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11 Seiten

Im Tiefen.Rausch

Romane/Serien · Schauriges
Verführerisch und unheimlich zugleich.
Eine Symbiose aus Schwarz und Weiß.
Aus Dunkel und Licht.
Und wie schon so viele Male zuvor, würde auch diesmal der Wahnsinn siegen…

Nun stand sie wieder vor diesem unheimlichen Gebäude, welches schon längst von Ranken zugewuchert war und eingezäunt und versperrt von uralten Bäumen. Die meisten Fenster im untersten Geschoss waren zerschlagen, oder mit Brettern zugenagelt worden. Die Fenster in den oberen Etagen waren zumeist noch intakt, aber schon längst verdreckt vom Staub und Smog der Jahrzehnte. Es schien fast so, als würde dieses altehrwürdige Gebäude sein Inneres verstecken zu wollen.
Hinter vorgehaltener Hand wurden sich Geschichten über diesen Ort erzählt.
Grausame Geschichten, zumeist der Phantasie der Alten entsprungen, und trotzdem umgab das Haus eine dunkle Aura.
Die Wände waren verfallen und das Dach undicht, aber trotzdem war es noch so unglaublich präsent und erhaben, das sie jedesmal eine Gänsehaut bekam, wenn sie davor stand.
Schon einige Male hatte sie an diesem Ort gestanden und auch diesmal sträubten sich all ihre Nackenhaare beim Gedanken daran, das Haus zu betreten und sie war kurz davor, wieder umzukehren. Doch diesmal würde sie das Grundstück betreten, mehr noch, sie würde weitergehen, sogar hineingehen. Denn schließlich war es für sie ein Schulprojekt, das sie für ihren Abschluss benötigte.
Jessy hatte sich vorgenommen eine Ausarbeitung über die Geschichte dieses Hauses zu machen. Sie hatte schon ziemlich viel herausgefunden über die ehemalige Irrenanstalt. Früher, als das Gebäude noch als Anstalt diente, hatten die Ärzte und Betreuer die Insassen geschlagen und misshandelt. Grauenhafte Experimente wurden an ihnen durchgeführt, sie wurden bis in den Tod und noch weit darüber hinaus gefoltert. Und seitdem, so erzählten sich die Leute aus der Stadt, lastete ein Fluch auf diesem Haus. Jeder der dieses Gebäude einmal betritt, hieß es, sollte nie wieder das Tageslicht sehen. Er würde gefangen sein im Inneren des Gebäudes.
Für immer.
Soweit die Legenden.
Zugegeben wahrlich erschreckend.
Aber natürlich waren sie nicht alle Erzählungen wahr, konnten nicht wahr sein, so wie es bei Legenden und Geschichten eben üblich war.
Trotzdem waren auch die Fakten mehr als beunruhigend.
Seit über Fünfzig Jahren nun stand das riesige Gebäude leer und wurde nicht mehr genutzt. Stand einfach da auf dem Berg und warf einen dunklen Schatten über die Stadt. Aber es wurde nicht abgerissen und schon gar nicht ausgeräumt. In der Anstalt schien alles noch so zu sein, wie es vor fünfzig Jahren war. Die Gründe dafür waren mehr als schleierhaft. Vielleicht war es der Aberglaube der Bürger, wahrscheinlicher war aber, dass der Stadt das Geld fehlte. Aber schon seit so langer Zeit?
Wahr war aber auch, dass einige Kinder und sogar ein Polizist in diesem Haus verschwunden waren. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Das alles war vor drei Jahren passiert. Seit dem herrschte Stille um das Gebäude.
Bedrückende Stille.
Bis heute...
Jessy ging einige Schritte weiter auf das Haus zu, vorbei an dem schon längst versiegten Brunnen. Das Einzige, was ihr für ihre Ausarbeitung jetzt noch fehlte waren einige Fotos des Hauses. Von außen und natürlich auch von innen. Sie zog ihren Fotoapparat aus der Hosentasche und machte ein Foto des Hauses.
Einige Tropfen landeten erst auf dem bröckligen Asphalt dann auf ihrem Kopf. Sie verzog das Gesicht und sah nach oben. Der Himmel hatte sich verdunkelt und eine stahlgraue Wolkenwand bäumte sich nun vor ihr auf. Es begann leicht zu regnen.
Ein Teil des Dachstuhls war abgebrannt. Das war 1951 passiert als die Insassen der Klinik revoltiert hatten und einige Schwestern und den Oberarzt umbrachten. Einer der Geisteskranken hatte den Arzt bei lebendigem Leibe verbrannt und sich danach selbst angezündet. Noch während er verbrannte, hätte er einen Fluch ausgesprochen und sich dann aus dem letzten Stockwerk gestürzt. Genau in dem Moment, als er auf dem Boden aufschlug, hörten die vergoldeten Wasserspeier des Brunnens auf, Wasser zu spucken.
Das alles war jedoch nicht mehr als ein Teil der Legende, aber als sie sich nun den verrußten schwarzen Dachstuhl ansah, begann sie daran zu zweifeln, dass wirklich alles nicht mehr als eine Lüge war.
Langsam sah sie über die oberen Stockwerke des Hauses hinweg. Der Putz schimmelte schon längst und bröckelte an vielen Stellen ab. Plötzlich zuckte sie zusammen.
War das da gerade eben hinter einem der Fenster eine Gestalt?
Nein, unmöglich! Das waren nur der Ruß auf den Scheiben der Fenster und das Licht der Sonne, was sich in irgendwas spiegelte.
Sie ging weiter, wenn auch deutlich langsamer als zuvor.
Urplötzlich musste Jessy an die Warnungen ihrer Lehrerin denken, welche ihr davon abgeraten hatte, in dieses Haus zu gehen. Sie war förmlich hysterisch geworden und hatte sie angeschrien und grob festgehalten.

Rot…
…ein stechend roter Schmerz flimmerte durch ihre Gedanken. Da war noch etwas gewesen, aber sie erinnerte sich einfach nicht mehr daran.
Konnte sich nicht daran erinnern.
Konnte nicht.
Konnte.
Wollte…

Aber Jessy hatte nicht nachgegeben und würde es auch jetzt nicht tun. Jetzt erst recht nicht. Wenn es so viele Geheimnisse um diese frühere Anstalt gab, dann war es endlich an der Zeit, sie zu lüften.
Das Mädchen stand vor der Tür. Über den Eichenholzrahmen des Eingangs stand in goldenen Lettern der Name der Anstalt.
Brickton Hall.
Eines jedoch irritierte das Mädchen etwas. Das Gold in den Buchstaben war noch wie neu, kein bisschen vergilbt, geschweige denn abgeblättert.
Jessy fotografierte den goldschimmernden Namen der ehemaligen Anstalt.
Langsam streckte sie die Hand aus und war gerade im Begriff den Türknauf zu berühren, als plötzlich ein Schlag durch ihren Arm zuckte. Sie schreckte zurück und Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie war der Ohnmacht nahe, taumelte stöhnend ein paar Schritte zurück, konnte sich aber wieder fangen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Das Mädchen atmete durch, das Gefühl des Unwohlseins war so schnell verflogen wie es gekommen war, aber trotzdem fühlte sie noch etwas Anderes.
Etwas sehr seltsames. Eine Art Falschheit in sich selbst, so als würde sie nicht hierher gehören, als wäre das Haus vor ihr etwas völlig anders als der Rest der Welt.
Abgeschnitten von allem Anderen.
Einsam…
…Ausgestoßen.

Rot…
…und ein anderes Ich in einer anderen Zeit.
Schwarz und Weiß.
Dunkel und Hell
Alles zur Einheit verwischt und untrennbar miteinander verflochten…

Sie war verunsichert, mehr als je zuvor. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zum aufgeben. Sie musste es durchziehen.
Hier und jetzt.
Das Mädchen berührte den Türknauf und im selben Augenblick schallte ein erbärmlicher Schmerzensschrei durch den Raum hinter der Tür. Vielleicht war es auch nur das Knarren einer alten Holzplanke gewesen, oder der aufkommende Wind, trotzdem zuckte sie zusammen und verharrte in der Bewegung, in der sie sich gerade befand.
Sie stand eine Weile so da, konnte nicht sagen, für wie lange, doch dann packte sie die Abenteuerlust.
„Ich muss das jetzt machen.“, flüsterte sie sich selbst zu. Die Hand immer noch am Türgriff, drehte sie sich noch einmal um.

Rot…
Mitten im Rot.
Ein letztes Mal?

Und wieder schüttelte sie verständnislos den Kopf. Zuerst fiel es ihr nicht auf, aber dann wusste sie, was sich veränderte hatte.
Die Bäume hatten alle ihre Blätter verloren. Vorhin, als sie gekommen war, war das noch nicht so gewesen. Sicher, es war Herbst, aber so etwas...
Sie machte sich keine weiteren Gedanken darüber und öffnete die Tür.
Und wieder war da dieser Schrei. Diesmal lauter und ängstlicher als zuvor. Aber gleichzeitig auch bedrohlich und flehend.
Jessy zuckte zusammen.
Erneut.
Hatte sie sich das etwa nur eingebildet?
War das eben nur in ihrem Kopf geschehen?
Aber das konnte kein Knarren gewesen sein und auch nicht der Wind, das eben war eindeutig ein Schrei.
Langsam wurde das hier etwas zu unheimlich. Sie würde ein paar Fotos machen und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden. Der Fluch würde sie nicht einholen.
Nachdem sich ihre Augen an die Düsternis im Haus gewöhnt hatten, sah sich das Mädchen um. Alles hier war von einer ziemlich dicken Schicht aus Staub bedeckt und ließ die Dinge hier blass und unwirklich wirken. Eben gerade so, als würden sie nicht wirklich hierher gehören, als wären sie gefangen an diesem verfluchten Ort.
Sie stand ganz offensichtlich in der Empfangshalle. Links von ihr befanden sich die Anmeldung und eine weitere Tür, die jedoch mit Brettern vernagelt war. Auf der anderen Seite des großen, leeren Raumes war noch eine Tür, diese war allerdings offen. Und bei genauerem hinsehen erkannte Jessy auch Spuren im Staub auf dem Boden, welche in dieses Zimmer führten. Es waren Menschenspuren, das erkannte sie, ziemlich Kleine, die eines Kindes wahrscheinlich. Vielleicht stammten die Schreie von der Person, die hier entlang gegangen war. Denn die Spuren waren ziemlich frisch, wahrscheinlich war sie nicht allein hier im Gebäude.
Diese neue Situation gab ihr ein etwas sichereres Gefühl, wenn auch nur für einige Augenblicke.
So leise wie möglich und mit zitternden Knien, folgte sie den Kinderspuren in den rechten Raum.
Auch dieses Zimmer war weitestgehend leer und mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Aber eben nur fast leer, denn es befanden sich zwei Dinge in diesem Zimmer, die nahezu grotesk wirkten. In der Mitte des Raumes befand sich ein mit der Rückseite zu ihr stehender blutroter Sessel mit einer unglaublich hohen Lehne. Dem Sessel gegenüber stand ein uralter Fernseher, in welchem rauschend das Testbild lief. Das Mädchen konnte kein Kabel sehen, welches vom Fernseher wegführte. Das monotone Rauschen des Fernsehers, wirkte in der ansonsten so erdrückenden Stille unglaublich laut und raubte ihr fast den Verstand.
Das surrende Geräusch drang gewaltsam in ihren Kopf ein, schien ihr etwas sagen zu wollen.
Etwas Wichtiges.
Doch sie konnte nicht zuhören, zu absurd waren die Worte, zu unwirklich. Und viel zu ängstlich war sie selbst.
Beide Gegenstände waren frei vom Staub, als würden sie gar nicht in dieses Zimmer gehören.
Plötzlich ertönte ein knarrendes Geräusch aus dem Sessel und es stand ein kleiner Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren auf und drehte sich zu ihr. Im selben Augenblick verschwand das Testbild und das Fernsehgerät ging aus.
Sichtlich erschrocken und verwirrt sah Jessy den Jungen an. Doch der Knabe zeigte keine Reaktion, schien einfach durch sie hindurch ins Leere zu starren. Er war ungeheuer blass und sah mit seiner altmodischen Kleidung aus, als würde er aus einem anderen Jahrhundert stammen und wäre schon längst gestorben.
Schließlich sah er zu ihr auf und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.
„Was hast du erwartet, als du hier rein kamst?“, fragte er mit der freundlichsten Stimme, die Jessy jemals gehört hatte. „Das alles ganz normal ist? Denke daran, an welchem Ort du dich hier befindest.“
Es dauerte einige Zeit, bis Jessy sich wieder gefasst hatte und sie überhaupt mitbekam, dass der Junge offensichtlich zu ihr sprach. Sie öffnete den Mund, um dem Jungen zu antworten. Doch dieser schüttelte nur den Kopf und hielt sich den Zeigefinger vor den Mund.
„Jetzt nicht, für Fragen ist später noch genug Zeit.“, dann veränderte sich seine Stimmlage. Er wurde ernst, fast schon bösartig. „Und jetzt lauf, renn so schnell du kannst und komm nie wieder hierher zurück. Sonst ist es zu spät für dich... so wie es schon längst zu spät für mich ist.“ Mit diesen Worten rannte der Junge blitzschnell an ihr vorbei und raus aus dem Zimmer. Als er an ihr vorbei flitzte, folgte ihm ein kalter verderbender Windhauch.
So schnell wie es in dieser absurden Situation möglich war, folgte sie dem Jungen. Doch als sie das Zimmer verließ, war er schon verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Was angesichts ihres Verfolgungstempos eigentlich unmöglich war. Er hatte keine Fußspuren hinterlassen und die Ausgangstür war auch noch verschlossen. Wo sollte er also hingelaufen sein?
Hätte sie bemerkt, dass die Fußspuren von eben auch verschwunden waren, wäre sie vielleicht umgekehrt und hätte die Anstalt verlassen.
Doch stattdessen drehte sie sich wieder um und was sie nun sah, ließ Jessy am ganzen Körper zittern und löste einen Brechreiz in ihr aus, den sich kaum zurückhalten konnte.
An der Deckenlampe; die vorher noch nicht da gewesen war, da war das Mädchen sich vollkommen sicher; hing an einem Seil der blutige Leiche eines Jungen.
Dieses Jungen!
Auf dem Boden unter ihm befand sich eine große Blutlache, welche sich mit dem Staub vermischt hatte und so eine zähflüssige Masse ergab. Und immer noch tropfte das Blut von seinem Körper herunter auf den Boden.
In diesem Augenblick der völligen Bewegungsunfähigkeit schaltete ihr Gehirn ab und unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf.

Rot…
…wie Blut.
„Wer ist dieser Junge?“ „Unwichtig.“
„Wieso hat er keine Fußspuren?“ „Aber die hat der doch.“
„Wie kommt seine Leiche hierher?“ „Wie kommst Du hierher?“
„Warum hat er sich erhängt?“ „Der Wahnsinn hat ihn eingeholt, denn am Ende siegt immer der Wahnsinn.“
...

Jessy griff sich an den schmerzenden Kopf. In ihren Gedanken pochte es nur noch, alles schien sich zu drehen.
Viel zu schnell.
„Ist das der Fluch? War das denn wirklich alles die Wahrheit?“, flüsterte sie in sich hinein. Aber keine Antwort brachte ihr das Wissen, dass sie so dringend gebraucht hätte.
Und plötzlich bewegte sich der Kopf des toten Jungen. Er öffnete die Augen und sah sie eindringlich an.
„Natürlich.“, antwortete er.
Ungläubig sah sie zu dem toten sprechenden und blutverschmierten Jungen hoch.
„Bin ich denn verrückt?“
Der Junge sah sie verständnislos an. „Wärest du sonst hier?“
Jessy wollte gerade etwas antworten, als es unter ihr knackte. Das Knacken verwandelte sich in ein Ächzen und Stöhnen und schließlich in ein ohrenbetäubendes Krachen. Noch bevor sie begriff, was eigentlich geschah, stürzte sie. Scheinbar unendlich lang und tief und als sie schließlich aufschlug, wurde es schwarz um sie herum.
Nur noch Schwärze...
Und Schmerzen...
Die Schmerzen wichen... und wandelten sich in Taubheit....
Gleichgültigkeit und schließlich in....
Vergessen...
Vergessen...
Entschwinden...
Ein Tunnel und ein...
Licht?
Nein, etwas Anderes.



Langsam kam sie wieder zu sich, richtete sich vorsichtig auf und als das Schwindelgefühl verflogen war, sah sie sich um. Über ihr war nur Schwärze ein großer dunkler Tunnel, der nach oben führte. Das Loch in das sie gestürzt war, war nicht mehr zu sehen, kein Licht drang hinunter zu ihr.
Vor ihr erstreckte sich ein langer Gang und auf jeder Seite befanden sich in gleichem Abstand und jeweils gegenüber Zellen.
Zellen für Geisteskranke.
Woher sie das wusste, was ihr selbst ein Rätsel.
Das flackernde Licht der von der Decke hängenden Neonröhren warf ein dreckig gelbes Licht auf den Boden und die Zellentüren.
Sie sah an sich hinunter und sprang geschockt und angewidert von dem runter, auf dem sie sich befand. Sie hatte auf einer Leiche gestanden. Es war die Leiche eines fetten alten Mannes, dessen Gesicht von Messerschnitten mehr als entstellt worden war. Die Schnitte waren wie feine, sich immer wieder kreuzende Linien angeordnet, sodass sie eine Art Schachbrett bildeten.
Angsterfüllt und gänzlich von jedweder Normalität entrückt, stolperte sie zurück.
War sie es, die verrückt geworden war, oder war es das Haus, welches sich seiner Vergangenheit sehr wohl im Klaren war?
Sie wusste es nicht und war sich auch nicht mehr sicher, ob sie es jemals erfahren würde, oder ob ihre Gedanken überhaupt noch wirklich existierten.
Konnte sie noch Zusammenhänge finde?
Konnte sie noch denken?
„Du bist neu hier, stimmt‘s?“, sagte eine weiche, aber dennoch männliche Stimme zu ihr. Jessy wirbelte herum und sah durch die Gitterstäbe der Zellentür in eine der schlecht beleuchteten winzigen Räume.
Hinter den rostenden Gitterstäben befand sich das Gesicht eines Mannes. Und zwar genau des Mannes, auf dessen Leiche sie gerade erst gestanden hatte. Die Wunden in seinem Gesicht schienen noch immer frisch zu sein, denn kleine Blutrinnsale rannen langsam und stetig an seinem Gesicht hinab.
Sie zuckte zurück, war sich im Klaren darüber, gerade den Verstand zu verlieren und sah dem Mann flehend ins Gesicht.
„Ich weiß, ich seh schlimm aus, is aber halb so schlimm, schließlich war ich es selber.“, sagte er lächelnd und irre kichernd, während ihm Speichel aus dem linken Mundwinkel tropfte. „Ich bin Lenny, brauchst keine Angst zu haben, ich kann dir nichts tun, bin hier gefangen.“ Demonstrierend rüttelte er an den Gitterstäben, die jedoch trotz des Rostes kein bisschen nachgaben. Wieder kicherte er debil und Jessy konnte sich keinen Reim aus Alledem machen. Aber im tiefsten Inneren wusste sie es bereits. Weil er geisteskrank war, wie alle hier.
Eingeschlossen sie selbst?
„Das sehe ich.“, antwortete sie leise.
„Weißt du eigentlich, wo du hier bist?“, fragte er und zog sich einen Faden Speichel wieder zurück in den Mund. Er legte seinen entstellten Kopf schief und lachte laut auf. „Im Keller der Anstalt, bei den Toten, bei den wirklich Kranken!“
Dann begann er zu heulen und wie wild zu kreischen.
„Ich habe meine Familie abgeschlachtet mit einem Fleischermesser, weil sie mich nie in Ruhe gelassen haben. Und dann habe ich mich selbst gerichtet, weil Gott es so wollte! Und weißt du was dann passiert ist, nachdem ich gestorben bin? Weißt du es? Dann bin ich hier gelandet, in diesem Keller! Seit über zehn Jahren bin ich hier! Hast du meinen toten Körper gesehen?“
Aus der gegenüberliegenden Zelle brüllte eine wutentbrannte Stimme und ein mit Lippenstift beschmierter Kopf eines riesigen Mannes mit Glatze kam zum Vorschein.
„Natürlich hat sie ihn gesehen, deinen hässlichen fetten Körper! Und jetzt halt die Klappe Fletcher, sonst reiß ich dir die Zunge aus dem Maul und fress sie so wie ich die Titten meiner Opfer gefressen hab.“
Fletcher hielt tatsächlich den Mund und kroch wie ein geprügelter Hund zurück in seine Zelle und begann leise zu wimmern.
Jessy sah schockiert zu dem riesigen Mann, konnte nicht fassen, was er eben gesagt hatte.
„Was glotzt du so, du kleine Schlampe?“, fauchte der Mann das Mädchen an und in seinen stahlblauen Augen war grenzenloser Hass zu sehen.
Und noch etwas viel schlimmeres.
Geilheit.
Animalische und tödliche Geilheit.
„Meinst du das ernst, was du da gerade gesagt hast?“, fragte das Mädchen kleinlaut und ging mit wackeligen Beinen einen Schritt zurück. Sie wollte auf keinen Fall in die Reichweite dieses gestörten Typen kommen, wollte so weit wie möglich weg von ihm sein.
„Ja natürlich.“, keifte der Vergewaltiger und Mörder sie an. „Und wäre meine Seele nich hier in diesem Drecksloch gefangen, dann würde ich dich augenblicklich totficken! Und jetzt verschwinde von hier und lass mich in Ruhe.“
Zitternd und ohne diese Bestie noch einmal anzusehen ging das Mädchen weiter, bis sie vor einer Zelle stand, aus der sie ein bekanntes Gesicht ansah. Es war das Gesicht des Jungen, den sie vor dem Sturz im Haus gesehen hatte. An seinem Hals waren noch die Quetschungen des Seils zu sehen und in seinen Augen erkannte man tief im Inneren das Testbild des alten Fernsehapparates.
„Warum hast du nicht auf mich gehört und das Haus verlassen?“, fragte er traurig.
Das Mädchen schüttelte den Kopf, kam mit Tränen in den Augen und völliger Verzweiflung in ihrem Inneren näher zu der Zelle des Jungen. In ihre rebellierte einfach Alles, sie kämpfte mit aufkommender Übelkeit und Ohnmacht, doch sie riss sich zusammen und kämpfte dagegen an. „Ich wollte, aber ich konnte nicht. Der Boden brach ein und ich stürzte. Dann wachte ich hier unten wieder auf.“
Wieder sah der Junge sie an. „Dann ist es also auch für dich zu spät, dann bist auch du schon gestorben.“
„Tot? Nein.“, antwortete Jessy kopfschüttelnd. „Ich bin nicht tot. Ich...“
Doch der Junge nickte nur mitleidig und zeigte mit seiner blassen blutleeren Hand in die Richtung des Ganges, aus der sie selbst gekommen war.
Und Jessy drehte sich mit Tränen in den Augen und Scherben in der Seele langsam um. Und dann sah sie es, oder besser gesagt, sah sich selbst. Denn auf der Leiche des fetten Flechter, sah sie ihren eigenen toten Körper. Ihr Hals stand in einem abstrakten Winkel vom Rest des Körpers ab.
Sie sah wieder zu dem Jungen.
Taubheit und Verständnislosigkeit breiteten sich in ihr aus und sie begann zu vergessen, was normal und richtig war. Sie spürte, wie etwas von ihr fort ging, was die Lebenden Hoffnung nannten und sie merkte, wie sich der Wahnsinn langsam Platz in ihrem Geist schaffte.
„Wir alle hier sind nur die Seelen entstellter Geister, wir alle hier sind verrückt.“, sagte der Junge. „Wir haben etwas getan, was die Welt da oben verachtet, als nicht richtig befindet und das hier ist unsere Strafe. Ein ewiges Schmachten unserer Seelen in den Katakomben der Einsamkeit, für ewig allein mit unserem kranken Geist!“
„Das kann doch nicht sein.“, flehte das Mädchen. Aus ihrem Mund kam nicht mehr als ein Wimmern. „Ist das denn wirklich die Wahrheit?
Der Junge hob nur unwissend die Schultern. „Wie kann ich das wissen, ich bin doch auch nur ein Irrer unter all den Anderen. Aber wenn meine Seele es sagt, dann wird es schon stimmen.“
„Was hast du denn getan, dass du hier dahinvegetieren musst?“, fragte sie.
Der Junge begann mit einem bizarren Leuchten in den Augen zu grinsen. „Ich hab in einem Rausch von Geistesdunkelheit meine Mutter erhängt und dann mich selbst umgebracht, aber ich kann dir beim besten Willen nicht mehr sagen, warum. Vielleicht könnte es der Mann mit den Nägeln im Kopf t, aber er will nicht. Er hat mich zu dem gemacht was ich bin, er brachte mich zum Schneckenhaus in dem Aura wohnt und dann war alles in Rot...“
Aber das Mädchen hörte schon längst nicht mehr zu. Der Junge hatte sich in seinem eigenen kranken Geist verirrt und war wahrscheinlich für immer gefangen darin.
Aber sie? Was war mit ihr selbst?
Sie war nicht krank!
Sie war doch nicht verrückt?
Oder?
„Ich hab doch nichts getan.“, wimmerte sie.
„Natürlich hast du das.“, antwortete der Junge, jetzt frei vom allgegenwärtigen Wahnsinn. „Sonst wärest du doch nicht hier.“
Hinter dem Mädchen öffnete sich mit einem lauten Krachen plötzlich die Stahltür einer Zelle und ihre Seele und all das, was noch von ihrem schattenhaften Selbst übrig war, wurde unweigerlich hineingezogen.
„Wehre dich nicht dagegen.“, sagte der Junge schließlich mitleidig. „Es hat keinen Sinn. Am Ende siegt immer der Wahnsinn.“
Und hinter seinen Worten verbarg sich die Weisheit der Propheten, denn sie konnte sich nicht wehren, wurde hineingezogen in ihr ewiges Verließ. Hinter ihr schloss sich die Stahltür und mit der einkehrenden Stille und der Dunkelheit, kam auch die Erinnerung...

Rot…
…wie es nur der Wahnsinn sein konnte.
Ihre Lehrerin, wie sie sie anschrie...
Dann das Messer in Jessys Hand und die Klinge, diese glitzernde Klinge.
Stiche. Zehn...Zwanzig.
Und dann das Herz, dieses rote wunderschöne Herz...
Wie es aufhörte zu schlagen...
…so blutend rot.

Und am Ende schloss sich noch eine zweite Tür hinter dem Mädchen.
Auf ewig.
Es war die Tür zu ihrem gesunden Ich…
...sonst wäre sie doch nicht hier.

Denn am Ende siegt immer der Wahnsinn.
 
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Kommentare  

Ich kann mich nur anschließen. Gut geschrieben und sehr spannend.

Gerald W. (20.08.2009)

Obwohl ich sonst nicht für Gruselgestories bin, hat mir diese hier sehr gefallen. *Gänseschauer*

Petra (16.08.2009)

Mir geht`s genauso. Von Anfang bis Ende sehr gelungen. Tolle durchdachte Story. Ein Meisterwerk.

Jochen (16.08.2009)

Sehr gute Schauergeschichte. Da stehen einem ja die Härchen ab. Spitzenmäßig, finde ich.

doska (16.08.2009)

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