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27 Seiten

Fisteip - Teil 14

Romane/Serien · Spannendes
Tommy stellte sie als Paddy und Micky vor, zwei Männer in seinem Alter oder auch etwas darüber, sie waren unter ihren Mänteln ordentlich gekleidet und zeigten plötzlich, dass sie Manieren hatten. Ihre Namen mochten so falsch sein wie Tommy Gallagher, aber das störte nicht. Paddy teilte sich mit Lea eine Tüte Schokoladenbonbons, während Micky und Tommy miteinander flüsterten, wie Angeklagter und Anwalt vor Gericht die Köpfe zusammensteckten.
„Er ist ein verdammtes Arschloch“, murmelte Paddy, den Mund voll Schokolade, deutete mit einem Augenzwinkern zu den beiden hinüber.
„Er sieht nicht aus wie ein Arschloch“, meinte Lea.
„Ich rede von Tommy. Natürlich sieht er nicht aus wie eins, aber er ist eins. Wenn er bei uns geblieben wäre, hätte sich einiges zum besseren gewendet.“
„Tommy hätte nicht abhauen sollen?“
„Wir hätten ihn durch den Knast geschleust und wir hätten uns danach um ihn gekümmert.“
„Oh ja“, sagte Lea gedehnt, als erinnere sie sich gerade wieder daran, „ihr habt euch ja auch so gut um Darren Finnigan gekümmert.“
Sie genoss Paddys ungläubigen Blick und hatte die Tüte Schokolade für sich allein.
Tommy wandte sich kurz zu ihr herum und sie zwinkerte ihm zufrieden entgegen. Was immer auf sie zukommen würde, sie konnte damit umgehen.
„Wir haben einiges zu erklären“, sagte Micky, „ich habe Tommy gerade gesagt, dass er...“
„Fangen wir es richtig an.“ Tommy nickte zu Lea hinüber. „Du erklärst Lea alles, was sie wissen will. Sie ist eingeweiht. Dann haben wir genug Zeit, den Rest zu besprechen.“
Obwohl es in ihrem Magen brannte und ihr von der Schokolade schlecht wurde, sagte sie gut gelaunt: „Ich habe einen ganzen Sack voll Fragen.“

Es blieb an Paddy hängen, ihr alles zu erklären und er gab sich reichlich Mühe dabei. Er nannte Tommy nicht mehr Arschloch und je länger er erzählte, während Tommy und Micky draußen in der Kälte unterwegs waren, umso deutlicher kam durch, dass er einen Heidenrespekt vor ihm hatte.
„Wir wussten alle, dass er ständig besoffen war, aber es ist nie wirklich aufgefallen, weil wir ihn niemals nüchtern erlebt haben. Er hatte sich immer unter Kontrolle. Sprengstoff war nicht sein Ding, er war ein guter Schütze, ein ruhiges scharfes Auge. Er war der einzige aus seiner Familie, der zu uns gekommen ist und ich denke, dass er mit seinen Leuten nie darüber gesprochen hat. Aber natürlich wussten sie es irgendwann. Er war ständig unterwegs und die Polizei war hinter ihm her. Die Polizei und die Briten waren immer hinter uns her. Allein die Kämpfe mit den protestantischen Gruppen waren genug für ein ganzes Leben, aber wir haben es immer mit allen Fronten gleichzeitig aufgenommen. Wir haben versucht, die Soldaten aus unseren Straßen fernzuhalten, haben versucht, für Ordnung zu sorgen und das alles neben einer Familie, ohne Geld und meistens ohne Job. Als Tommy mit dem Saufen aufgehört hatte, hat sich bei ihm nicht wirklich etwas geändert. Ich habe ihn danach einmal in einem Pub erlebt, in der am Wochenende zuvor fünf Katholiken getötet worden waren. Wir saßen dort zusammen am frühen Abend und spendierten reih um Bier und Whiskey. Wasser für Tommy, worüber niemand wagte, auch nur ein Wort zu verlieren. Einige von uns ließen sich darüber aus, was sie tun würden, sollten sie die Bastarde erwischen, die das getan hatten. Sie waren in den Pub gestürmt und hatten einfach um sich geschossen. Manchmal klang es wie ein Fußballspiel, das nur zwischen zwei Parteien immer wieder ausgetragen wird. Mal schießen die ein Tor, dann schießen wir eins. Mal erwischen wir einen von ihnen, mal erwischen sie einen von uns. Es ist längst egal geworden, wer irgendwann einmal damit angefangen hat, das interessiert niemanden mehr. Wir haben dort einfach gesessen und auf den Abend getrunken, und plötzlich hat jemand von draußen an die Fensterscheibe geklopft. Das Fenster hatte nur am unteren Teil eine Art Sichtblende, durch den oberen Teil konnte man in den Pub hineinsehen. Dort draußen stand einer der Glatzköpfe, ein zwei Meter großer Proddy, der bei den Oranierparaden immer in der ersten Reihe lief und der immer seinen Schlägertrupp dabei hatte. Er hieß Raymond. Er war Sicherheitsmann in einer großen Firma, bestimmt kein Dummkopf, aber mit einer gefährlichen Freizeitbeschäftigung. Da stand er vor dem Fenster, starrte in den Pub und hob die Hand an das Fensterglas, alle fünf Finger weit abgespreizt. Und er grinste über das ganze breite Gesicht. Wir wussten alle, worauf er anspielte. Fünf von euch haben wir erwischt, fünf auf einmal. Während wir noch alle wie erstarrt dasaßen, war Tommy der einzige, der seinen Stuhl zurückschob und an allen vorbei nach draußen rannte. Er war damals verdammt flink auf den Beinen, immer schneller um die Ecken, selbst während der Zeit, als er mit Whiskey abgefüllt war und wie auf Eis schlitterte. Er raste wie ein Irrer nach draußen und stürzte sich auf Raymond, nietete ihn wie auf dem Rugbyfeld um, während seine Schlägerfreunde um ihn herumstanden. Die starrten ihn genauso überrumpelt an wie wir. Wir hatten uns an die Tür gestellt und in das Fenster gehängt, um zu sehen, was weiter passierte. Es war unglaublich, aber Tommy hatte es geschafft, diesen Kerl auf dem Boden festzunageln, mit dem Gesicht nach unten auf dem nassen Asphalt, hatte ihm den rechten Arm auf den Rücken gedreht, kniete auf seiner Wirbelsäule. Seine Freunde standen dabei und griffen nicht ein, ich glaube, sie waren selbst neugierig darauf, was als nächstes passieren würde. Tommy drehte ihm die Hand nach oben, bis er die Faust löste, dann brach er ihm jeden einzelnen Finger. Er knickte sie in die falsche Richtung um wie Rosenstengel. Ohne ein Wort zu sagen, ohne das Gesicht zu verziehen. Als er fertig war, blieb er auf Raymond knien, sah seine Kollegen an. Sie waren in der Überzahl, und er starrte sie alle einen nach dem anderen an, bis sie einfach davongingen. Es war unglaublich, sie drehten sich um, steckten die Hände in die Taschen und marschierten weg. Raymond hatte neben seinen gebrochenen Fingern eine zerquetschte Nase und eine lädierte Wirbelsäule, hatte arge Probleme hochzukommen und seinen Freunden zu folgen. Wir hätten diesen kleinen Triumph feiern können, aber wir sind einfach nur in den Pub zurück und haben weiter getrunken, als wenn nichts geschehen wäre. Man hätte meinen können, die Prods hätten später an Tommy Rache genommen, aber nichts dergleichen passierte. Es gab die üblichen Kämpfe, Tommy wechselte die Unterkünfte alle paar Tage, ebenso wie wir es auch taten, und dann fingen die Märsche wieder an und Tommy verschwand für einige Wochen nach Portadown und kam munter und mit genähter Kopfwunde wieder. Ein paar von uns hatten Wetten abgeschlossen, wie lange es dauern würde, bis er doch wieder mit dem Saufen anfangen würde, vor allem, weil er mit uns weiterhin in die Pubs ging und sich nicht daran zu stören schien. Er blieb trocken. Hat er dir erzählt, wie er mit dem Alkohol aufgehört hat? Er hat nie die Wahrheit darüber erzählt, die kam erst jetzt raus, als wir nachgebohrt haben. Er hat da eine Zeitbombe vergraben am Lough Fad und leider ist niemand in der Lage, sie zu entschärfen. Wir haben uns eingeschaltet, um einen Mann zu Fall zu bringen, der schon in den Siebzigern sein politisches Unwesen getrieben hat. Wir sind nie wirklich an ihn herangekommen, er hat sich immer nach allen Seiten abgesichert, und wenn wir dachten, wir hätten ihn, hat er einen seiner Männer über die Klinge springen lassen. Aber Lough Fad scheint ihm jetzt endlich den Hals zu brechen. Dank Tommy. Selbst, wenn er sich nicht mehr daran erinnern kann, ob diese Männer britische Soldaten gewesen sind, reicht es, wenn er Andeutungen macht. Wir sind in der Lage, das ganze Gebiet um den See ausbaggern zu lassen, bis wir etwas finden. Der Zusammenhang liegt darin, dass Harney als amtierender Nordirlandminister geschworen hat, dass sich keine britischen Soldaten oder Männer seines Sondereinsatzkommandos auf dem Gebiet der Republik befunden haben, um dort unsere Männer auszuschalten. Damals haben wir viele Männer jenseits der Grenze verloren, weil sie sich sicher geglaubt haben und unvorsichtig waren. Wenn wir jetzt die Überreste von drei Soldaten am Lough Fad finden, und Tommy die Aussage macht, was damals passiert ist, haben wir ihn erledigt.“
„Entschuldige, dass ich das sage“, sagte Lea, „aber ich habe vom Bloody Sunday gelesen und dort ist nicht ein einziger Soldat geschweige denn ein Verantwortlicher hinter den Reihen verurteilt worden. So ist es doch, oder? Es sind schon größere Schweinereien vertuscht worden. Glaubt ihr wirklich, jemand wird Tommy glauben? Wenn es dann auch noch rauskommt, dass er täglich rund um die Uhr stockbesoffen war?“
„Wir greifen ihn an“, sagte Paddy, klang energisch und überzeugend, aber vielleicht war es alles nur eine großartige Fassade, „und wir kriegen ihn. Es gibt alte Schreckgespenster, mit denen wir gelernt haben zu leben, wie mit diesem unglaublichen Rev. Paisley, weil man sie als Gegner irgendwann so genau kennt, dass sie berechenbar werden. Man weiß genau, welchen Knopf man drücken muss, um die gewünschte Reaktion zu erhalten. Aber mit Harney haben wir einfach nur ein altes Hühnchen zu rupfen. Nenn es Rache, meinetwegen. Vermutlich ist es Rache, aber es ist auch mehr. Als er erfahren hat, dass dort am Lough Fad drei seiner Leute konserviert liegen, hat er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um dahinter zu kommen, was dort passiert ist und er hat ziemlich schnell die Puzzleteile zusammen gesetzt. Dass es Tommy gewesen ist, der sie im Torf begraben hat und dass er in die Staaten geflohen ist, obwohl seine Familie ihn beerdigt hat. Er hat ihn suchen lassen und ihn gefunden. Und dann hat er sich vorgestellt, er könnte Tommy mit seinen eigenen Leuten ködern. Er hat Darren aufgetan, dachte, er sie noch immer ein dummer kleiner Junge, der keine Ahnung hat, und hat ihn für sich eingespannt. Er wusste nur nicht, dass Darren in Boston nicht nur an seiner Ausbildung gearbeitet hat, sondern dass er auch noch immer enge Verbindungen zu Sinn Fein hatte. Als er von den angeblichen Männern der Splittergruppe kontaktiert wurde, hat er uns sofort bescheid gesagt. In einem Spionagefilm hätte man ihn als Doppelagent bezeichnet. Wir waren beunruhigt darüber, dass sie Tommy ausfindig gemacht hatten, wir wussten seit Jahren, wo er war, aber wir haben ihn in Ruhe gelassen. Darren hat uns auf dem aktuellen Stand gehalten und wir dachten, dass wir nicht einmal eingreifen müssten, aber dann haben sich die Ereignisse überschlagen. Wir haben Harney unter Druck gesetzt und das Resultat war, dass seine Männer sich Tommy geschnappt haben, um herauszubekommen, was er wirklich weiß. Wir haben es nicht provoziert, wir haben nur den Zeitpunkt nach vorn verschoben. Es war hart, dass wir nicht wussten, ob er dort lebend herauskommt, aber wenn die Situation einmal so eskaliert, ist es nicht mehr aufzuhalten.“
„Ihr habt ihn ins Messer laufen lassen.“
„Es gab keine Möglichkeit ihn zu warnen. Und wir wussten, dass er nicht aus der Übung ist nach den Jahren. Harney wird noch nicht aufgeben, ihn in die Finger zu kriegen, er wird noch mal seine Männer schicken. Deshalb muss Tommy aus Lewiston verschwinden und wir übernehmen alles Weitere. Je mehr Harney in Aktionismus verfällt, umso schneller bekommen wir ihn an den Haken.“
„Ist es das, was der andere ihm gerade erzählt?“
Paddy ging ans Fenster, schob mit zwei Fingern die Gardine beiseite und versuchte Tommy und Micky auf dem Parkplatz auszumachen.
„Nein“, sagte er, „ich glaube, sie unterhalten sich nur über die alten Zeiten.“

Auf dem Parkplatz, der nur sporadisch vom Schnee geräumt war, schlenderte Tommy mit seinem alten Kumpel herum, rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis ihm klar wurde, dass ihm davon fürchterlich schlecht werden würde, wenn er so weitermachte. Er hatte erfahren, dass Darren bei Sinn Fein gewesen war und ärgerte sich noch immer über seine verdammte Blauäugigkeit.
„Du solltest sie nicht mitnehmen, Tommy. Das ist die schlechteste Idee seit langem. Wir haben dir Papiere und einen Wagen besorgt, du kannst einsteigen und verschwinden. Wir werden es ihr schon erklären und wir sorgen auch dafür, dass sie gut nach Hause kommt. Möglicherweise ergibt sich sogar die Chance, dass wir dich nach Hause bringen. Was hältst du davon?“
„Ich könnte mich auch den Behörden stellen.“
„Vergiss es.“
„Ich wüsste wenigstens, wo die Fronten verlaufen. Das weiß ich im Moment nämlich nicht.“
„Wenn du dich stellst, setzt du dich damit ganz oben auf unsere Abschussliste.“
Tommy hätte gerne etwas darüber erfahren, wer dann mit ihm auf Platz eins und zwei gestanden hätte. Vielleicht kannte man sich sogar.
„Ihr habt mir damals schon damit gedroht, als ich angekündigt habe, aus dem Knast zu fliehen. Wieso solltet ihr es jetzt ernst meinen damit?“
Er hatte lange mit dem Verbindungsmann darüber diskutiert, während sie in der Zelle gesessen hatten, während sie ihren Hofgang absolvierten, während der gemeinsamen Mahlzeiten und auch nachdem das Licht gelöscht war und sie schlafen sollten. Sie wollten, dass er im Verein blieb, die Haftstrafe absaß und danach weitermachte, aber das war nicht das, was er wollte. Er war ausgebrannt und konnte nicht mehr kämpfen, er wollte nur noch ein paar Jahre in Frieden leben und nicht mehr zurückblicken müssen. Ein paar Jahre als harmloser Durchschnittsmensch, der keine Ahnung hatte von Verhörabwehrmethoden, von Schnellfeuergewehren und Bodenabwehrraketen, von Schießereien im Allgemeinen und Snipern im Besonderen. Das war’s, was er wollte. Und er brauchte mehrere Tage, um es dem Verbindungsmann klar zu machen, dass er in Urlaub gehen würde, egal, was sie davon hielten.
„Das war eine halbherzige Drohung“, sagte Micky grinsend, „aber du kannst nicht sicher sein, ob wir es diesmal nicht ernst meinen.“
„Du nimmst doch wohl nicht an, dass du mich damit wieder ins Boot bekommst.“
„Nein“, erwiderte Micky, „das ist nur eine Warnung und ich bin der Überbringer der Warnung. Tu dir selbst einen Gefallen und gestatte es uns, dich untertauchen zu lassen. Wir bleiben in Kontakt, das ist alles, was wir wollen.“
Tommy blieb vor einem großen Getränkeautomaten stehen, die gesunde Hand in die Hosentasche geschoben, überlegte, ob er sich einen heißen Kaffee ziehen sollte, um sich ein wenig aufzuwärmen. Er konnte vorhersagen, dass er wie flüssige Schuhcreme schmecken würde, aber er wusste auch, dass er hier keinen besseren Kaffee bekommen würde. In seiner Hosentasche klimperte ein wenig Kleingeld, er dachte an das kleine geheime Bankkonto, von dem nur er wusste und fragte geistesabwesend: „Ich geb dir einen aus, wenn du willst.“
„Nimmst du unsere Papiere?“
„Nein“, sagte Tommy kurz, drückte Kaffee schwarz und beobachtete, wie der Pappbecher nach unten fiel, „wie nimmst du deinen Kaffee?“
Micky bückte sich, um die Anzeigeschilder genauer zu betrachten und sagte: „Ich nehm einen Tee mit Milch.“
Mit den Pappbechern in den Händen schlenderten sie zurück, hinterließen Abdrücke und Schleifspuren im Schnee.
„Wenn du mit ihr verschwinden willst, solltest du es bald tun. Wir haben die Ereignisse weiter forciert und werden Harney weiter auf die Füße treten. Also nimmst du besser den Kopf in Deckung.“
„Bekomme ich einen Vorsprung?“
Sie standen vor der Moteltür, schlürften Kaffee und Tee, traten ihre letzten Zigaretten aus.
„Mal sehen, ob ich etwas aushandeln kann. Ich hab ihnen von Anfang an gesagt, dass du nicht mitspielen wirst. Aber der Mann, der sich das ausgedacht hat, hat noch in seine Windeln geschissen, als du deinen ersten Schäferhund auf Soldaten abgerichtet hast. Er hat nicht auf mich hören wollen.“
„Dann kannst du ihm von mir Grüße ausrichten.“
Tommy warf Micky den Zimmerschlüssel zu.
Lea und Paddy hatten das Doppelbett eingenommen, sie am Kopf- und er am Fußende, ihre Füße trafen sich parallel in der Mitte. Sie hatten genug von den Süßigkeiten, Lea schlürfte eine Pepsi light und Paddy sagte: „Ich hab nur vier Monate mit ihm zusammengearbeitet, aber ich habe selten jemanden kennen gelernt, der so konzentriert arbeiten konnte. Das hat vielen Angst gemacht. Er hat den Jungs beigebracht, wie sie sich verhalten müssen, wenn sie verhaftet und verhört werden und er hat es sehr realistisch gemacht. Nebenbei hat er noch als sniper gearbeitet, hat sich irgendwo auf die Lauer gelegt und brauchte kaum noch Schlaf. Und wenn er die Aufgabe erledigt hatte, ging er schlafen, kam zurück und nahm sich das nächste Ziel vor. In der Gruppe konnte er unerträglich sein, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab und er mit der Streiterei kein Ende fand, weil noch nicht alles durchgekaut war. Deshalb diskutierte niemand mehr mit ihm, vor allem nicht darüber, was er tat, wenn er allein loszog und über seine komische Art Mädchen anzumachen.“
„Wie hat er die Mädchen angemacht?“
„Wie hat er’s denn bei dir geschafft?“
„Er war aufmerksam, freundlich und hartnäckig. Und das in der genau richtigen Mischung. Ich schätze, das war es am Anfang.“
„Und dann?“
„Dann hab ich mich ganz furchtbar in ihn verknallt.“
„Ist die Frage, ob das reicht, um mit ihm unterzutauchen.“
„Ich bin überzeugt, dass das die beste Voraussetzung dazu ist.“
Tommy und Micky kamen zurück, gut gelaunt plaudernd, und während Tommy sich die Jacke auszog und sich zu Lea aufs Bett setzte, machte Micky eine absegnende Geste und Paddy erhob sich, zog sich die Schuhe wieder an.
„Wie ist es gelaufen?“ fragte er.
„Tommy hat meine Nummer, wenn er es sich anders überlegt. Unsere Aufgabe ist erledigt.“
„Was heißt das?“ fragte Lea, als sie allein waren, die Heizung hochgedreht hatten und in Unterwäsche auf dem Bett lagen, „was für ein Angebot haben sie dir gemacht?“
„Sie wollten mich untertauchen lassen und dafür sollte ich in Verbindung bleiben. Micky sagte, er könnte mich vielleicht nach Hause holen.“
Lea sah ihn an. „Aber das ist doch wundervoll.“
„Ich kann nicht nach Hause. Meine Familie glaubt seit Jahren, dass ich tot bin, sie haben mich auf dem Friedhof begraben. Ich kann dort nicht wieder auftauchen und sagen: Entschuldigung, es ging leider nicht anders. Ich müsste ihnen in die Augen sehen und immer wieder dran denken, woran ich Schuld bin. Ich war damals nicht mal auf der Beerdigung meines Vaters und meines Bruders. Ich kann nicht zurück.“
„Sie hätten Verständnis dafür, glaubst du nicht?“
„Und sie hatten auch keine Papiere für dich.“
„Sie sind der Meinung, dass du allein gehen solltest.“
„Natürlich sind sie der Meinung.“
„Und du wolltest nicht.“
Er schüttelte den Kopf. Lea drückte sich noch etwas enger an ihn, murmelte, sie habe zuviel süßes gegessen und ihr Bauch fühle sich an wie ein Luftballon. Er konnte ihr nicht sagen, wie schnell er nach Kanada verschwinden würde und dass ihr dadurch kaum Zeit bleiben würde, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Sie hatte mehr als nur einen Koffer und eine Reisetasche. Selbst, wenn sie es über sich bringen könnte, die Katzen irgendeinem Nachbarn zu geben, gab es noch das Haus, das Café und ihre Familie. Brach sie jetzt alles überstürzt ab, verspielte sie die Chance, jemals zurückzukommen.
Sie verbrachten die Nacht in dem Motel, hatten sehr vorsichtigen Sex und brachen am späten Vormittag wieder auf. Der Portier hatte den Eindruck, als hätten sie gerade noch mal die Kurve gekriegt ihre Beziehung zu retten, jedenfalls entging ihm nicht, dass die beiden sehr viel entspannter waren als bei der Ankunft.
Vielleicht hat sie ihm ja das Veilchen verpasst und den Arm gebrochen, dachte er, sie sieht aus wie eine, die dich vor Wut mit deinem eigenen Wagen überfahren könnte.

„Fahren wir nach Hause?“
Er hörte ihre Frage kaum. Ihm schoss gerade durch den Kopf, wie er versucht hatte, sich in einer Schlammpfütze auf dem Waldboden das Blut von den Händen zu waschen und in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, ob es Schlamm oder Blut war. Das ständige drohende Pochen in seinem Kopf, das Gefühl, als würden die Toten aus den ungeweihten Gräbern ihn beobachten. Sie hätten ihn verflucht, als sie noch lebten und taten es bestimmt auch, nachdem sie gestorben waren.
Lea wiederholte ihre Frage nicht, behielt den Blick auf der Straße.
„Wir fahren nach Lewiston“, sagte er. „Ich erledige ein paar Dinge und dann treffen wir uns in zwei Wochen in Montreal. Zwei Wochen müssen für dich reichen, um das wichtigste in die Wege zu leiten.“
Er meint es ernst, dachte Lea, ein eisiger Schauer lief ihren Rücken herunter, es geht nicht nur um einen Urlaubstrip. Wir brennen durch.
„Wenn ich es richtig verstehe, werden wir niemandem sagen, wohin wir verschwinden. Nicht einmal meiner Mutter oder unseren Freunden.“
„Das ist der Preis.“
„Was mach ich mit dem Café?“
„Überschreibe es an jemanden, dem du vertrauen kannst. Verpachte das Haus. Und überleg dir...“
„Die Katzen?“
„Ich war lange mit einem Hund unterwegs und selbst das ist nicht gut gegangen, obwohl er auf sich selbst aufpassen konnte.“ Er hob die Hand, legte sie sanft an ihren Hals, strich nach oben zum Kinn. „Tut mir leid, Lea.“
Sie nickte, atmete tief durch und erwiderte mühsam beherrscht: „Ich fürchte sowieso, dass die beiden mehr am Haus und am Garten hängen als an mir. An uns. Und ich weiß, dass ein Leben aus dem Koffer und mit Katzen nicht zusammengeht. Ich weiß das.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg.
„Wenn du nicht mehr fahren kannst, halt lieber an.“
„Nein, geht schon.“
Zu Hause angekommen rief sie den Notar an, der ihr bei der Übernahme des Cafés geholfen hatte und machte einen Termin aus. Sie drängte ihn, dass es sehr eilig und lebenswichtig sei und schaffte es, einen Termin nach seinen Bürostunden zu bekommen. Tommy zog sich zurück, packte seine Sachen in eine dunkelblaue Reisetasche. Er hatte sich diese eine Tasche als oberste Grenze gesetzt, bei den Dingen, die er mitnehmen würde und er war erstaunt darüber, wie wenig in diese Tasche hineinging.
Es ist nicht viel, was ich wirklich brauche, dachte er, wenn Lea mitkommt, könnte ich sogar mit noch weniger auskommen. Aber es ist noch nicht sicher, ob sie es wirklich durchzieht.

Er nahm seine Uniform vom Sicherheitsdienst aus dem Schrank, betrachtete sie, hängte sie zurück. Nur seine dunkelblaue Jacke mit dem Rückenaufdruck Security würde er vermissen, die einzige Uniform, die er immer gerne getragen hatte. Er stopfte noch eine Jeans in die Tasche, entschied sich für ein einziges Paar Schuhe – das, was er gerade trug. Wenn er Gelegenheit hatte, würde er sich unterwegs ein Paar Doc Marten’s besorgen. Das war das einzige Zugeständnis an die Vergangenheit, die er zulassen würde.
Zahnbürste, dachte er, Nassrasierer. Den Rest bekommt man unterwegs.
Lea stand plötzlich im Türrahmen, nur in der Jeans, die erst auf dem Hüftknochen anfing und einem hellblauen Tankshirt, lehnte den Kopf an den Türrahmen und sagte: „Großer?“
„Hmh?“
„Kann ich ein paar Fotos mitnehmen?“
Tommy warf die Tasche auf das Bett, schob die Schranktür mit dem Fuß zu.
„Du kannst so viel mitnehmen, wie du tragen kannst. Es gibt nur eine Regel und die heißt leichtes Gepäck.“
„Okay.“ Sie drehte sich um, murmelte vor sich hin, dass es bei den Büchern wirklich schwer werden würde. Tommy starrte ihr nach, konnte es kaum glauben, dass sie es so pragmatisch anging und es wie einen Urlaubsausflug plante.
Sie hat es dir angedroht, dachte er, sie hat gesagt, dass sie es durchziehen wird.

Sie aßen chinesisch. Sie hatten sich für drei verschiedene Gerichte entschieden, weil sie sich nicht hatten einigen können, teilten sich alles von einem großen Teller. Lea bevorzugte die Schweinefleischbällchen, kombiniert mit der scharfen Sauce, die eigentlich zu der Ente gehörte. Sie hatten beide Hunger. Es war die letzte gemeinsame Mahlzeit in dem Haus und das wussten sie.
„Ich nehm den Bus“, sagte Tommy, „ich hab mir den Fahrplan schon angesehen, bis um elf Uhr fährt er alle zwei Stunden. Wir treffen uns in genau vierzehn Tagen im Four Points Hotel in Laval. Ich warte dort ab 10 Uhr, nachdem ich gut gefrühstückt habe, bei einem zweiten Kaffee. Du wirst mich schon finden. Von dort aus starten wir erst einmal nach Alaska.“
„Was ist mit den Papieren?“
„Das ist geregelt.“
„Ich hasse Abschiede.“
Was glaubst du, wie’s mir geht, dachte er, verbarg sein schlechtes Gefühl hinter vorgeschobenem Appetit, ich werde ordentlich kotzen, bevor ich losfahre und dann werde ich zwei Wochen lang nicht an dich denken. Eine lange Vorbereitungsphase für unseren Urlaub.
„Das Café werde ich verpachten“, sagte Lea, nahm sich die letzten Glasnudeln mit der Sojasauce, „darum wird sich ein Makler kümmern. Ich will es nicht verkaufen, vielleicht wirft es genug Gewinn ab, dass jemand damit über die Runden kommt. Und die Pacht geht auf ein Konto. Das führt der Notar nach meinen Anweisungen. Er wird ein Auge auf alles haben.“
„Das Haus?“
„Ich schenke es Sondra.“

Sie nahmen nicht wirklich Abschied. Tommy zog umständlich seine gefütterte Lederjacke über, hatte die Tasche bereits vor die Tür gebracht.
„Wir sehen uns in zwei Wochen“, sagte er.
„Wartest du auf mich, wenn ich mich verspäte?“
„So lange ich kann.“
Sie umarmten sich, Lea auf den Zehenspitzen, bemüht nicht zu weinen, um den letzten Kuss nicht zu verwässern, Tommy hielt sie lange fest, als könne er sich letztendlich doch nicht trennen. Als sie sich aus der letzten Umarmung und Berührung lösten, sich ihre Hände lösten, begann Lea doch zu weinen. Die Tränen schlichen sich in ihre Augen, sie bemerkte es zunächst nicht, dann rannen sie ihr Gesicht herunter und der Druck hinter ihren Augen wurde so groß, dass sie glaubte, in ihrem Inneren würde etwas platzen. Tommy hatte ein Taxi gerufen, wollte nicht, dass sie ihn mit dem Cherokee zum Busbahnhof fuhr.
„Keine Szenerie in der Öffentlichkeit“, sagte er, „ich nehme ein Taxi.“
Es brachte ihn in die Lisburn Road zum Busbahnhof, Tommy weigerte sich, auch nur ein Wort mehr als nötig zu sagen, sah sich auch nicht um, als sie vom Haus davonfuhren. Er musste sich auf das Wesentliche konzentrieren. Und in Lewiston sah er sich ein letztes Mal um, betrachtete die Menschen, die verschneiten Straßen und die Häuser. Er fuhr vorbei an vielen Menschen, die er in den Jahren gut kennen gelernt hatte, die er nicht alle mochte, mit denen er aber immer zurecht gekommen war. Er ließ viele Freunde zurück und er versuchte zu verdrängen, dass sie irgendwann erfahren würden, weshalb er Hals über Kopf verschwunden war. Ws er damals getan hatte. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden untereinander reden. „Hättest du gedacht, was hinter Tommy Gallagher steckte? Hat uns alle hinters Licht geführt.“ Sie würden ihn hassen dafür. Und sollte Lea jemals zurückkehren, würde sie eine Menge davon abbekommen.
Tommy kaufte das Ticket nach Montreal, einfache Fahrt, nickte, als ihm gesagt wurde, dass er in Barton, Vermont, gelegen in den wundervollen Green Mountains, umsteigen müsse, um die Buslinie nach Montreal zu nehmen. Die Frau in der Uniform der Busgesellschaft wünschte ihm eine angenehme Reise und Tommy bedankte sich. Er dachte an Lea, aber er wollte nicht an sie denken, weil es in seinem Inneren nagte wie ein offenes Magengeschwür. Für die Reise hatte er sich eines von ihren Taschenbüchern ausgeliehen, eine Sammlung von phantastischen Kurzgeschichten, und als er sich auf der linken Seite im hinteren Bereich seinen Platz suchte, seine Tasche unter den Sitz stopfte, begann er mit der ersten Geschichte, die hieß ‚Repent! Harlequin, said the Ticktockman’.
Der Bus folgte der Route 2 nach Wilton, Rumford und Bethel, in Lancaster machten sie die erste kurze Pause, dann fuhren sie weiter nach Saint Johnsburg, wo sie in nördlicher Richtung auf die 91 wechselten. Tommy las die Geschichte vom Ticktockman und dem Harlequin, schlief mit dem Buch auf der Brust ein und träumte davon. Er wachte auf und wechselte in Barton den Bus. Er dachte über das Schicksal des Harlequins nach, ob er letztendlich gewonnen oder verloren hatte, überquerte die kanadische Grenze in einem neuen Bus und mit neuer Besatzung. Der Bus war halb leer, niemand nahm neben ihm Platz, in seinem Blickfeld saß ein Pärchen mit Strickmützen im Partnerlook und eine Frau mit einem bunt gezeichneten Jack Russell Terrier auf dem Schoß.
Tommy kam es vor, als hätte er Jahrzehnte nicht geschlafen, so müde wurde er während dieser Reise. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, er träumte, der Ticktockman verfolgte ihn mit einem Jack Russell Terrier an der Leine und während er rannte und rannte, überlegte er fieberhaft, wie Kierans Terrier hieß, einer der vielen Hunde, die er zu Hause in Pettigoe, Irland, gehabt hatte – wie hieß dieser kleine kurz- und krummbeinige Ratte, dieser hysterische Kläffer und Kämpferherz vor dem Herrn? Wie hieß er, großer Gott, wie hieß er noch?
In seinem Reisebustraum war es eine verdammt wichtige Frage, aber als er mühsam erwachte, sich vom Traum frei strampelte, fiel diese Frage von ihm ab. Er vergaß den Hund. Es war Nacht, sie hatten auf die 10 gewechselt und fuhren Richtung Westen, hielten in Granby, dem letzten Stop vor Montreal. Tommy stieg mit steifen Knochen aus dem Bus, drehte eine Runde und rauchte seine letzte amerikanische Zigarette.

Er hasste Montreal, so wie er London gehasst hatte. In London hatte er es fast drei Jahre ausgehalten, hatte unter falschem Namen gelebt und gearbeitet, die Heimat in so greifbarer Nähe, dass er, hätte er die Fähre bestiegen, innerhalb von zwei Stunden zu Hause gewesen wäre. Dafür hasste er London, nicht nur für die Millionen von Menschen, den wahnwitzigen Autoverkehr und der Anblick der unbewaffneten allgegenwärtigen Bobbys, die so taten, als seien sie nur existent, um freundlich auszusehen und Touristen weiter zu helfen, während in Belfast, Derry und Portadown alle Polizisten mit Maschinengewehren und Stahlhelmen ausgestattet waren. Einer von Tommys alten Kollegen hatte den persönlichen Plan, einen Schwur gehabt, so lange im Königreich zu bomben, bis auch die Bobbys gezwungen waren, Waffen zu tragen.
Montreal war eine ländliche Großstadt, mit dem Charme alter Bauten und eines modernen Verkehrsnetzes, dort war französisch die Amtssprache und das Leben war angefüllt mit seltsamen Regeln und Gesetzen. Tommy kam in einem kleinen billigen Hotel unter, das mit Touristen aus Europa und Japan belegt war. Er war dort in guter Gesellschaft. Jeder kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten, jeder dachte nur an die wenigen Tage im Jahr, die für den Urlaub reserviert waren und die intensiv und koordiniert verbracht werden sollten, wenn man sie schon in der Stadt der Wahl verbrachte.
Montreal. Wurde er gefragt, erzählte Tommy, er besuche eine kranke Verwandte, und könne noch nicht genau sagen, ob er länger als eine Woche bleiben würde.
„Meine alte Tante ist schwer krank und so, wie es im Moment aussieht, werde ich mich auch um ihre Beerdigung kümmern müssen. Ich bin der einzige Verwandte, den sie noch hat.“
Er musste nicht sehr viel mehr erzählen, keinen Namen der Tante, musste nicht erklären, wo er den ganzen Tag zugebracht hatte. Kam jemand auf die Idee, doch neugierige Fragen zu stellen, machte er nur eine gottergebene Geste und sagte verhalten: „Kranke alte Tante. Arme Frau.“
Die ersten zwei Tage verbrachte er mit sondieren, versuchte herauszufinden, ob ihm jemand über die Grenze gefolgt war und gab sich schließlich damit zufrieden, dass er kein Anzeichen dafür erkennen konnte.
Sein erstes Ziel war Edmunston. Er machte sich auf den langen Weg den Highway 20 hinauf, am St. Laurent Strom entlang, in einem Leihwagen, der bereits vor etwa zwanzig Jahren seine beste Zeit hinter sich gehabt hatte, und die ganze Zeit hoffte Tommy, er würde ihn nicht im Stich lassen. Edmunston lag auf der anderen Seite, wieder in Maine, er erreichte sein Ziel ohne Probleme. Die Stadt war größer als Lewiston, aber durch die Lage in der einsamen nördlichen Gegend von Maine einsam wie eine alte Dachshöhle und bereits im tiefen Winterschlaf. Er suchte dort ein bestimmtes Haus in einer bestimmten Straße. Es war ein kleiner Laden, der vorgab Fisch- und Angelzubehör zu verkaufen und mochte kaum Platz für fünf Kunden bieten. An den Wänden hingen Angeln, Haken, ausgestopfte Fische, Messer und Blinker, Käscher und übergroße Gummistiefel. In den hohen schmalen Regalen stapelten sich Köder, Bücher über Hochseefischen, Fliegenfischen, Angeln für Anfänger, Lachse in Kanada. Es roch nach Staub, Feuchtigkeit und ganz leicht nach Fisch, aber hauptsächlich roch es nach altem Haus. Niemand schien hier in den letzten Jahren etwas gekauft zu haben und es schien auch niemand ein Interesse daran zu haben, etwas zu verkaufen. Bis auf das Fisch-Schild über der Eingangstür und das, was man durch die halb-blinden Fensterscheiben sehen konnte, machte der Laden nicht auf sich aufmerksam. Als Tommy eintrat, den Schnee von den Schuhen trat und die Jacke ein Stück öffnete, gingongte ein Signal über ihm, und jemand aus dem hinteren Teil des kümmerlichen Ladens rief: „Bin sofort da! Sehen sie sich ruhig um!“
Es klang, als würde dort hinten jemand mit Metalleimern kämpfen und Tommy wollte gar nicht wissen, was dort hinten in Metalleimern gehalten wurde. Besser nicht. Er blieb vor der Registrierkasse stehen, die ihren Platz auf einem massiven Holzblock gefunden hatte, der auf der Vorderseite indianische Schnitzereien zeigte. Er sah sich um, wartete geduldig auf den Mann, der diesen Laden führte. Der kam schließlich durch die offene Tür, trug ein helles T-Shirt und ein schwarze Lederweste, das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seiner Stimme war es nicht anzumerken, aber er sah kaum älter als zwanzig Jahre aus, ein glattes, freundliches Gesicht, eindeutig indianischer Herkunft. Er wischte sich die Handflächen an dem T-Shirt ab.
„Hi“, sagte er, „wir haben diese Woche Köder im Angebot. Nicht gerade der Brüller im November, aber wir haben alle um dreißig Prozent reduziert. Noch bis Samstag.“
„Ich hab eine Nachricht bekommen, dass meine Bestellung angekommen ist. Tommy Gallagher.“
„Bestellungen sind Chefsache.“ Er machte eine nickende Kopfbewegung zur Seite und Tommy folgte ihm durch den Lagerraum, vorbei an Pyramiden aus Kartons, Eimern mit lebenden Ködern und einem schnarchenden Hund, einem braunen Labrador.
„Der verschläft jeden Einbrecher“, sagte der junge Mann, „es sei denn, der Einbrecher stolpert über seinen Fressnapf.“
Über eine schmale Hintertreppe kamen sie in die Räume über dem Laden, dort machte nichts wirklich den Eindruck, als würde dort jemand leben, aber als Tommys Begleiter an eine geschlossene Tür klopfte, kam eine Stimme, die ihn hereinorderte. Die Tür öffnete sich und vor Tommys Augen erschien ein Raum, der zunächst nichts von einem Büro an sich hatte; der Blick fiel auf eine Kochnische mit Herdplatten und Kühlschrank, auf einem kleinen Tisch stapelten sich Geschirr, Zeitungen und Gläser, alles unordentlich, aber sauber. Im Raum verteilt waren zwei Schreibtische, aufgestapelte Kartons, in der Ecke stand ein Schlafsofa und von der Decke des Raumes hingen indianische Gebilde. Es mussten hunderte sein, Traumfänger, Masken aus Tierfellen und Federn, gespannte Bögen aus dunklem Holz, Schutzgeister aus Holz und Ton, bunte Kachina-Puppen, aufgehängt an um die Bäuche geschlungene Fäden, das alles war unter der Decke verteilt, baumelte im leichten Windzug. Tommy sah sich um, konnte gerade noch verhindern, dass ihm der Mund offen stand, und reagierte auf diesen Raum mit einem gemurmelten „Was ist das denn hier?“ Es war weder eine Wohnung noch ein Büro – das sah aus wie die Zuflucht des letzten Mohikaners, den es wie auch immer in den hohen Norden von Maine verschlagen hatte. Tommy wandte den Kopf zu dem jungen Mann, der einen Schritt hinter ihm stehen geblieben war. Er hatte in einer Geste, die Tommy zunächst nicht einordnen konnte, an die Tür geklopft, war dann zurückgetreten. Als er jetzt antwortete: „Er ist ein heiliger Mann“, wusste Tommy, was er in dem Gesicht des Indianers sah. Ehrfurcht.
Ehrfurcht vor einem Passfälscher? dachte er, und ein Passfälscher ist ein heiliger Mann? Wo gibt’s denn sowas?
Er trat in den Raum unter die indianischen Schutzgeister und Kultobjekte, roch Druckerschwärze und etwas zimtig-staubiges, was er nicht definieren konnte. Der Mann, der ein heiliger Mann sein sollte, saß hinter dem überladenen Schreibtisch in der Ecke, hatte die Füße hochgelegt und war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Licht kam nur von einer einzigen Glühlampe aus der anderen Ecke des Raumes. Erst, als der Mann die Füße herunternahm, sich erhob und das Licht auf seinem Schreibtisch einschaltete, konnte Tommy erkennen, dass an ihm nichts heiliges war und er entspannte sich. Es war jedenfalls nicht der Daihla Lama.
„Nehmen sie sich einen Stuhl“, sagte der Mann, „Tomas Gallagher. Hab nicht damit gerecht, sie so schnell zu sehen.“
„Nennen sie mich Tommy“, sagte Tommy.
„Ich bin Rick. Ich hoffe für sie, dass sie sich an die Anweisungen gehalten haben.“
„Mir ist niemand gefolgt.“
„Okay.“ Rick schien weder alt noch jung zu sein. Sein Haar war dunkelblond und stellenweise grau, ordentlich geschnitten und ein wenig konfus. Es musste daher kommen, dass man in dieser Gegend nur mit Fellmütze nach draußen gehen konnte. Er war groß und schlank, trug legere Kleidung und alte schwarze Converse Turnschuhe, deren Schnürsenkel ausgefranst waren. Wer über zwanzig trug noch solche Schuhe? Tommy glaubte nicht, dass er einen alten Nostalgiker vor sich hatte. An seinem Schädel zeigten sich einige Spuren von alten Verletzungen, die Verletzung an der Schläfe ließ sein hageres Gesicht asymmetrisch erscheinen. Das Auffälligste an ihm waren seine Augen und seine Hände. Unter anderen Umständen hätte man glauben können, er sei Künstler, ein scharfes beobachtendes Auge und die passenden Hände dazu.
„Weshalb ist ihnen das Pflaster zu heiß geworden?“ fragte er.
„Lange Geschichte“, entgegnete Tommy. Er setzte sich, schob die Beine von sich. Sein Gipsarm war ihm im Weg und er fürchtete, unter den indianischen Staubfängern einen Niesanfall zu bekommen, der ihm die kaum verheilten Rippen und geprellten Nieren explodieren lassen würde.
„Versuchen sie’s kurz zu machen.“ Es war keine Bitte. Diese Stimme sagte, dass man dieser Aufforderung besser nachkam.
Tommy seufzte. „Ich bin schon mit falschen Papieren eingereist und bin immer wieder untergetaucht, bis ich für ein paar Jahre in Lewiston hängen geblieben bin. Jetzt bin ich aufgeflogen. Deshalb brauche ich jetzt einen neuen Namen.“
„Lewiston“, wiederholte Rick, begann zu grinsen und verwandelte sein Gesicht. Mit einmal machte er einen jugendlichen Eindruck, als würde er sich den ganzen Tag mit Baseball und der Frage beschäftigen, wie er das nächste Mädchen seiner Wahl rumkriegen solle, ohne dass seine Eltern etwas davon mitbekamen. „Meine Frau kauft in der Auburn Shopping Mall, wenn wir auf der Durchreise sind. Lewiston ist ein netter Ort zum leben. Hat ein Drogenproblem, aber wer hat das nicht.“
Tommy nickte.
„Aber das ist nicht ihr Problem.“
Wieder nickte er. Er fühlte sich zunehmend unwohl in diesem Raum, mit diesem Schnick-Schnack über seinem Kopf und unter den Blicken des Mannes, der ihm eigentlich nur die Papiere geben sollte. Er war nicht hier um über sein verfluchtes Problem zu sprechen.
„Sie haben meinen Namen von dem Freund eines Freundes und der hat ihnen sicher auch gesagt, dass ich die neuen Papiere nicht selber herstelle sondern nur verteile. Ich nehme die Aufträge entgegen, schicke die Fotos weiter und wenn sie fertig sind, holen die Kunden sie bei mir ab. Entweder hier, in Boston oder in Ft. Lauderdale. Ich bestehe immer darauf, die Kunden kennen zu lernen und ich sage ihnen auch weshalb. Mit meinem Service verschaffe ich vielen Menschen eine zweite Chance und ich will sicher gehen, dass keine verdammten Kinderficker oder noch schlimmeres darunter sind. Nicht jeder hat eine zweite Chance verdient. Zumindest nicht von mir. Sie würden nicht glauben, wie viele Frauen mit ihren Kindern unter neuem Namen untertauchen, um ihren Ehemännern zu entkommen und mir ist es egal, wer das Sorgerecht vor Gericht bekommen hat. Wenn es sich gut anhört, bekommen sie von mir die Papiere.“
„Und wenn nicht?“
„Wickel ich es anders ab.“
„Sie werden belogen ohne Ende“, sagte Tommy, „das muss ihnen doch klar sein.“
„Niemand belügt mich.“ Ricks Grinsen verschwand und er kehrte zurück, dieser ‚don’t fuck with me’ Ausdruck, nicht ohne Humor, nicht unfreundlich, aber immer hart an der Grenze, gefährlich zu werden. Fast hätte Tommy gefragt, wie er es anstellte, nicht belogen zu werden, aber er erinnerte sich rechtzeitig daran, dass er selbst sehr gut in der Lage war, Fragen zu stellen und sicher zugehen, nicht angeschissen zu werden. Es war nur eine Frage der Zeit, deshalb hob er Handfläche der gesunden Hand und sagte: „Meine Vergangenheit hat mich eingeholt. Würde ich allein untertauchen müssen, würde ich es ohne falsche Papiere tun, aber ich bin nicht allein. Deshalb die Papiere für zwei, für mich und meine Freundin. Ich konnte ihr nicht ausreden, mitzukommen. Sie weiß, sie glaubt zu wissen, was auf sie zukommt, aber ich fürchte, sie wird es nicht lange durchhalten.“
„Seltsamer Akzent.“ Rick schob die Ärmel seines blauen einfarbigen Hemdes nach oben, erst den rechten dann den linken, entblößte sehnige und gebräunte Unterarme, und auf ihnen eine erstaunliche Vielzahl von unterschiedlichen Tätowierungen, die sich bis über die Ellebogen hinaufzogen und sicher nicht an den Armen aufhörten. Er machte es sich bequem für eine Unterhaltung, die vielleicht nicht gut ausgehen würde. Tommy fluchte innerlich, hatte gedacht, er würde hier einfach bezahlen und die Papiere mitnehmen. Mit einem solchen Verhör hatte er nicht gerechnet. Darauf hatte Joe ihn nicht vorbereitet.
„Einen ähnlichen Akzent hat mein Großvater auch gesprochen, ein irischer Vollblutgangster aus Chicago. Sein Geschäft waren Kugeln und die Kugeln haben ihn umgebracht. Sie hören sich ähnlich an, auch wenn sie es zu verhindern versuchen. Aber der Akzent ist anders. Sie brauchen mir die Stadt nicht zu nennen, darum geht es hier nicht, sagen sie mir nur, was sie dort getan haben.“
Tommy wollte es ihm nicht sagen; dieser Mann würde eine Menge Geld dafür bekommen, dass er ihm die verdammten IDs aushändigte und er hatte kein Recht, nach seiner Vergangenheit zu fragen und darüber zu richten. Er verharrte einen Moment, wütend und beunruhigt darüber, in welche Richtung sich diese Begegnung bewegte und erwiderte: „Es ist nicht schwer, bei mir noch die letzten Reste eines irischen Akzentes rauszuhören. Und erzählen sie mir nicht, sie hätten keine Erkundigungen über mich eingeholt. Warum erzählen sie mir nicht, was ich getan habe?“
Rick betrachtete ihn eine Weile, schien zu überlegen, wie er auf diese Herausforderung reagieren sollte, ob sich die Mühe lohnte oder ob er das Geschäft als geplatzt ansehen sollte.
„Ich muss ihnen nichts beweisen, Gallagher, sie wollen etwas von mir und nicht ich von ihnen. Ich kann nicht hellsehen, auch wenn Wolf immer behauptet, ich sei ein heiliger Mann, aber wenn sie wollen, dass ich es allein herausfinde, werde ich dort hin stechen, wo es weh tut.“
„Vielleicht sollte ich das Risiko eingehen.“ Er hatte es schnell erwidert, obwohl eine alarmierte Stimme in seinem Kopf dagegen anbrüllte: Bist du wahnsinnig? Geh nicht drauf ein, entschuldige dich, solange du noch Zeit dazu hast! Und eine Stimme, die aus seinem Bus-traum kam und sehr viel leiser war, sagte: Du könntest der Harlequin sein und er der Ticktockman.
Rick schien durch ihn hindurch zu sehen. Tommy entdeckte ein irisches Symbol auf der Haut des Mannes, das Symbol der 20-pence Münze. Er schien über seine irischen Wurzeln nicht gelogen zu haben. Was aber nicht hieß, dass er die republikanische Sache gut heißen würde.
„Verflucht viel Blut überall, nicht wahr? Sie glauben, er könnte auch tot sein. Und obwohl sie sich darüber nicht sicher sind, machen sie sich Vorwürfe. War es ihre Schuld? Ist das der Kern? Nein, der Kern ist, dass er der Sohn eines alten Freundes war. Selber seit Jahren tot, wie die meisten anderen. Als sie vorhin meinen Schädel betrachtet haben, haben sie gedacht, es könnte auch eine Kugel gewesen sein. War es nicht.“
„Wie...“ Tommy starrte ihn an. Er musste sich den Drei-Tage-Bart kratzen, fühlte sich von oben beobachtet.
„Bei mir war’s ’ne Hantel. Glauben sie, das Blutvergießen in Belfast hat sich gelohnt?“
Mariamuttergottesantworteihmnichtaufdiesefrage, bat die kleine leise Stimme in seinem Kopf.
„Sie haben mit Joe telefoniert“, sagte Tommy, „und der hat ihnen das erzählt.“
Statt einer Antwort zog Rick die Schublade seines Schreibtisches auf, entnahm einen unbeschrifteten weißen Umschlag, legte ihn vor sich auf den Tisch. Sein Gesicht war ernst, aber ein belustigtes Funkeln zeigte sich in seinen Augen. In dem einen etwas mehr als in dem anderen.
„Natürlich hab ich etwas herumtelefoniert. Wenn jemand bei mir anruft, der aus Nordirland stammt und neue Papiere braucht, schlägt mein Alarmsystem an. Ich nehme an, dass entweder die Organisation oder die Polizei hinter ihnen her ist. Die britische Regierung? Die Einwanderungsbehörde mit Sicherheit, früher oder später. Hier sind die Papiere. Wenn sie den vereinbarten Betrag bei sich haben, ist das jetzt der richtige Moment zur Übergabe.“
Tommy griff in die Innenseite seiner Jacke, holte eine Rolle grüner Scheine hervor und platzierte sie neben dem Umschlag.
„Sie hätten mich fast reingelegt“, sagte er, bewegte die Finger des gebrochenen Arms, der unter dem Gips juckte, „ich hoffe, der nächste Kunde wird wieder mehr Spaß machen.“
Er griff nach dem Umschlag mit den Papieren, ebenso griff Rick nach dem Geld, löste das Gummiband und begann mit geübten Fingerbewegungen die Geldscheine zu zählen. Die Bedingungen, die er gestellt hatte, waren gnädig erfüllt worden, dass sein Vorname bestehen blieb und sie den selben Nachnamen bekamen. Die Papiere sahen gut aus. Er war zufrieden.
Rick ließ das Geld in seiner Schublade verschwinden, sah Tommy stirnrunzelnd an.
„Das ist kein Spaß“, sagte er, „ich muss sicher sein, dass hier niemand reinkommt, der von den Cops verkabelt worden ist, um mich hochgehen zu lassen. Wolf vorne im Laden hat eine gute Nase für falsche Typen, aber er ist nicht perfekt. Er führt nur den Laden. Kommt morgen jemand vorbei, bin ich nicht mehr hier. Meine Familie lebt in Ft. Lauderdale und ich bin viel unterwegs. Ich bin seit vierzig Jahren unterwegs. Und die letzten zehn Jahre habe ich in New Mexico verbracht, mit kurzen Unterbrechungen, um meine Familie zu besuchen. New Mexico ist perfekt, wenn man den Dingen auf den Grund gehen will. Wolf ist von dort.“
„Weshalb erzählen sie mir das?“ Tommy steckte die Papiere sicher in die Tasche, in der zuvor das Geld gewesen war.
„Keine Ahnung“, sagte Rick mit einer wegwerfenden Handbewegung, „wo kamen die Jelly Beans her? Keine Ahnung. Ich hoffe, die erwischen sie nicht.“
Tommy stand auf, wandte sich zum gehen, fand es ungeeignet, so etwas wie auf Wiedersehen zu sagen, sagte nur „danke“ und wäre zurück in den Laden verschwunden, wenn Rick nicht noch etwas gemurmelt hätte.
„Jeb“, sagte er und der plötzliche Akzent in seiner Stimme klang weder falsch noch aufgesetzt.
Tommy lief eine Gänsehaut den Rücken herunter und seine Eingeweide zogen sich zusammen. Seltsam war, dass sein Bauch und dann erst sein Kopf reagierte. Er drehte sich um. Rick hatte wieder die Converse auf den Schreibtisch platziert, den rechten übergeschlagen, blinzelte Tommy zufrieden an.
„Das war der Name des Hundes. So ein kleiner gefleckter, weiß mit schwarz und braun. Kurze krumme Beine. Jeb. Aber das war nicht der Hund, den Kieran mit nach Boston genommen hat.“
„Nein“, sagte Tommy, fühlte sich gelähmt und antwortete automatisch, „das war der irische Wolfshund, Trash. Den hat er mitgenommen.“
„Hunde“, seufzte Rick, „ich wünschte, ich könnte ohne sie leben. Aber das kann ich nicht.“
Bevor er noch mehr zu hören bekam, was ihm den Boden unter den Füßen wegzog, machte er lieber, dass er weg kam. Er hätte es niemals so genannt, aber er flüchtete – er flüchtete vor diesem Mann, der mal eben etwas aus dem Hut gezaubert hatte, was er nicht auf normalem Weg hatte erfahren können. Niemals. Über Kierans Hunde hatte er mit niemandem gesprochen – er hatte nur an sie gedacht.
Mir selber ist noch nicht mal der Name des kleinen Terriers eingefallen, dachte er, verdammte Scheiße, den hat er mir genannt. Er hat gesagt, er könnte nicht hellsehen, aber was zum Teufel war das gerade?
„Haben sie alles, was sie brauchen?“
Tommy sah den jungen Mann, den Rick Wolf genannt hatte, irritiert an, schüttelte den Kopf, dann nickte er.
„Sie können mir nicht sagen, was... wie es sein kann, dass...“ Er brach ab. Seine innere Stimme sagte ihm sehr eindringlich, dass er sich gerade lächerlich machte.
Ich verschwinde jetzt, dachte er, ich will gar nicht mehr wissen, was dort passiert ist.
Wolf war gerade dabei, Blinker und Angelhaken in einer Schublade zu sortieren, machte eine kleine lockende Geste zu Tommy hinüber und flüsterte: „Was hat er ihnen gesagt?“
„Etwas, was er unmöglich wissen konnte. Absolut unmöglich.“
„Ich sagte ja, er ist ein heiliger Mann. Die Geister sprechen zu ihm. Nicht immer, nur ab und zu und sie erzählen ihm Dinge. Kleine Dinge. Er hat eine besondere Verbindung zur anderen Welt.“
Tommy wünschte sich plötzlich so sehr ein Bier, dass er alles dafür getan hätte. Wäre er in der Nähe einer Bar gewesen, hätte er nicht lange darüber nachgedacht, was es für Konsequenzen hatte. Sein Mund war ausgetrocknet. Er hatte nicht nur Durst, er fühlte sich knochentrocken.
„Sagen sie“, begann er, „sie haben nicht zufällig etwas zu trinken? Ich bezahle es auch.“
Wolf nickte, bückte sich unter die Theke neben sich und stellte eine 0,5 Literflasche Diet Coke vor Tommy.
„Nicht das, was ich mir vorgestellt habe“, sagte er, „aber ich nehme sie.“
„Sie sind unser Gast“, sagte Rick von der Hintertür her. Wolf grinste ihm entgegen.
Tommy drehte sich zu ihm hinüber, beobachtete, wie der braune Labrador neben Rick erschien, mit der Rute wedelte und sich im Verkaufsraum wieder zum schlafen hinlegte.
Erzähl mir jetzt bloß nichts darüber, dass ich mit dem Saufen aufgehört habe, dachte Tommy.
„Ich hätte noch was für sie gehabt“, sagte Rick und Tommy stöhnte innerlich auf, als habe er es geahnt, „aber ich konnte es nicht verstehen. Machen sie sich keine Gedanken deswegen, wird schon alles gut laufen.“
„Versuchen sie, wie ein Gebrauchtwagenhändler zu klingen?“
„Ich hatte noch nie was mit Autos zu tun“, sagte Rick. Er sagte nicht die Wahrheit. Tommy konnte es an seinen ruhigen Augen erkennen – er war ein verdammt guter Lügner, routiniert und ohne die verräterischen Anzeichen, und gerade daran erkannte er die Lüge. Aber er sagte nichts deswegen.
Er verabschiedete sich, ließ den Rest der Coke im Laden. Das ganze war eine alberne, hirnverbrannte Idee, diese Geistergeschichte war absolut verrückt. Diese Geschichte war Humbug – sie hatten ihn kräftig auf den Arm genommen und hatten vermutlich den ganzen Abend etwas davon, sich darüber zu amüsieren. Vollkommen egal. Hauptsache, er hatte die Papiere, die so gut waren wie echte, er hatte sie teuer bezahlt, was bedeutete, dass er niemandem etwas schuldete.
Er überquerte die Grenze nach Kanada, versuchte sich durch das Radioprogramm abzulenken, summte zu einigen Songs, deren Melodien er kannte, aber deren Lyrics er vergessen hatte. Mochte jemand wie Rick das Leben auf den Highways lieben, er hasste es. Sein Hintern war nicht dazu geschaffen, sich hinter dem Lenkrad platt sitzen zu lassen. Tommy legte eine Pause ein, schlenderte um den Leihwagen und rauchte eine Zigarette. Das Radio dudelte weiter vor sich hin und Tommy hörte undeutlich einen Song, den er noch nie hatte leiden können, er schnippte die Zigarette in den Schnee und beugte sich in den Wagen, um das Radio auszuschalten oder zumindest einen anderen Sender zu suchen, als ihm der Moderator der Sendestation zuvorkam. Tommy steckte mit dem Oberkörper im Wagen, den Kopf in der Höhe des Radios und er hörte eine kurze Ansage, die er zunächst nicht verstand, die ihm aber mit jeder Sekunde klarer wurde. Der Schweiß brach ihm aus und ihm wurde schwindelig – er wollte so schnell wie möglich von diesem Radio fortkommen, konnte sich aber nicht bewegen. Es war nicht möglich, dass er etwas hineininterpretierte in etwas ganz normales wie eine Ansage des nächsten Songs, ein Kommentar des Moderators auf aktuelles Geschehen. Es war abstrus, vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und Tommy hätte auch schwören können, dass der Moderator niemals gälisch gesprochen hätte. Endlich gehorchten ihm seine Beine wieder, er entfernte sich rückwärts von dem Wagen, keuchend atmend und mit schockweißem Gesicht. Unmöglich, das zu akzeptieren, was er gerade gehört hatte. Unmöglich, dass dieses Geistergefasel Wirklichkeit sein konnte.
Hab ich da eine Tür geöffnet ohne zu wissen, was sich dahinter verbirgt? dachte er, aber sein Instinkt sagte ihm, dass sich diese Art von Nachricht nicht wiederholen würde. Er hatte eine Nachricht geschickt und eine kurze Antwort erhalten. Das war alles. Er würde nicht auf Ricks Spuren wandeln, der wer weiß was in New Mexico getan hatte, um dort hinzukommen, wo er heute war.
Oh Gott, dachte Tommy, ich werde wohl nie wieder in Ruhe schlafen können, wenn ich es nicht schaffe, diese Stimme aus dem Radio zu verdrängen.
Aber er schaffte es. Schon nach kurzer Zeit hatte er kaum noch Gelegenheit, an diese Stimme zu denken und war zufrieden, wenn er wenigstens drei bis vier Stunden Schlaf fand. Sein Atem beruhigte sich wieder und als er sich hinter das Lenkrad setzte, hatte er nur ganz kurz das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Es wird dich nicht beißen, sagte er sich, zögerte trotzdem, den Bedienungsknopf des Radios zu berühren. Er schaltete es aus. Und die Gedanken kreisten endlos um die Fragen, bis er wieder in Montreal war und weitere Vorbereitungen traf: Wem gehörte diese Stimme, die er gehört hatte? Kieran hätte er sofort erkannt, ebenso jeden anderen der Männer, mit denen er so eng zusammengelebt hatte, aber diese Stimme war ihm vollkommen unbekannt. Körperlos und ohne ein Gesicht. Und er fragte sich, ob diese Stimme ihm wohlgesonnen war. Hätte diese Stimme ihm noch mehr verraten, hätte er in diesem Augenblick dem Radio eine Frage gestellt?
Zurück in Montreal wechselte er die Unterkunft, kaufte einen uralten Vauxhall Victor Station Wagon, der zweihunderttausend Meilen gelaufen war und sich anhörte, als würde er nur noch auf dreieinhalb Zylinder laufen, aber er hatte Winterbereifung und war billig.
Er glaubte zwei Tage später, Terry auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen zu haben. Er ging kein Risiko ein - er besorgte sich geeignete Waffen und hielt die Augen offen. Er hatte fest damit gerechnet, dass sie ihm auf die Schliche kommen würden und war froh darüber, dass es passierte, als Lea noch nicht da war. Was immer er tun musste, es war besser, wenn sie davon nichts wusste und sie damit nicht in Berührung kam.
Es wird mal wieder dreckig, dachte er, und das bringe ich schnell hinter mich. Aus Terry wird Geschichte, ebenso wie Tommy Gallagher zu Geschichte wurde.
Der Agent, der Tommy nur als Terry bekannt war und für immer Terry bleiben würde, trat ihm am frühen Morgen gegenüber, als er aus dem nahen Supermarkt kam und sein Frühstück nach Hause trug. Tommy war dick vermummt, mit Strickmütze und hochgeschlagener Parkakapuze, bewegte sich langsam und wie noch halb im Schlaf, die Papiertüte im Arm und die Abkürzung durch die Seitengasse wählend. Es war die Abkürzung zu seinem angemieteten Haus und er nahm sie jeden Morgen. Terry hatte sich darauf verlassen und stellte ihm sich dort gegenüber.
„Du hast gewusst, dass ich dich finden würde.“
„Es überrascht mich nicht wirklich.“
„Kanada war gut ausgesucht. Quebec wird dich nicht ausliefern, wenn wir den Antrag stellen würden.“
Tommy rückte die Papiertüte in seinem Arm zurecht, verlagerte das Gewicht auf das andere Bein und erwiderte: „Du glaubst doch nicht, dass ihr überhaupt einen Antrag stellen werdet. Wen wollt ihr ausliefern lassen?“
Unter der Tüte hielt er die Waffe mit zwei Fingern, musste die Lebensmittel nur noch einmal verlagern, um sie schussbereit in der Hand zu halten.
„Ich bin offiziell lange begraben.“
„In Lewiston und Umgebung sucht man noch immer nach zwei verschwundenen britischen Staatsbürgern. Sollte rauskommen, was mit ihnen passiert ist, haben wir dich bei den Eiern.“
„Das solltest du mir nicht erzählen. Und wenn du mich abservieren willst, solltest du dafür sorgen, dass ich dich vorher nicht zu Gesicht bekomme.“
Terry lachte und es klang erstaunlich ehrlich und fröhlich. Niemand hätte Verdachte geschöpft, wäre er in diesem Moment vorbeigekommen und um den Schein zu wahren, legte Tommy ein fröhliches Grinsen auf und tastete weiter nach der Waffe, sehr langsam und vorsichtig, so unauffällig wie möglich.
„Ich muss dich nicht abservieren“, sagte Terry, „ich weiß, dass dich die Typen, die Harney nach mir anheuern wird, deinen Arsch innerhalb von sechs Monten erwischen werden. Ich bin raus aus der Sache.“
Terry sah sich halbherzig um, nickte zu einem Mauervorsprung hinüber. „Setzen wir uns. Mein Knie macht mir zu schaffen.“
„Was soll das heißen, du bist raus?“
Unter normalen Umständen hätte Tommy sich nicht zu einem Plausch auf eine Mauer gesetzt, mit einem Mann, der über Monate versucht hatte, ihn in die Finger zu kriegen. Aber das hier war etwas anderes – sie befanden sich auf neutralem Boden, hatten sich eine Auszeit genommen. Terry begann zu erklären und was er erzählte, ließ Tommy darüber nachdenken, wie wenig er über diese Sache, die er ausgelöst hatte, überhaupt wusste.
„Ich hätte kein Problem damit gehabt, dich aufzuspüren und im passenden Moment abzuknallen“, sagte Terry nüchtern, „es hätte viele Gelegenheiten dazu gegeben. Ein Schuss und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber Harney wollte unbedingt, dass es anders läuft. Er wollte die Informationen von dir oder zumindest die Betätigung, dass du keine Information hast. Das hat mir von Anfang gestunken an der Sache. Ich bin Soldat, aber ich bin kein Soldat in einer verdammten südamerikanischen Bananenrepublik, wo sich Politiker das Recht kaufen können, die Gesetze zu beugen. Was in den 70ern und 80ern passiert ist, sollte man nicht endlos weiterführen. Und außerdem ist es immer nach hinten losgegangen, wenn man es im ganzen betrachtet. Man hätte die Jungs damals nicht verhungern lassen müssen für nichts und wieder nichts. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Ich war jedenfalls mit Kidnapping und Folter nicht einverstanden, aber die beiden Kollegen waren der Meinung, dass es eine angemessene Methode sei. Ich hab mich abgesetzt, als der Befehl von Harney kam. Er hatte die Hosen gestrichen voll – stündlich kamen neuen Anschuldigungen rein und die Presse wurde immer heißer auf die Geschichte. Sinn Fein streute sehr intensiv Gerüchte und Drohungen und sie trieben ihn damit aus seinem Loch. Er gab den Befehl, dich einzusammeln und auszuquetschen und ich hab die Bremse gezogen. Hat mir vermutlich den Arsch gerettet.“
„Eher weniger“, erwiderte Tommy, „gegen drei Mann hätte ich keine Chance gehabt.“
„Harney gibt nicht auf. Er steht kurz davor, seines Amtes enthoben zu werden, und er weiß genau, dass es kein Weg mehr zurückgibt. Er hat sich zu tief hineingeritten. Aber selbst, wenn sie ihn zwingen, sein Amt niederzulegen, wird es ihn nicht daran hindern, seine Männer loszuschicken. Er hat noch sehr viele alte Kontakte und ich muss dir nicht sagen, was das für skrupellose käufliche Arschlöcher sind, die er anheuern wird.“
„Du willst mir sagen, dass sie mich finden und erledigen werden, wenn du schon in der Lage warst, mich innerhalb von Wochen aufzuspüren.“
Es wurde kalt auf dem gemauerten Vorsprung, Tommy wurden die Hände und Füße steif und kalt, außerdem fror ihm der Hintern ein.
Kein Wort wegen Lea, dachte er, er weiß nicht, dass wir uns treffen werden. Sie steht nicht im Mittelpunkt seines Interesses.
Terry rieb sich die Hände, knetete an den Fingern herum.
„Ich kann dich nicht warnen. Wir werden niemals an einem Strang ziehen, dazu ist auf beiden Seiten zu viel passiert, aber ich hatte das Gefühl, dir sagen zu müssen, dass ich an dieser Entwicklung nicht beteiligt war. Ich werde auch weiterhin versuchen, mir meine Soldatenehre zu bewahren. Das ist der einzige Grund, weshalb ich hier bin. Vermutlich hast du dir neue Papiere besorgt. Tauch irgendwo in Kanada unter und vergiss die alte Heimat. Vergiss den Kampf. In sechsunddreißig Stunden bin ich wieder auf der Insel und ich werde bedauern, wenn ich die Nachricht bekommen werde, dass sie dich erledigt haben. Es gibt nicht mehr viel prinzipientreue Gegner deines Kalibers.“
Tommy machte ein abschätziges Geräusch. „Piss mir nicht auf den Rücken und erzähl mir, es würde regnen“, sagte er, „erzähl mir nichts vom Defizit an potentiellen Grabenfeinden.“
„Ich wollte nur sagen, dass ich lieber gegen einen bekannten Feind kämpfe.“
Tommy nickte. Natürlich kämpfte es sich besser gegen einen Feind, den man einschätzen konnte, das machte die Sache sehr viel einfacher.
„Erzählst du mir, wie du den beiden entkommen bist?“
Irgendwann einmal, dachte Tommy, wenn Zeit dazu ist. Und mir nicht die Zeit unter den Nägeln brennt.
Sehr knapp sagte er: „Wir waren nur zu zweit. Tweedle-dum war unterwegs und ich hab Tweedle-dim einen Herzanfall vorgetäuscht.“
„Sie haben dich unterschätzt“, sagte Terry, „haben gedacht, dass der alte Kriegsgaul die Tricks vergessen hat.“
 
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