wollte hinten raus in den Garten und dieses Ding kam aus dem Wald geschossen. Sah aus wie ein mutiertes Murmeltier. Es hat nach ihr gebissen, ist aber an ihren Stiefeln abgerutscht. Ich hab mit ’ner Schaufel nach dem Mistvieh geschlagen und hab’s erledigt. Der Sheriff meinte, es sei ein Woodchuck gewesen und es sei schon vorgekommen, dass die Tollwut haben. Wenn das nächste Mal so ein kleines Monster aus dem Wald kommt, brat ich ihm direkt eins aufs Fell.“
„Dazu brauchen sie eine .45er? Ein Gewehr würde es auch tun.“
„Wenn ich dieses Vieh erledige, dann mit Stil und auf meine Weise“, hatte Tommy gesagt, der Verkäufer hatte das Gesicht zu einem Grinsen verzogen und geantwortet: „Dann hoffen wir mal, dass sie als nächstes nicht den Nachbarshund erledigen, Mr. John Wayne.“
Er bekam die Waffe, Munition und seine Quittung ausgehändigt. Er bezahlte in bar.
„Sie können mit der Waffe umgehen?“
„Ich war in der Army“, sagte Tommy, „und ich bin vorsichtig.“
Wenn ich auf jemanden schieße, dachte er, dann bestimmt nicht aus Versehen.
Auf dem Weg zurück zum Nissan, den er abseits dieser Gegend geparkt hatte, versuchte er zu überprüfen, ob ihm jemand folgte, konnte es nicht mit Sicherheit ausschließen. Das Wetter machte ihn nervös. Die Luft war kühl und es roch nach Herbst, nach reifem Obst und feuchter Erde, das Laub der Bäume begann sich bereits zu verfärben. Trotz der kühlen Luft war es noch warm, wenn die Sonne durch die Wolken brach. Der kurze Herbst in New England erinnerte ihn an die Heimat; mehr als alles andere und machte ihm das Leben etwas schwerer. Es waren noch keine Depressionen und es würde ihn auch nicht dazu verleiten, nach Irland zurückzukehren, aber es reichte aus, um ihn immer wieder an die Heimat denken zu lassen. Er dachte an die Familie, an Freunde und Orte. Hinzu kam noch, dass er das Gewicht der .45er an seiner Seite spürte und er das Gefühl hatte, jeder, der ihm auf der Straße entgegenkam, würde ihn anstarren. Er war froh, als er endlich im Nissan saß. Er wollte nur noch nach Hause und sich um Lea kümmern. Seinen eigentlichen Plan, die Jungs der angeblichen Splittergruppe zu besuchen, ließ er ruhen. Es war mit Sicherheit das, was sie von ihm erwarteten, sie wollten ihn aus dem Bau locken und den Gefallen tat er ihnen nicht. Besser war es, auf Lea, auf das Haus und auf die Katzen besser aufzupassen.

„Ich hab Post von meinem Großvater Ira bekommen“, sagte Lea, wedelte mit einer furchtbar bunten Karte herum, „er feiert seinen achtzigsten Geburtstag.“
„Willst du ihn besuchen?“
„Werd ich wohl müssen, er lädt uns zu der Feier ein. So, wie das aussieht, hat er die ganze Verwandtschaft zu sich beordert.“ Sie legte den Kopf zurück in das Kissen. „Kannst du dich an das letzte Thanksgiving erinnern? An diese furchtbare Szene zwischen den beiden alten Weibern in der Küche?“
„Eine der wenigen Momente, in denen ich mir gewünscht habe, stockbesoffen zu sein“, sagte er.
„Die werden alle wieder da sein, und vermutlich noch ein paar mehr. Solche Zusammenkünfte in der Familie sind ja ganz lustig, solange man ein Kind ist und gerne von jedem zu hören bekommt, wie groß man doch geworden ist und wie ähnlich man der Mutter sieht.“
Thanksgiving mit der Großfamilie Salaberry war ein Erlebnis für sich gewesen. Lea betrachtete die Karte und obwohl der Termin noch in der Ferne lag, dachte sie schon darüber nach, nicht hinzufahren. Bis nach Vermont zu fahren wäre kein Beinbruch, aber dort würde sie einigen Verwandten begegnen, die ihr schon das letzte Mal ganz fürchterlich auf die Nerven gegangen waren. Nicht nur, dass sie sich darüber auslassen würden, dass man sich den Partner fürs Leben sehr genau aussuchen solle und es für ein junges Mädchen nicht das richtige sein konnte, ein eigenes Geschäft zu betreiben. Am liebsten hätten die altmodischen Weiber es gesehen, wenn Lea einen Jungen aus Lewiston geheiratet und sofort Kinder bekommen hätte, aber auch einige der anderen Verwandten sah sie am liebsten von hinten. Es gab offene und versteckte Feindseligkeiten innerhalb der Familie, es wurde intrigiert, man verbündete sich gegen einzelne Mitglieder, und das selbst, wenn man sich nur zwei oder dreimal im Jahr sah. Allerdings gab es auch Dinge, die absolut positiv waren. Jemand fand sich immer, um dem arbeitslos gewordenen Familienvater einen neuen Job zu besorgen, Kinder einer kranken Mutter kamen in der Verwandtschaft unter, ohne dass jemand ein Wort darüber verlor. Nur leider kamen diese positiven Eigenschaften der Familie auf den Festen nur selten zum Vorschein. Man konnte das Kartoffelgericht der einen nicht loben, ohne gleichzeitig automatisch die Sauce der anderen schlecht zu machen; man konnte nicht von sich behaupten, ein eigenständiges gutes Leben zu führen, ohne sich sagen lassen zu müssen, dass die kleine Amy aus der näheren Verwandtschaft es allerdings noch ein wenig besser getroffen habe. Einige aus Leas Alter hatten wirklich Karriere gemacht, konnten sich einen teuren Lebensstil leisten und benahmen sich auch dementsprechend. Unterhielt man sich mit ihnen, hatte man das Gefühl, PR-abgestimmte Antworten zu bekommen.
Thanksgiving hatte sie nur überlebt, weil sich alle auf Cousin Bobby eingeschossen hatten, über dessen wieder akute Drogensucht konnten sie ungehindert reden, weil er nicht anwesend war. Seine Eltern hatten ihn in eine Drogenklinik gebracht, nachdem sie wieder den Stoff bei ihm gefunden hatten. Im Grunde war Bobby ein armes Schwein. Er war ein hervorragender Musiker und hätte als Pianist eine große Karriere vor sich gehabt, wenn er nicht an einen schlechten Agenten geraten wäre, der ihn nicht nur mit Auftritten sondern auch mit Koks versorgt hatte.
Mittlerweile hatte er seit zwei Jahren keine Musik mehr gemacht.
Als Lea ihm das letzte Mal persönlich begegnet war, hatte er sie sofort um Geld angepumpt, ein großer dürrer Junkie mit verwaschener Sprache, der sich alles durch die Nase und in die Venen pumpte, was er kriegen konnte. Wenn es ihm geholfen hätte, hätte sie ihm Geld gegeben und vermutlich auch mehr, als ihr gut getan hätte.
Tommy hatte sich bei dem Familienfest sehr zurückgehalten, sich nur mit wenigen Leuten unterhalten, war dabei immer auf der Flucht vor Roberta gewesen.
„Es werden einige Leute da sein werden, die mir schon als Kind das Leben schwer gemacht haben. Die treffen sich alle zum 80-sten Geburtstag und fallen über die anderen her.“
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, sie fürchtete sich nur vor der Begegnung mit ihrem Vater, der möglicherweise auch eine Einladung bekommen haben könnte. Und der vermutlich selbst dann auftauchen würde, wenn er keine erhalten hatte. Bei einem Zusammentreffen ihrer geschiedenen Eltern wollte sie nicht den Zeugen spielen.
Tommy würde dort wieder nur mit den anderen mitgeschleppten Männern herumstehen, sich ein wenig unterhalten und höflich die angebotenen Drinks ablehnen. Er hatte ein deutlich leichteres Spiel dabei.
„Okay“, sagte er, „es bleibt deine Entscheidung, ob du nach Vermont möchtest oder nicht.“
„Es ist meine Entscheidung, nicht nach Vermont zu fahren.“
„Dann ruf ihn wenigstens an.“
Natürlich entschied sie sich letztendlich doch um.

Die .45er mitsamt der Munition versteckte er in einem Schuhkarton in dem baufälligen Gartenschuppen, der sich ganz hinten im Garten an einen alten Baum lehnte. Dort standen die seit dreihundert Jahren nicht mehr benutzten rostigen Gartengeräte, ein paar alte Farbdosen und die Überreste eines mechanischen Rasenmähers. Alles stand dort kreuz und quer durcheinander, man wurde fast von Gartenharken erschlagen, wenn man die Tür öffnete. Es war das perfekte Versteck für die Waffe, der Karton sah von außen aus, als wären Schrauben und Schuhbänder darin und nicht etwas, was er gekauft hatte, um damit möglicherweise jemanden zu töten.
Die .45er war in einen dreckigen Putzlappen gewickelt, der nach Schuhcreme roch. Schuhcreme hatte einen angenehmen Geruch und überdeckte den Metallgeruch der Waffe. Tommy legte den Karton auf die Ablage neben die Farbdosen. Im Notfall konnte er die Tür öffnen, hineingreifen und den Karton blind packen. Und Lea würde sich über einen so abgelegten Karton nicht wundern, würde nicht auf die Idee kommen, hineinzusehen. Er wusste die Waffe dort in Sicherheit und gleichzeitig war sie nahe genug am Haus platziert.
Ich werde nichts unternehmen, dachte Tommy, es bleibt ihnen überlassen, den nächsten Schritt zu tun. Sie werden mich nicht überraschen. Diesmal nicht. Sie werden an mich ran müssen und nicht noch mal an Lea.

Douglas kam am Mittwoch zum Sparring, sagte, er würde danach seine Schicht beginnen und weil ihn im Moment alles etwas ankotzte, wäre es kein Problem, wenn Tommy ihm eins auf die Nase geben würde.
„Du willst, dass ich dir eins drauf haue?“
Douglas zeigte mit der Faust auf sein Kinn, hielt Tommy dann die Boxhandschuhe entgegen, damit er sie zuschnüren konnte.
Mitten im Training tauchte noch jemand auf, der sich schweigend zu den Studenten setzte, seine Straßenschuhe gegen Sportschuhe tauschte. Tommy stand neben dem Ring, gab dem Jungen, der sich gegen Douglas zu behaupten versuchte, ein paar Tipps, sagte ihm nicht zum ersten Mal, er solle nicht herumstehen wie ein Faultier, dem man die Füße angenagelt hatte. Er wechselte mit David, der sich stumm gesetzt hatte, nur einen kurzen Blick. Der Junge, einer von der ewig vorsichtigen Sorte, nickte, klopfte sich mit dem Handschuh gegen den Kopf, tänzelte mühselig auf Douglas zu, der ihm eins auf die Nase verpasste und ihn zu Boden schickte. Tommy senkte den Kopf und rieb sich in einer verzweifelten Geste die Stirn. Was immer mit Douglas los war, er ließ es an den anderen aus und das war nicht in Ordnung. Tommy schwang sich durch die Seile, half dem Jungen hoch, klopfte ihm auf den Rücken.
„Nimm’s tapfer“, sagte er, „für die ersten Male war das nicht schlecht. Du brauchst nur ein wenig mehr Biss.“
„Blutet meine Nase?“
„Tut sie nicht“, sagte Tommy.
„Es fühlt sich aber so an.“
Seiner Stimme nach zu urteilen war er den Tränen nahe, aber er hielt sich tapfer, zog in einem fort die Nase hoch, während Tommy ihm die Boxhandschuhe auszog.
„Er ist schlecht drauf“, murmelte er zur Seite gewandt, „sonst hätte er nicht so rücksichtslos zugehauen. Boxen ist auch Taktik, verstehst du, es ist nicht nur draufhauen, bis der andere blutet.“
„Meine Nase blutet doch?“
„Wenn ich dir gleich eins drauf gebe, blutet sie wirklich“, erwiderte Tommy, „leg dir einen Eisbeutel auf die Nase, aber mit einem Lappen dazwischen. Nächste Woche machen wir ein paar Übungen am Sandsack. Du stellst dir vor, es sei Douglas und gibst ihm den Rest.“
Er selbst verzichtete darauf, zu Douglas in den Ring zu steigen, sagte zu ihm: „Lass die Jungs mal allein boxen, Doug, bevor du noch einen von ihnen wirklich verletzt.“
„Wer das nicht abkann, sollte nicht boxen.“
„Ich werde dich an diesen Spruch erinnern.“
Drei Stunden später fragte Tommy, als sie beim aufräumen und abschließen mal wieder allein waren: „Wie hat dein Dad die Sache mit Sarah aufgenommen?“
„Hat ihn nicht umgehauen. Er mochte sie, aber da sie hingeschmissen hat, gibt er mir nicht die Schuld daran. Ab und zu ruft er an und wir versuchen wie Vater und Sohn miteinander zu sprechen, meist kommen dabei nur leere Worthülsen heraus. Standardsätze, die nichts mit uns zu tun haben.“
„Er hat noch das Haus in Old Orchard Beach? Und das Büro?“
„Hab keine Ahnung, wie er über die Runden kommt, aber er betreibt die Agentur noch immer. Klingt hochtrabend, wenn man bedenkt, was für ein schrulliger Kauz mein alter Herr ist.“
„Er ist schon in Ordnung.“
Tommy hatte ihn auf einer Feier der freiwilligen Feuerwehr kennen gelernt, sich sehr angeregt mit ihm unterhalten, bis herausgekommen war, dass er Douglas Vater war – ein pensionierter Polizist, der nebenbei ein wenig PI spielte. Er hatte bei einem Bier erzählt, dass er die meiste Zeit damit zubrachte, auf Aufträge zu warten (sein Auftragsdienst rief ihn an, störte ihn dann meist beim Angeln), meist suchte er entfernte Verwandte, überprüfte die Treue des Ehepartners, ab und zu fand er ein weggelaufenes Haustier. Vor drei Wochen hatte er sich abgemüht, eine Boden- und Wasserprobe von einem abgeriegelten Grundstück zu nehmen, an dessen Zaun, „unbefugtes Betreten verboten“ - Schilder hingen. Mit diesen Proben hatte der Besitzer des angrenzenden Grundstücks vor Gericht nachgewiesen, dass dort hochgiftige Substanzen lagerten und die gesamte Umgebung verseuchte. Es hatte einiges Aufsehen erregt und Joe Ford hatte vor Gericht ausgesagt, sein Bild war in der Zeitung abgedruckt gewesen, aber der Lohn dafür hatte nicht mal die Miete für eine Woche zahlen können. Danach kehrte er wieder dazu zurück, durchgebrannte Teenager zu suchen.
Er hatte Douglas davon abzuhalten versucht, ebenfalls Polizist zu werden, allerdings ohne Erfolg.
„Der Junge ist ein Sturkopf“, hatte Joe gesagt, „vorne herum hat er so getan, als würde er es mir recht machen, weiter zur Schule gehen, etwas anständiges lernen, aber kaum war er volljährig, hat er alles hingeschmissen und ist zur Polizeischule. Ohne uns etwas davon zu sagen. Wir haben die Einladung zu seiner Prüfungsfeier bekommen und sind als stolze Eltern dort aufmarschiert. Kein Gedanke mehr darüber, dass er uns reingelegt hat.“
Joe Ford, Mitte sechzig und kahlköpfig, hatte den Polizeidienst quittiert, rechtzeitig bevor es ihn ausgebrannt hatte, hatte immer wieder Gelegenheitsjobs übernommen und sich im nahen Old Orchard Beach niedergelassen. Bei der ersten Begegnung mit Tommy auf dem Feuerwehrfest hatte er bereits einiges gekippt gehabt, ihn prüfend angesehen und ohne Umschweife gesagt: „Es kribbelt in meiner Nase und ich soll verflucht sein, wenn das nicht ein Zeichen ist. Ich hatte mein Leben lang einen verflucht guten Riecher für so etwas, aber es ist mir egal, was du zu verbergen hast, ich will es gar nicht wissen. Wenn ich mich wieder irgendwo reinhänge, krieg ich Ärger mit meinem Sohn.“
Tommy hatte sich lange mit Joe unterhalten, sie hatten Witze gerissen, sich die Reste vom Buffet geholt und wieder einmal hatte Tommy erklären müssen, wieso er keinen Alkohol trank.
Aber das, was ihm von diesem Abend wirklich in Erinnerung geblieben war, war die Tatsache, dass der alte Joe ein Geheimnis für sich behalten konnte und die Geschichte mit den beiden Weibern. Sie hatte sich erst sehr viel später zugetragen, als sich besagte zwei Weiber (verfeindet bis in die nächsten drei kommenden Generationen) am Buffet zu nahe gekommen waren. Das gleiche passierte wohl mit Hunden, die sich nicht riechen konnten; einer unterschritt den Mindestsicherheitsabstand und schon floss Blut. An dem langen schmalen Tisch mit den mitternächtlichen Resten des Büffets trafen sie auf einander, beide mit Teller und Besteck bewaffnet und später mutmaßte man, dass sie sich um die letzte in Knoblauchöl eingelegte Hummerkrabbe geprügelt hatten. Sie gingen wie Preisboxer auf einander los, ohne Rücksicht auf Frisuren und Kleider, kreischten Verwünschungen und Anschuldigungen, deren Hintergrund längst niemandem mehr klar war.
„Pack mal mit an“, sagte Joe, „wir müssen die beiden trennen, bevor sie sich die Ohrläppchen abbeißen.“
„So was hab ich ja ewig nicht mehr gesehen“, sagte Tommy.
„Ihre Vorfahren sind vermutlich schon ineinander verkeilt und um sich schlagend vom Schiff gekommen.“
Selbst zu zweit schafften sie es nicht, die Frauen zu trennen, Tommy wagte nicht zu hart zuzupacken, aber mit der Hilfe weiterer Männer schafften sie es endlich. Der Kampfrausch war verflogen, die Frauen sahen sich peinlich berührt um, wagten sich aber nicht gegenseitig anzusehen. Eine hatte die Nase blutig gehauen, die andere hatte eine Bisswunde am Unterarm. Die Zahnreihen waren sehr deutlich sichtbar in dem weichen Fleisch der Unterseite.
Nach diesem Ereignis kam die gute Stimmung nur schleppend wieder in Gang und Tommy beobachtete, wie ein Mädchen sich die letzte Hummerkrabbe mit den Fingern aus der Schüssel angelte.
„Das war nicht in Ordnung, was du mit dem Kleinen gemacht hast“, sagte Tommy, sah Douglas genau an „das war nicht nötig, ihm so eins auf die Nase zu geben.“
„Hätte er seine Deckung oben behalten...“
„Das nächste Mal legst du dich direkt mit mir an.“
„In Ordnung.“ Douglas sah auf die Uhr. „Ich muss los“, sagte er, „ich ruf dich Freitag mal an, ob wir was am Wochenende unternehmen.“
David wartete auf ihn, saß auf der Abgrenzungsmauer und las in einem Buch, in dem er Textstellen markiert und Zettel hineingeklebt hatte. Tommy blieb bei ihm stehen, sie wechselten ein paar Worte, aber er erwähnte nichts von den Schwierigkeiten mit der Splittergruppe.
„Ich werde nicht hier bleiben“, sagte David, „zum nächsten Semester gehe ich auf ein anderes College. Ich werde hier das Gefühl nicht los, dass ich jeden Moment auffliegen könnte. Dabei würde ich gerne hier bleiben, aber nur unter meinem eigenen Namen.“
„Wenn du Hilfe brauchst, sag mir bescheid.“
Zu Hause machte er einen Rundgang durch den Garten, entdeckte keine Veränderungen, die darauf hätten hinweisen können, dass sich jemand herumgeschlichen hatte, aber er hatte ein seltsames Gefühl. Etwas stimmte nicht. Lea saß im Sessel, den sie sich vor die Terrassentür geschoben hatte, war mit Emelda auf dem Schoß eingeschlafen.
Er wollte sie nicht wecken, aber als er in der Küche die Kühlschranktür öffnete, standen Sekunden später die Katzen neben ihm, maunzten und bettelten nach Futter. Emelda war Lea mit Schwung vom Schoß gesprungen und hatte sie dabei geweckt.
„Tommy?“ rief sie und er antwortete: „Hast du Hunger? Soll ich dir was machen?“
„Nein, aber du kannst zu mir kommen.“

Am Morgen fuhr sie ins Café, den Kopf noch immer voll mit den geplanten Veränderungen, und Tommy folgte einer inneren Eingebung, holte die Waffe aus dem Geräteschuppen und trug sie in der Jackentasche bei sich. Für die Unternehmungen des Tages hatte er seine dicke Lederjacke aus dem Schrank geholt, in deren tiefen ausgebeulten Taschen er eine Menge hineinstecken konnte, ohne dass es auffiel.
Der Nissan hatte mal wieder Probleme mit dem Anlasser, eine seiner Herbst- und Winterkrankheiten. Er orgelte zwanzig Minuten lang, bis der Motor endlich ansprang.
Er hatte Lea versprochen, ein Geschenk für Ira Salaberry zu besorgen, aber dazu würde er nicht in die Mall fahren sondern in eines der kleinen Geschäfte, die am Meer gelegen waren. Old Orchard Beach wäre passend. Von Lea wusste er, dass der alte Mann viele Jahre zur See gefahren war und es war sicher eine gute Idee, ihn mit einem Geschenk an diese Zeit zu erinnern. Sie hatten abgesprochen, dass Tommy im Zweifelsfall anrufen und mit Lea Rückfrage halten sollte, aber er war sich sicher, dass er es auch allein schaffen würde. Er würde eine alte Schiffsplanke kaufen, auf der jemand mit etwas Talent ein Bild von einem Schiff, vielleicht einen englischen Klipper, dramatisch mit hohem Wellengang oder romantisch mit Sonnenuntergang, gemalt hatte, oder einfach einen alten Sextanten. In Old Orchard Beach lief er die Strandpromenade ab, sah in den kleinen Geschäften herein, die teure Souvenirs und billige Andenken verkauften, aber die meiste Zeit stand er oben auf dem Pier und sah auf das Meer hinaus. Der Herbst war schnell gekommen. Das Meer war eisiggrau und die Schaumkronen waren wie flüssiger Schnee. Obwohl er nicht mit der Absicht nach Old Orchard Beach gekommen war, Joe Ford zu finden und mit ihm einen Deal zu machen, geschah genau das. Er kam aus einem Andenkenladen mit einem französischen Namen, den er nicht einmal in Gedanken aussprechen konnte, hatte ein sorgfältig geschnürtes Packet unter dem Arm, in dem eine alte Kapitänsmütze lag, angeblich von einem sehr berühmten Mann. Er war auf dem Rückweg, ging durch die schmale Straße zur Promenadenstraße, dachte daran, Lea etwas mitzubringen, hatte aber keine Ahnung, was das sein könnte. Mit Plunder konnte sie nichts anfangen, den hatte sie nach eigenen Angaben eigenhändig vernichtet, als sie in das Haus ihrer Mutter gezogen war. ‚Plunder war Muttersache’, hatte sie gesagt, ‚und ich habe alles daran gesetzt, ihren Geist aus dem Haus zu vertreiben. Abgenabelt, ein für alle Mal’. Er überlegte, ob er einfach etwas für die Katzen kaufen sollte; lief fast in einen Mann hinein, der ein Fahrrad neben sich her schob und rechtzeitig abbremste. Er blieb stehen, machte einen Bogen und wollte weitergehen, ohne den Mann richtig anzusehen, als ihn die knurrige Bemerkung „Gibt’s da nicht was, was du mir zu sagen hättest?“ aufsehen ließ. Vor ihm, einen albernen Anglerhut auf der Glatze, stand Joe Ford, er roch nach Salzwasser und ein wenig nach Fisch und Sonne. Allem Anschein nach war er sehr gut gelaunt, grinste Tommy entgegen.
„Entschuldige“, sagte Tommy, „ich hab die Augen nicht richtig aufgemacht. Wie geht’s dir, Joe? Beißen die Fische?“
„Ich kann nicht klagen. Was treibt dich her?“
„Ein Geschenk besorgen für einen alten Seebären. Ich wollte noch was am Meer bleiben, deshalb bin ich nicht direkt zum Wagen zurück.“
„Du wolltest hoffentlich nicht schwimmen gehen.“
„Kann mich beherrschen.“
„Komm auf einen Kaffee zu mir, wenn du Zeit hast.“
„Okay“, sagte Tommy überrascht, „Zeit hab ich genug.“
Joe machte eine Kopfbewegung und sie folgten ein Stück der Promenade, bis sie in die nächste Querstraße abbogen. Auf dem Weg dorthin grüßte Joe die meisten der Passanten, wechselte ein paar freundliche Worte, selbst mit denen, bei denen er ein abfälliges Geräusch machte, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hatten. Sein Heim lag in einer Reihe von kleinen, dicht gedrängt stehenden Häusern, hatte zwei Stockwerke und einen arg vernachlässigten Garten, der darunter litt, dass sein Besitzer häufiger Angeln ging als sich um ihn zu kümmern. Sie setzten sich mit dem fürchterlichen Instant-Kaffee auf die Veranda, jeder für sich genoss die Aussicht. Joes Haus stand in einem so perfekten Winkel und auf einer leichten Anhöhe, dass er über die Häuser und Dächer der Strandpromenade das Meer sehen konnte. Tommy konnte es ihm nicht übel nehmen, dass er jeden Tag angeln ging.
„Ich hab von Douglas seit zwei Wochen nichts mehr gehört“, sagte Joe, „er schaltet den Anrufbeantworter nicht ein. Ich kann ihm nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Ist er dir mal über den Weg gelaufen?“
„Ich hab ihn gestern gesehen“, sagte Tommy, hatte sofort wieder vor Augen, wie Douglas dem Jungen die Nase platt schlug. Mit einem Gesichtsausdruck, als habe er nur darauf gewartet, endlich jemanden vermöbeln zu dürfen. Das war nicht der Douglas, mit dem er befreundet war.
„Er scheint sich etwas gefangen zu haben.“
„Ja“, sagte Joe, „das ist es, was ich hören wollte. Über so etwas muss man doch hinweg kommen.“
Das sagte jemand, dem die Frau nach vierzig Jahren Ehe gestorben ist, dachte Tommy.
„Was gibt’s sonst neues in Lewiston? Ich bin nicht mehr auf dem Laufenden, seit ich weggezogen bin.“
Viel konnte Tommy nicht berichten, da er sich für den allgemeinen Kleinstadtkaffeeklatsch nicht interessierte, aber er erzählte vom schlechten Abschneiden der Bobcats (wen hatte es verwundert) und von der Schließung eines Colleges in Lewiston, das an der abnehmenden Studentenzahl zugrunde gegangen war.
„Hast du nicht mal Lust, mit mir Fischen zu gehen? Wenn ich Doug frage, kriege ich immer nur zu hören, dass er keine Zeit hat.“
„Sehr viel freie Zeit hab ich aber auch nicht.“ Tommy beugte sich aus dem Stuhl nach vorn, stellte die leere Tasse mit dem ausgestreckten Arm auf den Tisch zurück und seine Jacke, die er über die Armlehne gelegt hatte, rutschte ein Stück nach unten. Nur ein kleines Stück, aber es reichte, um die Tasche mitsamt Inhalt auf den Holzfußboden fallen zu lassen. Hatte eine Waffe, die sanft auf den Boden schlug, ein spezifisches Geräusch? Würde ein alter Cop, wenn er ein alter schlauer Fuchs war, es aus anderen Geräuschen heraushören können? Joe reagierte darauf nicht, goss Kaffee nach und brummte, dass sich das College etwas einfallen lassen sollte, wenn die Footballmannschaft nicht noch weiter absinken sollte. Er konnte sich an Zeiten erinnern, als sie auch mal einen Sieg mit nach Hause gebracht hatten.
„Trotzdem“, griff er das alte Thema wieder auf, „würde es mich freuen, wenn du mal einen Sonntag mit an den Milliken Pond kommen würdest. Der hat zwar keinen irischen Lachs zu bieten, aber er braucht sich trotzdem nicht zu verstecken.“
Er deutete auf ein Foto hinter sich an der Wand, das ihn mit einem großen Fisch im Arm zeigte.
„Ich persönlich mache mir nur was aus Lachs, wenn er vor mir in der Pfanne liegt“, sagte Tommy, „aber ich versuch’s einzurichten. Neben dem Boxen hab ich nicht viel Hobbys.“
Ein einziges Bild in dem Raum zeigte Joe mit seiner verstorbenen Frau, es war ihr Hochzeitsfoto, auf dem sie beide jung und zuversichtlich aussahen. Es gab in ihren Gesichtern weder Zweifel noch den Gedanken an Trennung und Tod. Im Hintergrund standen die feixenden Kollegen der Polizei und Tommy überraschte es nicht, einen sehr jungen Blake zu entdecken. Er sprach Joe darauf an.
„Er ist ein guter Cop, aber er könnte noch besser sein, wenn er nicht bei jeder Gelegenheit so hart durchgreifen würde. Bist du ihm mal begegnet?“
„Einige Male“, sagte Tommy, „man fühlt sich sofort schuldig, wenn er einen nur ansieht.“
Joe erzählte von Douglas und Sarah, die erst nach der Sache mit dem misslungenen Ausflug und einer Blinddarmreizung eine kaum zu ertragende Partnerin geworden war. Douglas hatte ihm diese Geschichte nie erzählt, also holte sein Dad es in allen Einzelheiten nach. Sie waren auf dem Weg nach Bath gewesen, hatten dort für ein langes Wochenende ein Häuschen gemietet. Am ersten Tag war noch alles in Ordnung, aber am nächsten Morgen bekam Sarah furchtbare Bauchschmerzen und Douglas brachte sie ins Krankenhaus. Die Ärzte diagnostizierten eine akute Blinddarmentzündung und ganz nebenbei sagte Sarah, dass sie schon an eine Bauchhöhlenschwangerschaft geglaubt hatte. Sie versuchte seit Monaten schwanger zu werden. Der Arzt machte eine zusätzliche Untersuchung und schlug den beiden die Nachricht ganz nüchtern vor den Latz, dass sie sich eine Schwangerschaft auf natürlichem Wege abschminken könne. Nahezu unmöglich bei ihren Eileitern. Auf diese Nachricht war Sarah nicht vorbereitet, sie konnte mit einer Blinddarmreizung leben, selbst mit einer so schlimmen, dass sie dachte, sie würde vor Schmerzen sterben, aber sie kam mit dem Gedanken nicht klar, niemals Kinder zu bekommen. Es war ein Schlag für sie und sie war nicht in der Lage mit Douglas über ihre Gefühle zu sprechen. Sie tat es als Tatsache ab, die man hinnehmen müsse und verdrängte ihre Verzweiflung darüber. Irgendwann konnte sie sich wohl einreden, niemals einen Kinderwunsch gehabt zu haben, aber ihre wahren Gefühle konnte sie vor sich selbst nicht verbergen. Die Beziehung hätten sie retten können, wenn sie beide in der Lage gewesen wären, über ihre Gefühle zu sprechen. Irgendwann war der Bruch so groß, dass die Lücke nicht mehr zu schließen war und sie bei dem Versuch miteinander zu reden doch nur aneinander vorbeiredeten. Es war zu spät. Die Trennung war nur eine Frage der Zeit gewesen.
„Es tut mir leid für Douglas“, sagte Tommy, „aber wenn eine Beziehung nicht mehr funktioniert, ist es das beste, was man tun kann.“
„Was ist mit dir?“ fragte Joe, „bist du verheiratet gewesen?“
„Ich hab’s nie gewagt. Früher dachte ich, es würde mich einengen und als ich begriffen hatte, dass es nicht so war, war keine mehr da, die mich heiraten wollte.“
„Willst du noch einen Kaffee?“
„Nein“, sagte Tommy, „ich muss gestehen, dass ich mehr der Teetrinker bin und Kaffee trinke ich nur aus Höflichkeit mit.“ Er grinste. „Und eine zweite trinke ich, wenn er gut schmeckt.“
„Teetrinker, he?“ machte Joe freundlich abfällig, als seien Teetrinker in seinen Augen schwule Weichlinge.
„Das ist haften geblieben.“
„Du bist doch mit der Tochter der Salaberrys zusammen. Die das Café aufgemacht hat.“
„Mit Lea, ja. Es läuft ganz gut.“
„Obwohl sich Tee und Kaffee nicht mischen lassen?“
„Ihr Kaffee ist hervorragend.“
„Ich kannte ihren Vater“, sagte Joe, schüttelte den Kopf, „das war ein Herumtreiber vor dem Herrn. Der konnte jedes Rennpferd am Hufschlag erkennen und pickte sich immer die Verlierer heraus. Er war chronisch blank und fand trotzdem immer jemanden, der ihm was pumpte. Es war kein Wunder, dass er sich irgendwann abgesetzt hat, er war kein Familienmensch. Ich hörte, dass er auf einer Bohrinsel arbeitet.“
Es hatte also einen Grund, dass Lea über ihren Vater nicht sprach, es war nicht einfach nur die Tatsache, dass er die Familie verlassen hatte – er war auch schon kein Vater gewesen, als er noch bei ihnen gewesen war.
„Dein Job als PI“, sagte Tommy, „geht’s da auch mal hart zur Sache? Machst du so was noch?“
„Wenn es sein muss, pack ich den Stier auch noch mal bei den Hörnern. Selten, aber es kommt vor. Ich bin noch nicht ganz aus dem Training.“
„Würdest du eine heikle Sache für mich übernehmen?“
„Kommt drauf an.“ Joe erhob sich, schloss die Tür zum Garten, holte auf dem Weg zurück einen Aschenbecher aus dem Bücherregal. Zwar hatte er den Anglerhut und die Gummistiefel ausgezogen, trotzdem machte er in seiner Freizeitkluft noch immer den Eindruck, als sei er der liebenswerte Großvater von nebenan.
„Mach dir endlich ’ne Zigarette an“; sagte er, „und erzähl mir, was los ist.“
„Wenn ich dir davon erzähle, und du den Auftrag nicht übernehmen willst, muss ich dein Wort haben, dass du niemandem davon erzählst. Es ist eine heikle Sache.“
„Wie heikel?“
„Gib mir dein PI-Ehrenwort, dass du schweigen wirst wie ein Grab.“
Joe beobachtete, wie Tommy die Zigarette aus der Schachtel klopfte, sie sich zwischen die Lippen steckte und anzündete. Er machte nicht den Eindruck, als sei er nervös oder unruhig, er brauchte nur eine Zigarette, inhalierte den Qualm und wartete.
„Ich kann schweigen“, sagte Joe, „und jetzt spann mich nicht auf die Folter.“
„Du sollst auf Lea aufpassen. Hab ein Auge auf sie, sobald sie das Haus verlässt und zum Café fährt. Das sollte nicht schwer sein. Ich gebe dir Fotos der Männer, die sich ihr nicht nähern sollen. Wenn sie es tun, überlasse ich dir die Entscheidung, wie du es verhinderst, ohne dich mit den Männern direkt anzulegen. Ich rechne eigentlich nicht damit, dass etwas passiert, aber ich kann besser schlafen, wenn ich sie in Sicherheit weiß. Wenn sie nach Hause fährt, folgst du ihr, bis ich nach Hause komme.“
„Das ist ein Fulltime-Job“, sagte Joe, „Und das ist nicht billig. Wie lange willst du das durchziehen?“
„So lange es sein muss.“
„Wer will Lea etwas antun?“
„Sie wollen mich treffen und benutzen sie dazu. Einmal haben sie es schon geschafft. Beim nächsten Mal sieht es vielleicht nicht mehr so harmlos aus.“
„Wer ist hinter dir her?“
„Erst muss ich von dir wissen, ob du den Auftrag annimmst.“
„Ich muss es mir noch durch den Kopf gehen lassen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“
Er macht eine Pause.
„Hauptsächlich frage ich mich, weshalb du damit nicht zur Polizei gehst. Das kann nur bedeuten, dass du Dreck am Stecken hast. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, so wie ich dich einschätze, dass es etwas mit illegalen Geschäften zu tun hat. Hast du Schulden? Hast du Geschäftspartner übers Ohr gehauen?“
„Wirst du Lea beschützen?“
„Für drei Tage auf Probe. Wenn mir die Sache zu heikel wird, steig ich aus, ansonsten ziehe ich es bis zum Schluss durch.“
„Dann sind wir im Geschäft.“
„Wo liegt dein Problem?“
„Sagen wir, ich habe Dinge getan, die ich nicht mehr rückgängig machen kann. Wenn irgendjemand davon erfährt, bin ich geliefert.“
Joe stand erneut auf, holte zwei Drinks aus der Küche.
„Kein Alkohol“, erklärte er, „nur etwas Orangensaft, um die Kehle anzufeuchten. Nimm das Glas, Tommy, in meinem ist ein guter Schuss Wodka drin.“
Es wurde ungemütlich an dem Tisch, deshalb feuerte Joe den Kamin im Wohnzimmer an und sie wechselten in die rot bezogenen Sessel. Tommy hatte ständig den Zeitdruck im Hinterkopf, aber er konnte jetzt nicht einfach aussteigen. Joe wäre eine große Hilfe in seiner Sache und um ihn für sich zu gewinnen, musste er Opfer bringen – Zeit und Informationen.
„Du hast etwas getan, wovon selbst Lea keine Ahnung hat.“
„Ich tu alles, damit sie es nicht erfährt.“
„Hat es was mit deiner alten Heimat zu tun?“
Es war nur Orangensaft, trotzdem hatte Tommy das Gefühl, sein Kopf würde etwas leichter werden während er trank. Entweder war es Alkohol oder leichte Panik, die in seinem Kopf tobte.
„Ich weiß nicht, ob ich darauf antworten kann.“
„Wirst du müssen, wenn du willst, dass ich für dich arbeite.“
„Okay. Es waren andere Zeiten damals, man kann Nordirland nicht mit irgendeinem anderen Land vergleichen. Ich bin schon lange von dort weg, aber es verfolgt mich noch immer.“
„Auf welcher Seite hast du gestanden? Auf der Orangen oder auf der Grünen?“
„Spielt das eine Rolle?“
„Für mich ist das der entscheidende Punkt für meine Entscheidung, ob ich dein Geld annehme.“
Tommy wollte ihm diese Frage nicht beantworten. Er saß einem Ex-Cop gegenüber, der in seinem Leben viel gesehen hatte, seine Entscheidungen hatte treffen müssen, der sich trotz allem den klaren Blick bewahrt hatte. Cops waren gute Menschenkenner. Sie hatten gelernt, sehr genau zu beobachten und ihre Schlüsse daraus zu ziehen. Schlimmer noch war die Tatsache, dass Joe Ford offensichtlich eine Ahnung hatte, was auf der anderen Seite des Atlantiks vor sich ging.
„Ich war aktiv auf der grünen Seite“, sagte Tommy endlich, „hat wohl keinen Sinn, dir Lügen aufzutischen darüber. Bei Lea hat die Ausrede ja noch gezogen, dass ich in Maze nur zur U-Haft gesessen habe und sie hat über meine weiteren Aktivitäten nicht wirklich nachgefragt. Wenn man sich nie Gedanken darüber gemacht hat, ist es wohl genauso weit weg wie einer der vielen Bürgerkriege in Afrika. Ich bin dort aufgewachsen und habe dort gelebt. Ich habe getan, was ich tun musste.“
„Was wollen die Männer von dir?“
„Das weiß ich nicht. Wenn sie mich nur kalt machen wollten, hätten sie längst Gelegenheit dazu gehabt. Ich kann nicht sagen, was sie wirklich von mir wollen, aber das finde ich noch raus.“
„Ich helfe dir“, sagte Joe. Begeistert klang er nicht, eher schien er sich Sorgen zu machen.
„Bring mir die Fotos“, fuhr er fort, „ich seh mir die Typen an, vielleicht bekomme ich noch etwas über sie heraus, was dir hilft. Zwar kann ich nicht behaupten, dass ich Verständnis für diese Dinge habe, aber ich bin dabei, weil ich der Überzeugung bin, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Wann soll die Aktion starten?“

Zurück in Lewiston dachte er darüber nach, dass er eine zweite Chance bekommen, sie aber vielleicht nicht verdient hatte. Er traf Larry Johnson Schwester, die unermüdlich mit ihrem Fahrrad unterwegs war, rollte ein Stück neben ihr her, bis sie ihr Rad anhielt, ihr Kopftuch zurecht zupfte und einen prüfenden Blick in den bedeckten Himmel warf.
„Erwarten sie Regen?“ rief Tommy. Er hatte das Fenster auf der Beifahrerseite runtergekurbelt, neben ihr angehalten. Er war so spät dran, dass es auf die zehn Minuten nicht ankam, die er mit Alice verquatschte.
„Es bleibt trocken heute“, rief Alice, „aber der Wind geht recht scharf. Hindert mich aber nicht daran, mein Pensum zu schaffen.“
Sie entdeckte das Paket auf dem Beifahrersitz.
„Ein großes Geschenk für ihre Frau“, vermutete sie laut, „da hat wohl jemand etwas wieder gut zu machen.“ Sie zwinkerte und kicherte vergnügt, als Tommy sichtlich mühsam nach einer Ausrede suchte. Sie nahm gerne die Leute auf den Arm. Das war auch etwas, was Larry an seiner Schwester extrem peinlich war.
„Es ist für ihren Großvater. Er wird achtzig und wir sind eingeladen.“
Er fuhr Alice davon, hatte den Motor laufen gelassen, und sah sie im Rückspiegel verschwinden. Während der Fahrt griff er nach der Wasserflasche, die er auf dem Beifahrersitz liegen hatte, fabrizierte einen heftigen Schlenker in Richtung Straßengraben, den er im letzten Moment wieder abfing. Er trank während der Fahrt, lenkte den Wagen mit einer Hand weiter. Letztes Jahr war er fast mit einem Elch zusammengestoßen, als er auf dieser Strecke unterwegs gewesen war. Der Elchbulle hatte im abendlichen Dämmerlicht plötzlich auf der Straße gestanden; er hatte scharf abgebremst und war nur Meter vor dem Tier zum Stehen gekommen. Kollisionen mit Elchen waren keine Seltenheit in Maine, häufig endeten sie tödlich für die Insassen der Wagen, fast immer jedoch für die Tiere. Im Scheinwerferlicht des Nissans hatte der Bulle einmal geschnaubt und war behäbig zurück in den Wald getrabt. Tommy war in seinem Wagen sitzen geblieben, mit rasendem Herzen und noch immer geschockt darüber, wie knapp er der Katastrophe entronnen war. Erst Tage später hatte er Lea von dem Beinaheunfall erzählt und gesagt, dass es auch etwas positives gehabt hätte, wenn der Elch bei ihm auf dem Beifahrersitz gelandet wäre; die Katzen hätten bis an ihr Lebensende etwas zu fressen gehabt. In Maine gab es das seltsame Gesetz, dass man Anspruch auf große Wildtiere hatte, die man mit seinem Wagen erlegte.
„Wer kommt auf so eine Idee?“ hatte Tommy gefragt, als er davon erfahren hatte und Lea hatte achselzuckend geantwortet, dass daran vermutlich ein Jäger Schuld war, der seine Jagdlizenz verloren und den nächstbesten Elch einfach mit seinem Pick-up überfahren hatte.
Immer, wenn er diese Strecke in diese Richtung fuhr, musste er an den Elch denken.
Joe wird mir dabei helfen, dachte er, und wenn ich Lea bei ihm in Sicherheit weiß, kann ich mich ganz auf die eigene Sache konzentrieren. Es ist nur eine verdammt heiße Kiste, dass er Ehrlichkeit von mir verlangt und auch noch Ahnung davon hat, was in Nordirland abgeht. Wieso hat Douglas mir nie erzählt, dass sein Vater einer von der Sorte der intellektuellen Amerikanern ist? Der sich so verdammt genau auskennt in der Weltgeschichte.
Er kam nach Hause, zog sich in der Mudcorner die Schuhe aus, als er sich setzte, stieß wieder die Waffe in seiner Jackentasche auf die Stuhllehne. Joe Ford hatte es sich nicht anmerken lassen, aber er hatte es mit Sicherheit bemerkt.
„Der Kampf der unterdrückten Minderheit“, hatte er gesagt, „das kann ich nachvollziehen, wenn ich auch nicht die Methoden für gut heißen kann.“
„Ich werde mich nur verteidigen, aber das mit allen Mitteln. Wenn sie mich angreifen, sind sie erledigt“, hatte er erwidert.
Irgendwo aus dem Haus rief Lea: „Was hat dich denn so lange aufgehalten?“
Tommy hielt inne, sah auf seine Schuhe herunter. Er hätte lügen können, aber in Lügen verstrickte man sich irgendwann, besonders bei diesen kleinen beiläufigen Heimlichkeiten. Er hob den Kopf und rief: „Ich hab den alten Joe Ford getroffen.“
„Douglas’ Vater? Wie geht’s ihm?“
„Richtig gut. Wir haben uns lange unterhalten, bei ihm noch was getrunken. Ich glaube, wenn ich am Wochenende mit ihm angeln gehe, adoptiert er mich.“
Sie lachte. Dem Klang nach zu urteilen war sie in der Küche. Er ging ins Schlafzimmer, an den Füßen nur die dicken Socken, zog die Jacke aus, legte die Waffe im Schrank unter einen Stapel karierter Hemden aus Baumwolle, die er nie trug. Er schob sie ganz nach hinten in dem oberen Fach, wo Lea schon wegen ihrer Größe nicht hinreichen konnte. Umgezogen und mit dem Geschenkkarton unter dem Arm begrüßte er sie in der Küche.
„Da hat jemand für dich angerufen.“
„Wer war’s denn? Auf Mobil hat mich keiner erreicht.“
„Den Namen hab ich vergessen, aber ich hab’s aufgeschrieben. Am Küchenblock. Er sagte, er sei ein Freund aus Boston.“
Tommy wünschte sich plötzlich, es gäbe einen Freund in Boston, der ihn hätte anrufen können, jemanden, der wusste, dass er in Lewiston war, sich ab und zu meldete und an Geburtstagen eine Karte schrieb. Aber in Boston hatte er keine Freunde, weder neue noch alte, und der Name, den Lea aufgeschrieben hatte, war eine reichlich freche Anspielung; und Patrick O’Brien hatte auch keine Telefonnummer hinterlassen, wo er ihn hätte zurückrufen können.
„Was hat Paddy gesagt?“
Lea musste überlegen, kam zu ihm hinüber in die Küche, der augenblicklich so tat, als sei er beschäftigt und als habe er nicht wie ein gehirn-gelähmter Idiot auf die Telefonnotiz gestarrt. Sie lehnte sich an den Küchenschrank, machte mit dem rechten Zeigefinger eine tippende Bewegung in die Luft.
„Viel hat er nicht gesagt. Hat mich etwas gewundert, weil er meinte, er wolle nur mal wieder mit dir quatschen und dann hatte er plötzlich doch keine Zeit mehr. War ihm vermutlich unangenehm, mit mir zu reden.“
„Nein“, sagte Tommy, „das war es ihm nicht. Ich werde ihn morgen anrufen, wenn ich Zeit habe. Ich nehme an, dass er nur befürchtet hat, du könntest ihm Fragen stellen. Als ich ihn kannte, war er im Schmuggelgeschäft.“
„Danach hätte ich ihn bestimmt nicht gefragt.“
Minuten später hatte sie es vergessen, konzentrierte sich wieder auf das Essen und wollte unbedingt wissen, was er für ihren Großvater gekauft und wie viel Geld er ausgegeben hatte.
„Du kannst das Paket aufmachen.“
„Dann muss ich’s aber neu einpacken.“
„Ich verrate dir nicht, was drin ist.“
Nach dem Abwasch siegte die Neugierde und während sie die Schleife um den Karton aufschnitt, sagte Tommy: „Wenn es dir nicht gefällt, fahr ich noch mal hin und tausche es um.“
Die Mütze gefiel ihr. Sie war begeistert und sagte, sie könne sich die wildesten Geschichten vorstellen, die diese Mütze erlebt haben musste. Beim Wiedereinpacken gab sie sich Mühe, aber sie bekam die verkürzte Schleife nicht mehr so dekorativ gebunden. Den Rest des Abends verbrachten sie vor dem Fernseher, der endlich repariert zurück war. Zwar flackerte das Bild die ersten paar Minuten, aber endlich konnte Lea sich wieder die Serien ansehen, mit denen sie sich das Gehirn verkleisterte.
„Das wird ’ne Plackerei nächste Woche“, sagte sie, „aber ich freu mich schon darauf.“

Tommy schlief schlecht. Er träumte von Kieran, der ganz überraschend in Old Orchard Beach auftauchte, angezogen wie damals in Belfast und genauso jung aussehend. Allerdings war an seiner Schläfe die furchtbare Narbe zu sehen, wo sie ihm den Schädel aufgemacht hatten, um nach der Kugel zu stochern. Tommy erschauderte, als er die Schläfe sah; das Haar war kürzer und grauer an der Stelle und er hörte Kieran sagen, dass es gar nicht so schlimm sei mit der Kugel. Diese Bastarde, die auf ihn geschossen hatten, seien dumm genug gewesen, um zu glauben, dass eine Kugel reichen würde, um ihn zu erledigen.
‚Ich muss dich wegen Darren sprechen’, sagte Tommy im Traum, aber sein alter Kumpel hörte ihm nicht zu. Vielleicht hatte er das laute Rauschen der Brandung in den Ohren. Er sagte nur: ‚Darren ist ein glücklicher Junge. Ich hab ihm das Pony gekauft.’
Tommy blinzelte sich wach, stieg aus dem Bett und wanderte durch das Haus.
Früher hatte ich nie solche Träume, unglaublich. Und dabei hätte ich allen Grund dazu gehabt. Vielleicht war ich auch nur zu beschäftigt, um das alles an mich rankommen zu lassen.
Unterwegs störte er die Katzen, die mit irgendetwas beschäftigt waren, was nur nachtaktive Raubtiere zu schätzen wussten, stand lange an der Terrassentür und sah hinaus. Im nächtlichen Garten war nichts zu erkennen und die Geräusche, die ihn immer wieder zusammenzucken ließen, kamen von den Katzen.
Montag muss Joe mit seinem Auftrag beginnen, dachte er, und ich werde mich um Terry kümmern. Er wird sich wünschen, niemals diese Nummer gewählt zu haben.

Großvater Ira, dachte Tommy, ich glaube nicht, dass ich jemals so von ihm sprechen werde.
Trotz allem musste er noch einmal nach Old Orchard Beach. Die endgültige Abwicklung des Geschäfts konnte er unmöglich am Telefon erledigen. Vorher musste er noch zur Bank, um Geld von dem Konto zu holen, von dem Lea nichts wusste. Es war seine eiserne Reserve, die noch bis in die ersten Jahre seiner Zeit in den Staaten zurückreichte. Seit er nahezu sesshaft geworden war, hatte er das Konto nicht angerührt, das Geld lag seit Jahren schlafend auf diesem Konto. Er verdiente zwar kein Supergeld im College, aber er kam damit zurecht. Er konnte sparsam leben, wenn es sein musste. Er konnte sich mit dem Essen und der Kleidung einschränken, mit den restlichen Dingen sowieso. Viel Geld von Freunden und Kollegen hatte er nur gebraucht, um von der Insel wegzukommen. Als Lea am Montag morgen in den Cherokee stieg, um ins Café zu fahren, als sie ihm zum Abschied einen dicken Kuss aufdrückte, dachte er daran, wie phantastisch es alles hätte sein können. Sein Leben mit ihr war ein einziger Traum, sie fanden immer wieder zueinander und bei allen noch so eingefahrenen Gewohnheiten war ihre Beziehung alles andere als langweilig oder nervenaufreibend. Er wusste nicht genau, weshalb er gerade darüber so intensiv nachdachte, als er nach Old Orchard Beach fuhr, es war wohl die klare Schlussfolgerung, dass Lea ihm den Laufpass geben würde, sollte sie etwas von dieser Überwachungsgeschichte erfahren.
Darüber sprach er mit Joe Ford, als sie in dessen Büro zusammen saßen.
„Sie hat keine Ahnung?“
„Nicht die geringste. Und sie darf davon auch nichts erfahren. Ich setze alles aufs Spiel, nur, dass ich in Lewiston bleiben kann.“
„Ich bin bereit, Tommy. Ich hab ein waches Auge auf Lea oder auf diese Kerle, die dir auf die Pelle rücken.“
„Mit denen legst du dich nicht an. Die übernehme ich. Wenn die aus der Ecke sind, die ich vermute, sind die eine Nummer zu groß für dich.“
Er bemerkte sofort, dass er mit dieser Äußerung Joe Ford in seiner Ehre gekränkt hatte, schob eine Erklärung hinterher, die sich aber selbst in seinen Ohren schwach anhörte. Hätte ihm jemand so etwas gesagt, wäre er vermutlich genauso beleidigt gewesen.
„Joe“, sagte er, drückte an der krummen Zigarette herum, die in der Packung gelitten und die er noch nicht angezündet hatte, „ich hatte oft mit diesen Männern zu tun und meist war es pures Glück, dass ich ihnen entkommen bin. Wenn dir die Sache in Gibraltar etwas sagt, muss ich es nicht weiter ausbreiten. Sie sind an keine Gesetze gebunden in ihren Aktionen, weder auf der Insel noch sonst wo. Deshalb ist das eine verdammt heikle Kiste. Sie dürfen dich wahrnehmen, wenn du auf Lea aufpasst, aber sie dürfen dich nicht als Gefahr sehen. Ich will nicht, dass du ein Risiko eingehst.“ Er versuchte ein Grinsen. „Dafür bezahle ich dir zu wenig.“
Joe schien besänftigt, die erste Rate des Geldes wurde über den Tisch geschoben.
„Was ist mit den Fotos?“ fragte er. Von Spike hatte Tommy sich eine Digitalkamera ausgeliehen, sie sich grob erklären lassen und hatte sich damit auf die Lauer gelegt. So eine Kamera war etwas feines, besonders die Tatsache, dass man keinen Film ins Labor geben musste, um ihn entwickeln zu lassen. Die Fotos druckte er auf Leas Drucker aus, während sie im Café arbeitete.
„Das hier ist Terry“, sagte er, „er hat über David zu mir Kontakt aufgenommen. Er ist der Frontmann der drei. Er hat nicht die Entscheidungsgewalt, aber ihn werden sie losschicken, um es zu erledigen.“
„Was auch immer zu erledigen ist“, mutmaßte Joe und Tommy machte eine bedauernd-absegnende Geste.

Bislang hatten sich Tommys Urlaubsaktivitäten darauf beschränkt, das Haus auszubessern, an dem immer irgendetwas kaputt ging, Besorgungen für Lea zu erledigen und ansonsten die meisten Zeit zu schlafen. Selten war er in seinem Urlaub vor elf Uhr aufgestanden, aber dieses Mal konnte er sich das nicht leisten. Um Lea nicht misstrauisch werden zu lassen, wartete er nur darauf, dass sie das Haus verlassen hatte, um dann selbst in die Klamotten zu steigen und wegzufahren. Selbst für ein Frühstück war keine Zeit. Er bezog seine Stellung vor dem Haus, in dem Terry und die beiden anderen wohnten, beobachtete und wusste genau, dass er auch beobachtet wurde. Verließen sie das Haus, folgte er nur Terry, der entweder einkaufen oder zur Tankstelle fuhr. Wenn Terry ihn abschüttelte, trank er irgendwo einen Kaffee und kehrte zu seinem Posten vor dem Haus zurück. Oft wurde er von Passanten angesprochen, die ihn vom College oder aus der Nachbarschaft kannten und dann plauderte er gut gelaunt mit ihnen; er wusste genau, wann Lea nach Hause fuhr, denn dann meldete sich Joe bei ihm und gab seinen Bericht durch. Die erste Zeit, genau bis zu dem Geburtstagsfest von Ira Salaberry, blieb alles ruhig und überschaubar.

Spike machte sich seine eigenen Gedanken. Inzwischen hatte er so viel Bildmaterial, dass er daraus einen Dokumentarfilm hätte machen können. Es machte ihn stutzig, dass David jedes Interesse am Videoclub verloren hatte und ihm sein Budengenosse verriet, er spiele mit dem Gedanken, nach den Weihnachtsferien nicht wiederzukommen. David direkt danach zu fragen hatte keinen Sinn – er hatte es versucht und war aufgelaufen wie die Titanic am festen Aggregatzustand. Beim allgemeinen Surfen im Internet kam er irgendwann auf die Idee, nach Tommy Gallagher zu suchen. Vielleicht fand er irgendwelche öffentliche Dokumente, aus denen er zusammen mit seinem eigenen Material einen Film machen konnte. Er suchte stundenlang, bis er zu der Überzeugung kam, dass Tommy vor seiner Einwanderung in die USA nicht existiert hatte. Schließlich wollte er es mit allgemeinen Informationen über Irland versuchen und ging dafür an einen Ort, den er sonst mied wie der Teufel das Weihwasser. In die Bibliothek.

Lea schaffte es nicht, Tommy aus gegebenem Anlass zu einem Anzug zu überreden, bekam von ihm nur zu hören, dass es ein Geburtstag und keine Beerdigung sei und es eine einfache Hose und ein Pullover auch taten. Er war stur wie ein Esel und deshalb gab sie es auf. Fast hätte sie eine Reisetasche gepackt, für alle Fälle, falls sie zum übernachten gezwungen waren, aber da Tommy vor hatte, selbst im nächtlichen Schneesturm nach Lewiston zurückzufahren, und ihr das auch sehr deutlich sagte, erwiderte sie nur, er würde schon sehen, was er davon hatte, wenn er unterwegs Kleidung zum wechseln brauchte und sie nicht hatte.
Lea sagte an diesem Morgen zum hundertsten Mal, dass sie nicht zu spät kommen dürften – selbst, als sie bereits im Cherokee saßen und Richtung Interstate fuhren.
„Wie kann man zu spät kommen, wenn auf einer Einladung keine Uhrzeit steht?“
„Bei den Salaberrys ist es üblich, pünktlich zum Mittagessen zu erscheinen und das heißt ein Uhr.“
„Das schaffen wir ganz locker.“ Tommy saß am Steuer, weil Lea entschieden zu nervös war und sich außerdem mit der Straßenkarte und den Schleichwegen besser auskannte. Sie waren eine halbe Stunde unterwegs, als ihr Mobil klingelte, was sie ganz unten in ihre Handtasche gesteckt hatte. Das nervige Klingeln wurde immer lauter, Lea beugte sich zwischen ihre Knie, wühlte in der Tasche, die sie in den Fußraum gestellt hatte. Endlich konnte sie das Gespräch entgegennehmen, versuchte dabei im Sitzen ihren Rock wieder zurechtzuziehen.
„Ja?“ sagte sie, „nein, wir sind unterwegs. Wir sind auf jeden Fall pünktlich. Wenn uns nicht gerade ein Elch vor den Kühler springt. Das war ein Scherz, Mom. Es wird schon nichts passieren. Seid ihr schon da? Ja, gut. Nein, das macht nichts. Sag Pop, dass wir zum essen da sind.“
Sie schaltete das Mobil aus, warf es in die Tasche zurück.
„Und jetzt“, sagte sie, „konzentrieren wir uns nur noch auf die Fahrt.“
„Na hoffentlich“, murmelte Tommy. Er hatte keinen blassen Schimmer, weshalb Lea wegen eines achtzigsten Geburtstag so außer Rand und Band war. Er folgte ihren Anweisungen, die Interstate zu verlassen, hatte dabei plötzlich wieder vor Augen, wie die wirklich großen Familienfeste in Belfast abgelaufen waren. Pünktlich war dort niemand gewesen und im eigenen Haus hatte auch niemand feiern können, weil niemand ein eigenes Haus hatte. Die grauen trostlosen Wohnungen waren zu klein, um zum feiern herhalten zu können, man legte eher Wert darauf, dass ein ordentliches Papstbild im Wohnzimmer hing, als die Wohnungen in Schuss zu halten. Aus diesen Gründen traf man sich zu allen Anlässen im Pub, wo man ohne Probleme alte Feindschaften auffrischen und neue Freundschaften schließen konnte. Väter versuchten ihre Kinder zu verkuppeln, kamen dann im Laufe des Abends und nach unzähligen geleerten Gläsern doch zu der Überzeugung, dass die undankbaren Ableger der Mühe nicht wert waren. Kurz vor der Vergiftungsgrenze bekamen sie sich darüber in die Haare, wer nun für wen eigentlich zu schade zum heiraten war. Man stritt sich über alles, außer über Politik und Religion. Davon fing niemand an. Diese Feste waren ganz eng mit Alkohol, Tanz und Musik verbunden, mit Fish’n Chips, um den Hunger zu stillen, der nach der Sperrstunde abgeschlossenen Vordertür und dem Gardai, der nur deshalb nicht alle festnahm, die besoffen in ihren Wagen steigen wollten, weil er selbst besinnungslos gesoffen unter dem Tisch lag. Leider hatten sie öfters Totenwachen gehalten als Geburtstage und Hochzeiten gefiert und an diese Tatsache konnte auch der verklärende Blick durch die Sentimentalitätsbrille nichts ändern. Tommy konnte nur hoffen, dass es bei den Salaberrys nicht allzu steif zuging. Oder unfreundlich.
„Da vorne rechts“, sagte Lea, faltete den Straßenplan neu zusammen, „und dann auf die 202. Da hat übrigens mal eine Papierfabrik gestanden, so ungefähr vor fünfzig Jahren. Als die Bankrott ging, hat sie ein Schwager aufgekauft und wollte auf dem Gelände ein Hotel aufziehen. Er hatte schon alles hochgezogen, sich in Schulden gestürzt und gearbeitet wie ein Tier, bis ihn eine Woche vor der Eröffnung jemand fragte, ob die Bodenproben wirklich in Ordnung gewesen seien. Welche Bodenproben? Er hatte keine Ahnung, was mit dem Gelände nicht in Ordnung sein sollte. Aber in einer Papierfabrik werden auch viele Chemikalien benutzt und genau die hat man in teuflischen Dosen auf dem ganzen Gelände gefunden. Im Boden und im Wasser. Das Hotel ist schon vor seiner Eröffnung den Bach runter gegangen. Und der Mann hat auf einem Schuldenberg gesessen, den er nie abbezahlen konnte.“
„Was hat er gemacht?“
Von dem Hotel war auf dem Brachgelände nichts mehr zu sehen, selbst der Absperrzaun war schief und rostig. Lea machte eine Geste, die Tommy als Gottesergebenheit deutete.
„Er hat die Schuld auf sich genommen und ist ins Ausland verschwunden. Vermutlich nach Südamerika, das weiß keiner genau. Das Gelände gehört der Bank, die es allerdings auch nicht gebrauchen kann.“
„Ein verdammt herber Schlag.“
„Er hätte es besser wissen müssen.“
„Was hättest du gemacht, wenn das Café ein Reinfall gewesen wäre?“
„Ich hab gewusst, dass es ein Erfolg wird“, erwiderte sie.
Nachdem sie aus Bequemlichkeit von der 202 bei Gardiner auf die 95 Richtung Waterville gewechselt hatten, um schneller voran zu kommen, mussten sie direkt hinter Fairfield die Richtung ändern und der 201 nach Skowhegan folgen. Es war eine nette Strecke zu fahren, die ländliche Gegend war durchzogen von kleinen Seen und Wäldern, die sich jetzt im Herbst feuerrot, orange, gelb und braun färbten. Sie hätten Madison auch über den Osten und über die 2 erreicht, aber sie wären länger unterwegs gewesen. So weit nördlich in Somerset begannen bereits die Berge und die Skigebiete waren ganz in der Nähe. Pop Salaberrys Haus lag auf einem Hügel, zu dem nur eine einzige schmale Straße führte, die so schmal war, dass man sie nur in eine Richtung befahren konnte. Sei schlängelte sich durch einen Wald, bis sie weiter oben in eine weitläufige Lichtung führte. Das Haus, dreimal so groß wie Leas Heim, war alt und renovierungsbedürftig, aber unvergleichlich beeindruckend.
„Der alte Mann hockt auf seinem Geld“, sagte Lea, „aber was soll’s. Noch hält die Familie zusammen, aber das wird sich ändern, wenn er einmal unter der Erde liegt.“
Wenn’s dran geht, den Kuchen aufzuteilen, dachte Tommy, dann werden sie alle wieder da sein.
Er gönnte Pop Salaberry, dass er noch zwanzig Jahre leben mochte, aber diese Meinung teilten vermutlich nicht alle.
„War er nett zu dir, als du ein Kind warst?“
„Er ist auch heute noch nett zu mir. Vielleicht ist er das aber auch nur, weil er weiß, dass ich nicht auf sein Erbe spekuliere, und nicht, weil er mich mag.“
Je näher sie heranrollten, desto beeindruckender wurde das Haus, zwei Etagen mit einem hohen Giebeldach und schmalen hohen Fenstern. Die Fassade war weiß und hellblau gestrichen, umgeben von alten Kastanien. Die Fensterläden waren alle geöffnet. Sollte der Kiesweg der Auffahrt ordentlich geharkt worden sein, so war davon nichts mehr zu sehen – es war alles zugeparkt. Tommy quetschte den Cherokee zwischen einen Mercedes und einen schief eingeparkten Volkswagen. Auf Leas Seite war so wenig Platz, dass sie zur anderen Seite rüberrutschen musste, um auszusteigen.
„Soll ich dir helfen?“
„Nein, pack lieber die Tasche vom Rücksitz. Meine Jacke liegt da auch irgendwo.“
Er beobachtete sie mit einem heimlichen Grinsen, wie sie wenig damenhaft und mit immer höher rutschendem Rock durch den Innenraum des Wagens kletterte. Weiter vorn in der Reihe der geparkten Autos stieg eine Familie mit zwei Kindern aus einem Combi, diskutierten mit schnappenden Stimmen und bissigen Bemerkungen darüber, ob man erst zur Begrüßung ins Haus oder erst den Wagen ordentlich parken sollte. Der Junge, noch nicht im Schulalter, rannte ein Stück über den Kies Richtung Rosenbeet, sichtlich auf der Flucht vor seiner Schwester, die ihm den Kragen des albernen Anzugs richten wollte, stolperte und legte sich auf die Nase. Er brüllte wie am Spieß, obwohl er sich nicht sehr wehgetan haben konnte, wurde von seiner Schwester in den Arm genommen und getröstet. Tommy hielt Leas Tasche und Winterjacke im Arm, drehte den Kopf zu der Familie hinüber. Die Eltern, voll damit beschäftigt, einen Haufen Geschenke und Taschen aus dem Stauraum zu packen, ignorierten die Kinder. Sie hätten ebenso über den Zufahrtsweg in den Wald verschwinden können, sie hätten es vermutlich erst bei der Abreise gemerkt, dass etwas fehlte. Der Junge hatte sich wieder beruhigt, ließ sich von seiner Schwester die Nase putzen und endlich den Kragen richten. Sie marschierten Hand in Hand zum Eingang des Hauses hinüber. Lea brachte gerade ihren Rock wieder in Ordnung, schlug die Wagentür zu und gab Tommy die Wagenschlüssel, weil sie keine Taschen an der leichten Jacke hatte.
„Hallo“, rief sie, die Kinder blieben bei ihr stehen, sahen Tommy fast ängstlich an.
„Shelley und der kleine Robby. Ihr habt eine ganz schön lange Autofahrt hinter euch, was?“
Sie winkte zur Mutter hinüber, bekam eine reservierte Geste als Antwort.
„Das ist Tommy.“ Sie beugte sich zum kleinen Robby herunter, dem Mommy die Haare mit Gel an den Kopf geklatscht hatte, dass er aussah wie Alfalfa.
„Sieh ihn dir gut an“, flüsterte sie, „sei froh, dass du noch so schöne Haare hast. Wenn du einmal groß bist, siehst du ganz schnell so aus.“
Der Kleine sah ungläubig zu Tommy hinauf, kurz davor in Tränen auszubrechen, weil er doch nicht so aussehen wollte, aber schon lachte er wieder, als Lea ihm in die Seite kniff.
„Ich hab dich doch bloß auf den Arm genommen“, sagte Lea, stand auf und sah den Eltern entgegen, die bepackt wie die Esel auf sie zukamen.
„Lea“, sagte die Frau, „schön dich zu sehen.“
„Hallo Tante Rhetta.“ Sie begrüßte den Mann als Onkel Jules, der sich ein gequältes Lächeln abrang. Tommy war neben dem Cherokee etwas im Hintergrund geblieben, sah in seinem hellen langen Regenmantel und halb hinter dem Wagen versteckt nicht ganz so groß und breit aus – er grüßte Leas Verwandtschaft mit einem Nicken. Tante Rhetta musterte Lea sehr deutlich.
„Schön, dass du pünktlich bist“, sagte sie, „aber wie ich sehe, hast du deine Kurzhaarphase noch immer nicht überwunden. Ich hätte angenommen, dass du längst darüber hinweg wärst.“
Lea lächelte und verkniff sich mühsam eine Bemerkung, die zwar schlagfertig gewesen wäre, sie aber mal wieder als unfreundliche Zicke dargestellt hätte. Deshalb sagte sie lieber nichts. Onkel Jules fragte, wer sie begleitete und sie stellte Tommy vor. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, setzte sie hinzu, dass er ihr Freund war. Die Kinder zerrten sich gegenseitig zur Haustür, weil sie endlich etwas zu essen haben wollten. Obwohl Rhetta die beiden piekfein angezogen hatte, würden die Kinder sich sofort komplett einsauen, wenn sie mit den anderen durch den Garten tobten. Sie ließen Kinder und Eltern vorgehen, Lea hakte sich bei Tommy ein und murmelte ihm zu, dass diese blöde Hexe sich sicher geärgert hatte, ihnen eigentlich besten Spruch nicht hatte anbringen können.
„Welchen Spruch?“ fragte Tommy und sie antwortete, ahmte dabei die Stimme ihrer Tante nach: „Wenn du mit einer Jungenfrisur herumläufst, Calista Salaberry, wirst du niemals einen Mann finden.“
Sie hasste ihren richtigen Vornamen, konnte sich nicht daran gewöhnen, so angesprochen zu werden. Einige der alten Tanten, die jeder insgeheim nur die Drachen nannte, riefen sie mit eiserner Starrsinnigkeit Calista. Sie betraten das Haus. In der großen steingefliesten Halle kamen ihnen zwei braune zottige Hunde entgegen, rutschten über den glatten Boden in die Ecke, wo sie sich zu balgen begannen. Das ganze Haus war von Rumoren und Stimmen erfüllt, sie landeten mitten in einen summenden Bienenstock. Neben dem Eingang öffnete Lea eine Tür, hinter der eine kleine Kammer lag und wo sie ihre Mäntel ablegen konnten. Die Garderobe war längst überfüllt. Im Speisezimmer, dem Tanzsaal des Hauses, waren lange Tischreihen geschmückt mit Bändern und Blumenbuketts aufgebaut, am quer stehenden Kopftisch würde Ira das Geburtstagskind Platz nehmen. Sie kamen herein und störten zwei sehr beschäftigte Frauen, die noch mit der Sitzordnung beschäftigt waren.
„Wo sind denn die Stühle?“ fragte Tommy und die Frau in rosa Tüll und weißen flachen Schuhen drehte sich zu ihm um und schnappte: „Dafür sind wir nicht zuständig. Das macht Margret, aber die ist noch in der Küche beschäftigt.“
„Ab in die Küche“, sagte Lea, „ich brauch einen Kaffee.“
In der großen Küche hatten sich bereits fast alle Gäste versammelt, es roch nach scharfen Gewürzen, Wein und Kaffee, Lea und Tommy wurden stürmisch begrüßt, mussten mit ihren Kaffees auf der Treppe neben der Küche Platz nehmen, weil die Stühle noch fehlten, ebenso wie im Tanzsaal. Lea versuchte, die herumschwirrenden Verwandten und Verschwägerten vorzustellen, aber Tommy warf Namen und Gesichter sofort wieder durcheinander.
„Es geht alles etwas chaotischer zu, als ich es mir vorgestellt hatte“, sagte Tommy.
„Das ist der italienische Einschlag“, sagte eine spöttische Stimme hinter ihnen.
„Hallo Boyd“, sagte Lea, „wann haben sie die Quarantäne aufgehoben?“
„Aufgehoben?“ erwiderte Boyd, „Ich bin getürmt.“ Er trank Rotwein aus seiner henkellosen Kaffeetasse, trug einen dunkelgrünen Samtanzug und ein weißes Rüschenhemd. Mit seinem blonden Lockenkopf sah er aus wie ein Engel auf Speed und auch sein Kichern hörte sich danach an. Tommy hielt es für einen Scherz, wagte aber trotzdem die Frage zu stellen, ob es denn etwas war, was sich über die Luft übertrug und Boyd sagte: „Nee, nur beim knutschen“, und er vergaß das ganze wieder. Das halbe Dutzend aufgemoppter Frauen lieferten sich einen erbarmungslosen Kampf in der Küche. Es wurde darüber gestritten, wer welche Vorspeise mitgebracht hatte, obwohl sie sich um den Nachtisch hatte kümmern sollen, wie es passieren konnte, dass sie jetzt auf zehn Kilo Süßkartoffeln saßen und wieso Margret sich noch immer nicht um die Bestuhlung kümmerte. Jemand ließ einen ganzen Stapel Teller fallen und brach darüber in verzweifeltes Weinen aus.
„Wo steckt Ira?“ fragte Lea, „hält er noch sein Nickerchen?“
„Bei dem Krach im Haus?“
„Er schaltet sein Hörgerät aus.“
„Ich war kurz bei ihm oben, als ich heute morgen angekommen bin“, sagte Boyd, „und da hat er noch zu mir gesagt, dass er erst zum Essen herunterkommen will.“
„Wenigstens entgeht ihm dadurch die Katastrophe in der Küche und was sie wieder in seinem Haus anstellen.“
Lea nahm das Geschenk, das sie so sorgfältig wieder eingepackt hatte und suchte den Geschenktisch, der jedes Jahr woanders aufgestellt wurde. Dieses Mal war er rechts neben dem Eingang des Tanzsaales und war bereits gut bestückt. An den meisten Geschenken steckten große Namensschildchen, damit Grandpa Ira auch Notiz davon nehmen konnte, wer sich da so ungeheuer in Unkosten gestürzt hatte. Zwei Jungs standen vor diesem Tisch, kicherten und rannten weg, als Lea näher kam. Sie hatten nicht versucht etwas zu mopsen, sie hatten nur das getan, was Lea in dem Alter auch schon getan hatte – sie vertauschten die Anhänger an den Geschenken.
Endlich traf sie auch auf ihre Mutter, die eine wohltuende Erscheinung unter den älteren Frauen war – sie trug einen anthrazitfarbenen elegant geschnittenen Overall mit einem zartgelben Seidenschal im Halsausschnitt.
„Ich weiß nicht, wie das alles funktionieren soll“, sagte Roberta seufzend, wedelte mit ihrer linken Hand in Richtung Ausgang, „da draußen ist kein Platz mehr zum parken und wenn sich die nächsten Besucher an der Zufahrt aufstellen, kommt kein anderer Wagen mehr vorbei. Soll sich doch einer der Männer darum kümmern. William steht auch nur draußen und brüllt ‚so geht das nicht’.“ Sie nahm Lea noch einmal in den Arm und drückte sie an sich.
„Komm her, meine Kleine. Du siehst sehr schick aus.“
„Du auch, Mom.“
„Ach was.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Seid ich den Namen deines Vaters nicht mehr trage, habe ich den Anspruch verwirkt, hübsch auszusehen in den Augen der Verwandtschaft. Ich kann froh sein, das ich noch eine Einladung bekommen habe.“
„Ist Vern auch hier?“
„Ich hab ihn gezwungen.“
Lea rechnete es ihrer Mutter hoch an, dass sie nicht sofort fragte, wo Tommy sei, allerdings fand sie schnell heraus, wieso das auch gar nicht nötig war. In einer heimlichen Aktion, blitzschnell durchgeführt, hatte sie die Platzkarten so vertauscht, dass sie beim Essen neben ihm sitzen würde. Dass dadurch zwei miteinander verfeindete Schwestern der Vermont-Sippe direkt nebeneinander sitzen würden, war ihr vollkommen egal. Auf dem Weg zurück begegnete Lea noch einigen Verwandten, bei denen sie sich wirklich freute, sie wieder zu sehen, die sich nach dem Café erkundigten und denen sie versprach, ihnen das Video zu schicken. Man lachte über alte Insider-Witze, und die meisten sagten, sie würden mal im Café vorbeisehen, wenn sie in der Gegend waren, aber die wenigstens würden es auch wirklich tun. Und dann waren da noch die Angehörigen der Familie, auf die Lea sehr gerne verzichtet hätte. Sie begrüßte sie alle mit Namen, aber sie suchte sofort das Weite, bevor sie sich wieder etwas über ihr unmögliches Verhalten und noch schlimmere Frisur anhören musste. Tommy saß noch immer auf der Treppe. In der Küche sprang dauernd der Feuermelder unter der Decke an, weil der Backofen ohne Unterbrechung heizte und dort irgendetwas ganz fürchterlich qualmte, von dem Hannah so-und-so, nur angeheiratet, behauptete, es sei ganz normal. Endlich hatte Margret die Zeit gefunden, sich mit ihren beiden Söhnen, die Lea als grottenlangweilige Spießer bezeichnete, in die Garage zu begeben und die vom Partyservice geliehenen Stühle zu holen.
„Wenn du dich langweilst“, sagte Lea, als sie sich neben ihn setzte, „können wir einen Rundgang durch den Garten machen. Grandpa Ira hält sich Pfaue in einem Gehege.“
„Vielleicht nach dem Essen“, sagte Tommy.
Wieder rasten die zwei Hunde vorbei, gefolgt von einem hochgeschossenen Mann in einem weißen Paspel-John-Travolta-Anzug, der über die ausgestellten Hosenbeine stolperte.
„Bleibt stehen, ihr Mistviecher“, schrie er, stolperte und fing sich wieder, „haltet sie doch fest, verdammt noch mal.“
„Es sind immer die gleichen, die ihre Köter mitschleppen“, sagte eine Frau auf der Küche, schnippte mit den Fingern und zupfte eine blondierte Haarsträhne zurecht, schaffte es, diese Geste sehr gehässig wirken zu lassen.
„Die selben“, murmelte Lea automatisch, „nicht die gleichen.“
Sie hatte es leise gesagt, trotzdem war es der Frau nicht entgangen.
„Sieh an“, gab sie zurück, „Lea. Kaum dem Katzentisch entronnen und schon freche Kommentare auf den Lippen.“
„Ich geh die Hunde einfangen“, sagte Lea und weg war sie. Tommy blieb auf der Treppe, wo er sich einigermaßen sicher fühlte, seinen zweiten Kaffee trank und sich aber bereits Minuten später wünschte, er wäre auch zur Hundejagd gestartet. Die Frau mit dem blonden auftoupierten Haar, das den Zuckerwattezustand erreicht hatte, die zwar noch eine gute Figur in ihrem taillierten schwarzen Kleid machte, aber unter ihren Make-up die 50er bereits überschritten hatte, setzte sich zu ihm, nach dem sie sich eine Traube mit Weintrauben geholt hatte.
„Ich bin Victoria“, sagte sie, mehr säuselnd als wirklich nötig, „kennen sie Lea näher?“
„Nur ganz flüchtig“, sagte Tommy, „ich bin mit Boyd hergekommen.“
„Sie wird wohl mit Roberta hergekommen sein. Konnte schon als Kind ihren Mund nicht halten. Das ist ganz typisch für sie – immer nur Ärger machen. Sie hat die Schule angebrochen, sich herumgetrieben und sich dann auch noch eingebildet, sich herumgetrieben und sich dann auch noch eingebildet, ein Geschäft führen zu können.“
„Ich hab gehört, es läuft ganz gut.“
„Das glaube ich weniger.“ Sie pflückte mit spitzen Fingern die Weintrauben von den Stängeln. Tommy, der nicht wirklich wusste, ob er hier auf den Arm genommen wurde, drehte den Kopf hin und her, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sonst in der Nähe war.
„Soll ich ihnen erzählen, was ich noch gehört habe?“
Er raunte es ihr zu, musste nicht lange auf ihr wissbegieriges Gesicht warten. Er senkte seine Stimme noch etwas, um nicht laut loszulachen, als er sagte: „Sie ist mit einem alten grauhaarigen Kerl zusammen, der einen ganz fürchterlichen Akzent drauf hat.“
Zunächst sprang Victoria drauf an, vergaß ihre Weintrauben und rückte etwas näher an ihn heran, darauf wartend, dass er noch mehr erzählte, bis ihr wohl endlich klar wurde, das da keine große Neuigkeit mehr kommen würde und außerdem die Beschreibung genau zu den Mann passte, der gerade neben ihr saß.
„Sie wollen mich auf den Arm nehmen“, sagte sie, zunächst empört, dann lachte sie und verwandelte sich von einer Zicke in eine freundliche weibliche Verwandte, die sich sogar nett über Lea ausließ. Als Lea zurückkam, fand sie die beiden in einer angeregten Unterhaltung. Sie war außer Atem und an ihren Schuhen hafteten Reste der Erde aus dem Garten.
„Oh hallo“, sagte Tommy, „habt ihr die Hunde erwischt?“
„Wir haben die Tür aufgemacht und sie rausgescheucht“, sagte Lea, „sie haben sofort die Katzen auf die Bäume gescheucht und vermutlich werden die Pfaue ihre Federn abwerfen.“
Sie machte eine winzige Bewegung, hob das Kinn ein wenig und Tommy sagte: „Ich muss mich leider verabschieden. Lea wollte mir noch ein paar ihrer Lieblingstanten vorstellen.“
Wieder lachte Victoria, rief ihnen hinterher, dass man sich beim Essen wieder sehen würde.
„Was hast du mit dieser Ziege angestellt?“ Lea drückte ihm einen flüchtigen Kuss ins Gesicht.
„Die hat mich das letzte Mal mit einem freundlichen Gesicht bedacht, als ich noch am Schnuller genuckelt habe.“
Iras Sohn Gordon, dessen Gestalt man schon von weitem erkannte, weil er ein enorm ausladendes Hinterteil hatte, das ihm das Tragen von normalen Hosen unmöglich machte, hastete an ihnen vorbei, murmelte vor sich hin, dass sie die Wagen unmöglich so stehen lassen konnten. Er tat so, als habe jemand sein Auto mitten in den Rosen geparkt. Noch immer kamen Gäste an, beladen mit Geschenken und großen Glas- und Plastikschüsseln, wurden in die Küche durchgereicht, wo das Palaver von vorn begann, wer sich an die Menüabsprachen gehalten hatte und wer nicht. Lea lenkte Tommy in den Wintergarten, von dem aus man einen beneidenswerten Blick in den Garten und das Pfauengehege hatte. Man konnte die Hunde hören, aber nicht sehen, die sich gegenseitig um das Haus jagten.
„Sieh mal“, flüsterte Lea, „da ist Catherine.“
Sie deutete auf deine Frau, die wie eine einhundert Jahre alte Mumie aussah, auf ihrem Stock gestützt an der offen stehenden Wintergartentür vorbei kroch.
„Ich hasse das, wenn sie das machen“, flüsterte Tommy zurück, beugte sich ein wenig zu Lea hinunter, entlastete dabei das Bein, das immer wieder Ärger machte, „so mit dem falschen Gebiss im Mund herumspielen.“
„Sie ist fast blind und halb taub. Ich glaube, sie hat ihren ersten Mann im ersten Weltkrieg verloren. Das ist kein Scherz. Sie ist Iras Schwester, aber die beiden kommen nicht wirklich miteinander aus. Seit Jahrzehnten leben sie hier zusammen in diesem Haus und nur ihre Gebrechen hindern sie daran, aufeinander loszugehen. Du musst darauf achten, was passiert, wenn einer der Jungs an ihr vorbeiläuft.“
„Verwandelt sich die Heuschrecke dann in ein noch schrecklicheres Monster?“
„Sie hat einen Tick mit ihrem Sohn Alfred. Sie glaubt, er ist noch immer zehn Jahre alt und spielt ihr Streiche, deshalb versucht sie ihn ständig zur Ordnung zu rufen. Das Problem daran ist nur, dass Klein-Alfi fünfzig Jahre alt ist und in New Mexico lebt. Auf einer Kaktusfarm. Er hat die Einladung zu Pops Geburtstag kommentarlos zurückgeschickt, hat meine Mutter mir erzählt. Catherine ist in der Beziehung mit Alfred in die Zeit seiner Kindheit zurückgefallen. Und in jedem Jungen, der ungefähr zehn Jahr alt ist, sieht sie Alfred, und versucht ihm den Hosenboden stramm zu ziehen.“
Endlich wurde zum gemeinsamen Essen gerufen und Tommy lernte die Geburtstagsmumie kennen. Ira Salaberry machte einen noch rüstigen Eindruck für seine achtzig Jahre, lief ohne Stock und hielt sich gerade wie ein junger Baum. Sein reichlich dünnes weißes Haar, glatt aus der Stirn gekämmt, verlieh ihm das Aussehen eines halb gerupften Huhns. Als er sich hin und herdrehte, endlich zu seinem Platz am Kopfteil des Tisches bewegte, stand sein Haar elektrisiert ab. Sein Sohn Gordon blieb die ganze Zeit an seiner Seite, seine Frau auf der andren und versuchte vergeblich, den Überblick zu behalten. Da Roberta die Platzkarten vertauscht und das empfindliche Familiengleichgewicht gestört hatte, saß sie zwar neben Tommy und war ganz glücklich darüber, aber ein paar Plätze weiter saßen die verfeindeten Schwestern nebeneinander, die man unter normalen Umständen nicht mal in einem Raum zusammen allein gelassen hätte. Ada und ihre fünf Jahre ältere Schwester Maeve hatten sich vor etwa zwanzig Jahren wegen eines Mannes zerstritten und hatten nie wieder zueinander gefunden. Den Mann gab es in ihrem Leben schon lange nicht mehr, selbst die Kinder hatten es nie geschafft, sie wieder miteinander zu versöhnen, egal was sie auch versucht hatten. Maeve saß bereits an ihrem Platz, faltete ihre Serviette auseinander und erstarrte in der Bewegung, als sie die ganz in schwarz gekleidete Schwester hinter sich spürte. Es war erstaunlich – sie konnte sie nicht gesehen, musste sie gespürt haben. Auch Hass schaffte enge Verbindungen.
Tommy dachte, die beiden würden wie die Furien aufeinander losgehen, nachdem Lea ihm zugeflüstert hatte, er solle auf die Reaktionen der beiden achten, aber bis auf erstarrte Gesichter passierte gar nichts.
„Sie werden nicht essen können, wenn sie so versteinert da sitzen“, sagte Tommy.
Die Kinder, die man aus allen Ecken zusammenrufen musste, saßen an einem kleinen separaten Tisch, wo sie ihren Fruchtsaft aus Plastikbechern und das Essen auf Plastiktellern serviert bekamen. Für die Teenager, die aufgestylt und betont cool in kleinen Gruppen herumsaßen, möglichst weit weg von ihren Eltern, gab es nichts demütigenderes, als an den Katzentisch gesetzt zu werden, aber das gehörte mit zu den Regeln an einem Familiengeburtstag. Lea konnte sich daran erinnern, selbst mit sechzehn einen furchtbaren Wutausbruch bekommen zu haben, weil sie fest damit gerechnet hatte, am Haupttisch sitzen zu dürfen. Ira Salaberry hatte die vielen gebündelten Glückwünsche zu seinem Geburtstag mit Gleichmut hingenommen, ebenso wie die Küsse und Händedrücke und Schulterklopfer. Es schien ihn nicht wirklich zu freuen, das Haus voller Verwandtschaft zu haben. Als er endlich an seinem Platz saß, sein Sohn ihm ein Glas Wein eingoss und alle Versammelten auf sein Wohl anstießen, zauberte sich endlich ein Lächeln auf sein runzeliges schmales Gesicht. Das Haar schwebte wie Spinnweben um seine großen Ohren.
Einige Plätze an den Tischreihen waren frei geblieben, als der erste Gang aufgetragen wurde, sorgten fleißige Hände dafür, dass die unbesetzten Stühle weg geschoben wurden. Der große Raum war erfüllt von munteren Gesprächen und Gelächter, Gläser klirrten und Teller klapperten; alles vereinte sich zu einer Atmosphäre, in der man sich nur wohl fühlen konnte, egal, ob man zu der Familie gehörte oder nicht. Tommy konnte nicht verhindern, Wein in sein Glas eingegossen zu bekommen, er hatte Ira auch damit zugeprostet, aber aus dem daneben stehenden Wasserglas getrunken. Ein kleiner Teil der Familie sprach in italienisch miteinander, obwohl sie nicht wirklich italienisch aussahen. Lea erklärte, dass es die Küchenmafia sei, die aus New Jersey herübergekommen war.
Es kam ihm so vor, als würden sie drei Tage lang nur essen und trinken, unterbrochen von sich wiederholenden Glückwünschen und überraschend auftauchenden Gästen, die angaben, in einen Orkan geraten zu sein oder sich fürchterlich verfahren zu haben, weil das Weib keine Karte lesen konnte. Lea wechselte einige Bemerkungen mit Roberta, die Tommy seltsam fand, er aber nicht nachfragte, was es zu bedeuten hatte.
„Ich hab’s dir doch gesagt“, sagte Roberta und Lea antwortete: „Es ist nur gut so.“
Zwischen dem fünften Gang und der ersten Nachspeise versuchten einige der Gäste auf Toilette zu gehen, aber im Badezimmer hatte sich ein Zwillingspärchen eingeschlossen und weigerten sich herauszukommen, bis sie ihr Gedicht ohne Fehler aufsagen konnten. Sie waren zwölf Jahre alt und kleine verzogene Bälger im Doppelpack. In dem Alter hatten sie ein Recht darauf, Nervensägen zu sein. Allerdings fand niemand den Grund dafür heraus, weshalb sie sich gerade im Badezimmer eingeschlossen hatten. Brauchten sie noch länger, würden alle in den Garten pinkeln gehen müssen.
„Schaffst du’s?“ fragte Lea, deutete auf die nächste Portion, die sie auf den Tellern hatten.
„Kein Problem damit“, sagte er, „ich kann ’ne Menge essen.“
„Es führt sowieso kein Weg dran vorbei“, meldete sich Roberta von der anderen Seite. Für den Kaffee pilgerten die meisten in die Küche, warfen die Sitzordnung durcheinander, indem sie sich einfach dort wieder hinsetzten, wo gerade etwas frei war. Einige tranken deutlich zu viel Wein. Lea begann gerade zu erzählen, was es damit auf sich hatte, dass es am Tisch keinen Rotwein gab, brach mitten drin ab und wandte sich mit einem ausdruckslosen Gesicht Tommy zu.
„Was ist?“ fragte er. Das letzte Mal, als sie so ein Gesicht gemacht hatte, hatte sie auf der Landstraße den Wagen angehalten, weil sie gedacht hatte, einen streunenden Hund überfahren zu haben.
„Nichts“, sagte sie, „schon Okay.“
Aus der Richtung, in die sie nicht mehr sehen wollte, der sie demonstrativ den Rücken zudrehte, kam ein Mann mit einer gewissen Familienähnlichkeit, er trug einen hellbraunen Anzug und ein dunkles Hemd, der Kragen war offen. Er grüßte in die Runde, setzte sich auf einen Platz, an dem das Gedeck bereits abgeräumt war.
„Du hast das Essen verpasst, Michael“, sagte eine Frau ihm gegenüber.
„Ich konnte nicht früher weg“, sagte Michael, seine Stimme hatte einen dunklen Klang und einen Akzent, den Tommy nicht einordnen konnte, „und schließlich hatte ich die weiteste Anreise von allen.“
Roberta murmelte sehr abfällig: „Und außerdem warst du nicht eingeladen, Michael.“
Er war einige Jahre älter als Tommy, von der schlanken Art mit deutlichem Bierbauch, begrüßte das Geburtstagskind mit Handschlag und einem leichten Klopfen auf die Schulter. Ira sagte etwas und deutete mit dem Kinn in Richtung Wintergarten, wo ein Mädchen stand, das Tommy bisher nicht aufgefallen war, aber hätte auffallen müssen. Sie war sehr schlank, fast schon zu schlank und obwohl sie eine ordentliche Frisur hatte, langes glattes Haar von perfekter blonder Farbe, wenn sie echt sein sollte, war ihre Kleidung alles andere als ordentlich. Sie trug schwere blaue Halbschuhe an den Füßen, dazu einen kurzen karierten Rock und einen löchrigen schwarzen Pullover, dessen Kragen an einer Seite aufgerissen war, um eine schmale Schulter durchblitzen zu lassen. Ihr Make-up hätte Alice Cooper gefallen. Sie war ein Punk, aber da sie sich die Haare weder rasiert noch grün gefärbt hatte, war sie nicht mit Überzeugung bei der Sache.
In einem halben Jahr würde sie vermutlich teure Mohairpullover tragen. Michael ging zu ihr hinüber, mit einem Auge beobachtet von Lea, die ein Gesicht machte, als hätte sie in ein Stück Zitrone gebissen. Sie begrüßten sich mit Küsschen und einer Umarmung, setzten sich gemeinsam an den Tisch. Sehr demonstrativ schob Lea ihren Stuhl zurück, stand auf und verließ den Raum. Tommy wollte ihr nach, wurde aber von einer Frau aufgehalten, die sich neben ihn setzte, am Arm festhielt, als er sich erheben wollte und ihn fragte, ob ihm das Essen geschmeckt hatte. Er sagte, er habe selten so gut und so viel gesessen, was sie zufrieden nicken ließ. Aber es war noch nicht das Ende der Befragung. Als er sich endlich losmachen konnte, er das Gefühl dabei hatte, sich aus einem klebrigen Sumpf zu befreien, suchte er Lea im Haus. Er kam an der Küche vorbei, fand dort ein Pärchen in den besten Jahren, die sich nicht etwa einen Kaffee teilten sondern die Reste des Küchenweins vertilgten. Sie hatte noch soviel Selbstbewusstsein, es nicht heimlich zu tun, sie prosteten Tommy zu, als er an ihnen vorbeiging. Schließlich fand er sie draußen im Garten bei den Hunden und spielenden Kindern, die vom Katzentisch weggekommen waren.
„Entschuldige“, sagte sie, „aber ich musste an die frische Luft.“
Sie beobachteten, wie die Hunde Löcher in den Rasen buddelten, sich durch die Beete jagten und überall Chaos anrichteten. Der Himmel war dunkelgrau und die Wolken schienen bereits die fernen Berge und Wälder zu berühren. Tatsächlich dauerte es nur wenige Augenblicke, bis ein heftiger Wind aufkam und es zu regnen begann. Die Kinder rannten ins Haus zurück, liefen an Tommy und Lea vorbei.
„Die Hunde bleiben draußen“; sagte Lea, „die versauen das ganze Haus.“
„Sollen wir weiter essen?“ fragte er.
Sie platzte mit einem Lacher heraus und sagte: „Nur, wenn du noch immer Hunger hast.“
In der Bibliothek, angefüllt mit alten vermutlich furchtbar teuren Büchern, setzten sie sich an das Fenster, waren versucht, das eine oder andere Buch aus dem Regal zu nehmen und durchzublättern, aber das wagten sie dann doch nicht.
„Das sieht aus, als könnte man hier das Necronomicon finden“, murmelte Lea.
„Das was?“
„Du hättest nicht eingebürgert werden dürfen, wenn du dich nicht mal in der New England Literatur auskennst.“
„Gibt es doch noch mehr als eine Tante, der du lieber nicht begegnet wärst?“
„Wenn ich geahnt hätte, dass Michael auftaucht, wär ich wirklich zu Hause geblieben.“
Irgendwo vor der Bibliothek entbrannte ein Streit zwischen zwei Frauen; Tommy und Lea sahen sich erstaunt an und horchten angestrengt, um jedes Wort auf dem Flur mitzubekommen. Diesmal ging der Streit nicht um das leidige Küchenthema sondern um etwas anderes – sie warfen sich gegenseitig vor, ihre Kinder nicht richtig erzogen zu haben und eine der anderen sagte, sie sei es schuld, wie es gelaufen sei. Das Ende vom Lied war, dass die eine in Tränen ausbrach und ins Bad verschwinden wollte aber nicht konnte, weil dort noch immer die Zwillinge übten. Lea fragte ihre Mutter und wurde mit dem neuesten Klatsch versorgt, den sie kaum glauben konnte – die Sohne der beiden Frauen, die in ihrer Freizeit öfters zusammenhingen, hatte sich überlegt, ihre finanzielle Mittel mit ungewöhnlichen Mitteln aufzubessern. Inzwischen saßen sie in Untersuchungshaft, weil sie einen wertvollen Zuchtkater aus der Nachbarschaft geklaut hatten. Sie hätten ihn nicht verkaufen können, das wussten sie, aber sie konnten den Besitzer erpressen, der alles bezahlt hätte, um seinen Kater zurückzubekommen. Allerdings hatte er auch die Polizei eingeschaltet, die beider Geld- und Katerübergabe dann zugegriffen hatte. Später erklärte Lea, dass die beiden schon immer reichlich dumme Ideen ausgebrütet hatten. Wieder im Tanzsaal, wo leise Musik gespielt wurde, setzte Lea sich zu Ira, unterhielt sich mit ihm. Er deutete mit seiner knochigen Hand an ihr vorbei und sagte: „Sieh mal, wer da kommt.“ Der Punk kam mit einem Dessert aus der Küche zurück, setzte sich ihnen gegenüber, die dünnen Beine übergeschlagen.
„Hallo Lea“, sagte sie, „schön, dich zu sehen.“
Sie musterte Tommy nur kurz, der diese recht unterkühlte Begegnung mit gemischten Gefühlen beobachtete. Er fand es nicht komisch, dass Lea sich inmitten ihrer Familie nicht wohl fühlte. Sie versuchte freundlich zu klingen, aber es gelang ihr nur zum Teil.
„Hallo Suzi“, sagte sie, „was macht die Uni?“
Suzi der Punk machte eine wegwerfende Bewegung. Hätte sie geraucht, hätte sie gleichzeitig die brennende Kippe in die Ecke geschnippt. „Es läuft so.“
Damit war für Lea der höfliche Teil angeschlossen, sie wandte sich wieder Ira zu. Er erzählte, dass vor Wochen einer der Pfaue aus dem Gehege abgehauen und über das ganze Grundstück gelaufen war, bevor sie ihn wieder hatten einfangen können. Dabei hatte er die Hälfte seiner Schwanzfedern aus dem Rad verloren, weil einer der Männer während der Jagd drauf getreten war. Lea hätte sich gern länger mit ihm unterhalten, aber sein Sohn schleppte ihn weg, weil die Kinder endlich ihre Gedichte aufsagen wollten.
„Ich komme gleich nach“, sagte Lea. Sie drehte sich kurz zu Tommy um, berührte seinen Arm und es zuckte in ihrem Gesicht, als Suzi zuckersüß sagte: „Es ist immer wieder schön, die ganze Familie zusammen zu sehen, nicht wahr? Wirst du an Thanksgiving auch hier sein?“
„Das weiß ich noch nicht“, antwortete Lea.
Tommy konnte ihr ansehen, was sie am liebsten noch dazugesetzt hätte: Nur, wenn du nicht eingeladen bist, Suzi.
Sie wurden gestört, als jemand zu schreien begann, jemand hätte die Meute Hunde wieder ins Haus gelassen und da kamen sie auch schon: nasse, schlammige, stinkende Golden Retriever, ein Schäferhund, eine Dackelmischung und ein nervig kläffender Terrier.
Suzi sprang auf, um beim Einfangen zu helfen. In Tommy lösten die Hunde eine alte Erinnerung aus – wie hießen noch Kierans Hunde? Er kannte sie selbst damals nur aus Erzählungen, aber es ärgerte ihn, dass er die Namen nicht mehr zusammen bekam. Schließlich hatten die Hunde Kierans Leben gerettet und diese Tat hatten fast alle mit ihrem Leben bezahlt.
Trash, dachte er, der große Wolfshound hieß Trash. Er war zum Fürchten. Er hat ihn sogar mit nach Boston genommen.
„Du kannst sie nicht leiden, hmh?“ murmelte Tommy, setzte nach kurzer Überlegung hinzu: „Hat sie dir mal ’nen Freund ausgespannt?“
Es war einfach nur eine Vermutung, weil er wusste, dass daran wohl neunzig Prozent der Freundschaften zu Grunde gingen – an einem sexuellen Verhältnis mit zwei Freundinnen. Lea reagierte fast ärgerlich. War sie ärgerlich auf ihn, dass er solche Fragen stellte? Jedenfalls reagierte sie nicht wie sonst, wenn es um Verhältnisse und Familie ging.
„Suzi ist meine Halbschwester. Das erklär ich dir später, jetzt muss ich erstmal aufs Klo.“
Niemand konnte behaupten, dass Familienverhältnisse immer übersichtlich und klar abgegrenzt waren. Tommy konnte selbst ein Lied davon singen, obwohl er keine Verbindung mehr zu seinen Leuten hatte. Die Schwester seines Vaters, sesshaft in Italien, hatte einen Mann geheiratet und von dessen Bruder die Kinder bekommen. Diese Tatsache war in der Familie stets peinlich totgeschwiegen worden. Lea hatte nie etwas von Geschwistern erzählt, hatte von sich immer als Einzelkind gesprochen, und Tommy hatte nach den langen Gesprächen mit Joe Ford und den Erzählungen über ihren Vater gedacht, sie hätte die Wahrheit gesagt. Er verstand nicht, weshalb sie eine ferne Halbschwester verheimlichte, selbst wenn sie sie auf den Tod nicht leiden konnte. Es war natürlich kein Vergleich zu den Dingen, die er ihr verheimlichte, aber das stand auf einem anderen Blatt. Er kam aus einer anderen Welt. Mittlerweile wurden in der Bibliothek Kindergedichte aufgesagt, Ira saß in einem schweren Ledersessel, die altersfleckigen Hände auf den Knien abgelegt und seinem Gesicht nach zu urteilen kurz davor die Geduld zu verlieren. Die Kinder waren niedlich anzusehen, die Mütter hatten Tränen in den Augen vor Rührung, wenn sie vor Iras Sessel standen und sehr ernsthaft das aufsagten, was sie seit Wochen auswendig gelernt hatten. Tommy stand in der Tür und beobachtete diese Zeremonie, drehte sich halb herum, als Lea neben ihm auftauchte, ihre Hand auf seine Schulter legte und sagte: „Ich muss dir was zeigen.“
Der obere Stock zeigte die Spuren eines anderen Einrichtungsstils; die Tapeten waren etwas blumiger, die Porzellanvasen und Nippesfiguren deutlich verspielter. Alles wirkte überladen und sehr kitschig, aber nicht ohne Charme.
„Hier“, sagte Lea, als sie direkt an der Treppe stehen blieb, auf die Totos an der Wand deutete, „das hier zeigt die ganze Salaberry Bande.“
Tommy ging näher heran, entdeckte einige Gesichter, die er heute kennen gelernt hatte, alle etwas jünger, frischer und lebendiger. Vom Leben noch nicht gebeutelt. Leas Zeigefinger deutete auf eine Person.
„Der Mann in dem braunen Anzug, der zu spät zum Essen gekommen ist“, sagte Tommy.
„Das ist Michael. Mein Vater.“ Sie tippte ihn auf dem Foto an, als wolle sie ihm einen blauen Fleck verpassen. „Er hatte von Anfang an zwei Familien. Roberta hat er geheiratet, aber wenn er sagte, er ist für zwei Wochen geschäftlich unterwegs, war er in Wirklichkeit bei der anderen Frau. Er hat ihr nicht erzählt, dass er verheiratet ist. Ich wurde geboren und zwei Jahre später kam Suzi zur Welt. Er war ständig auf Achse, ein Wunder, dass er noch die Zeit und die Kraft hatte, seinen Job zu erledigen. Fünf Jahre später hat meine Mom von der anderen Frau erfahren. Sie hat ein Foto in der Zeitung gesehen, das ihn mit seiner anderen Familie bei einem Gemeindebarbeque zeigte. Sie war rasend vor Wut. Sie hat ihn vor vollendete Tatsachen gestellt, ihm gesagt, er müsse sich entscheiden. Obwohl Michael mit Roberta verheiratet war, ich seine ältere Tochter war, hat er seine Sachen gepackt und ist zu Freundin und Tochter nach Fryeburg gegangen. An meinen Geburtstag hat er mich nicht mal angerufen. Als wäre Fryeburg auf dem Mond und nicht an der Grenze nach New Hampshire. Kannst du verstehen, dass ich auf ihn und Suzi nicht gerade gut zu sprechen bin? Er war ein verdammter Bigamist, aber glaub ja nicht, dass es ihm einer aus der Familie jemals vorgehalten hat. Sie haben ihn alle noch in Schutz genommen. Und jetzt setzt er sich an den Tisch, plaudert in die Runde und fragt sich wahrscheinlich noch immer, weshalb ich nichts mit ihm zu tun haben will.“
Statt vieler Worte (er war überzeugt, sowieso nicht die richtigen hätte finden können), nahm Tommy Lea in den Arm, wiegte sie hin und her, den Blick noch immer auf die Fotos gerichtet. Von unten hörten sie das nächste vorgetragene Gedicht, schallendes Gelächter ertönte, als das Gedicht mit einem kraftvollen „Zicke zacke Hühnerkacke Heu Heu Heu“ endete.
„Lass uns wieder nach unten gehen“, sagte Tommy, „wenn du willst, schirme ich dich gegen Michael ab. Er kommt nicht an dich ran, wenn ich das nicht will.“
„Er wird es nicht versuchen“, sagte Lea, „aber Danke.“
Lea gesellte sich zu Roberta, nickte aus ihrem Weinglas. Sie lächelte zu Tommy hinüber. Sie hatte auf eines der Fotos gezeigt und gesagt: „Das bin ich. War ich nicht ein hässliches Kind?“
„Noch längst nicht so hässlich wie ich“, hatte er flüsternd erwidert.
Die Gedichte nahmen endlich ein Ende, die Kinder wurden mit Kuchen und Sahne belohnt und man unterhielt sich nur noch flüsternd, weil Ira in seinem Sessel eingeschlafen war. Sein Mund stand halb offen und er schnarchte vor sich hin, was die Kinder bei jedem Ton zum kichern brachte. Tommy setzte sich auf die schmale Kante unter dem Fenster, beobachtete und verfolgte die Gespräche. Er rückte ein Stück zur Seite, als eine Frau sich neben ihn setzte.
„Die Kinder waren so niedlich“, sagte sie, „ich fange jedes Mal an zu flennen.“
„Ist einer von den Zwergen ihrer?“
„Nein“, sagte sie, „ich habe keine Kinder. Wir hätten gerne welche gehabt, aber dann ist mein Mann gestorben. Manchmal macht das Schicksal einem einen Strich durch die Rechnung.“
Sie klang sehr nüchtern, als sie das sagte und Tommy erwiderte: „Tut mir leid.“ Er dachte, dass sie jung genug war, um es trotzdem noch einmal zu versuchen mit dem Kinderkriegen, vermutete einen Unfall, es sei denn, sie hatte einen reichen alten Furz geheiratet.
„Wie ist das passiert?“
Wenn sie jetzt sagt, dass ihre bessere Hälfte in einem Auto in die Luft geflogen ist, sag ich besser gar nichts mehr.
„Er war im Golfkrieg“, sagte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. Die Zeit mochte die Wunden abgeheilt haben, aber der Verlust tat noch immer weh. Ihr Haar war perfekt frisiert, das Make-up sorgfältig aufgelegt und obwohl er von den Klamotten keine Ahnung hatte, hätte er drauf gewettet, dass die nicht billig gewesen waren. Sie trauerte auf einer hohen Ebene, aber sie trauerte. Sie war faltig um die Augen, die Schatten darunter hatte auch das Make-up nicht abdecken können. Tommy kannte den Schmerz von beiden Seiten, sowohl von der Täter- als auch von der Opferseite, wusste trotzdem nichts sonderlich Kluges zu sagen. Der Golfkrieg war längst aus seinem Kopf verbannt.
„Konnten sie sich noch von ihm verabschieden?“
„Wir haben telefoniert, so oft es ging und haben viele Briefe geschrieben. Drei Wochen lang war er da in der Wüste, ist in Blut und Öl gewatet und dann ist irgendwo eine Handgranate explodiert und mein Mann hat daneben gestanden. Sie haben ihn beerdigt und ich beziehe eine Rente, aber das bringt ihn mir nicht zurück. Es ist schon so lange her, aber noch immer wache ich morgens auf, greife neben mich, weil ich glaube, er müsste noch bei mir sein.“
Als sie es sagte, dachte Tommy, sie würde in Tränen ausbrechen, aber er sah sie an und war erstaunt darüber, sie lächeln zu sehen.
„Es tut noch weh“, sagte sie, „aber ich kann darüber reden. Wenn mir jemand zuhört, ist das ein gutes Gefühl. Und ich sehe es anderen Menschen an, die wissen, was ich durchgemacht habe.“
Darauf konnte Tommy nichts sagen, er legte nur den Kopf schief und machte eine Geste, dass er ihr zustimmte. Im Augenwinkel entdeckte er den Mann, der ihm schon den ganzen Tag auf die Nerven ging. Er hatte einen Camcorder aus seiner Hand wachsen, schwenkte ihn über alle Verwandten, die sich inzwischen abwandten oder Grimassen schnitten. Es genügte nicht, dass er filmte ohne Pause, er gab auch noch unnütze und peinliche Kommentare ab, die sich seine Familie zu Hause als Film noch Jahre später ansehen mussten.
‚Na, Tante, wieder so viel Kuchen auf dem Teller wie nur draufging? – Das Kleid, das du trägst, gefällt mir von Jahr zu Jahr besser. – Hey, deine Akne wird aber auch nicht mehr besser, was, Junge?
Er ging allen Anwesenden auf die Nerven – ganz besonders Tommy, der sich immer wieder von ihm ertappt fühlte. Jetzt stand er wieder an der Ecke, grinste und filmte, sein Mund bewegte sich ohne Unterbrechung.
Tommy fand es vollkommen in Ordnung, dass sich einer der Jungs auf dem Weg nach draußen an ihm vorbeirempelte, dabei richtig grob wurde. Es war der Junge, den er sehr laut auf sein Hautproblem angesprochen hatte. Fast hätte der Mann die Kamera fallen gelassen, murmelte etwas abfälliges und wandte sich endlich ab. Wäre er nicht verschwunden, hätte Tommy ihm den Akku geklaut.
Alle zuckten zusammen, als Ira aus seinem Nickerchen erwachte, sich umsah und mit erstaunlich energischer Stimme rief: „Und jetzt versammelt ihr euch alle vor der Kiste!“
Die Frau neben Tommy seufzte tief und murmelte: „Oh Gott, ich hatte gehofft, er hätte es dieses Jahr vergessen.“
„Was kommt jetzt?“ fragte Tommy. Lea zog ihn aus der Ecke hoch. „Los, wir müssen uns einen guten Platz sichern. Das darfst du dir nicht entgehen lassen.“
Einige verdrückten sich nach nebenan, weil sie die alten Super-8 Filme nicht noch einmal sehen wollten, aber Lea konnte nicht genug davon kriegen. Sie hatte Tommy in einen Sessel gedrückt, sich auf seinen Schoß gesetzt und lehnte sich gegen ihn.
„Ira hat die alten Familien- und Urlaubsfilme auf Video kopieren lassen. Bei einigen fehlte der Ton und alles ist vollkommen durcheinander aneinander gestückelt, aber ich kann mich nicht satt sehen an den schwarz-weiß Filmen, in denen Pop zwanzig Jahre alt ist.“
Ira war ein hübscher junger Mann gewesen und seine Frau eine echte Schönheit, sobald er in den verwackelten vergilbten Bildern auftauchte, durchs Bild tanzte, winkte und etwas in die Kamera sagte, kniff Lea Tommy in den Arm.
 
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Kommentare  

Nun wird`s ernst. Tommy besorgt sich eine 45er und Munition. Lea ahnt von alledem nichts. Tommy will sie immer noch aus allem raushalten. Es gelingt ihm Joe zu überreden, Lea unauffällig zu beschützen, falls er selbst keine Zeit mehr dazu haben würde. Wie immer sehr schöner Schreibstil. Die Spannung nimmt zu und man wartet ungeduldig, auf das was noch kommen wird.

Jochen (16.04.2009)

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