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13 Seiten

Blütezeit - 3 - Wellen

Romane/Serien · Schauriges
the heavens fall
but still we crawl
- Nine Inch Nails

Christian Brunner tippte sich mit dem Pen durch die Menus des PDA, bis er die selbst aufgezeichnete Audiomemo vom Freitag gefunden hatte und ließ sie abspielen. Während er weiterfuhr, frischte seine Stimme die Erinnerungen auf:
„Erstens: Das Team abholen und Proben vom Restschlammbecken C2 nehmen. Zweitens: Wenn welche zu finden sind, dann sollen ein paar verendete Tiere aus der Nähe von C2 mitgebracht werden. Drittens: Überprüfung der äußeren Dämme der Restschlammbecken C1 bis C4. Viertens…“
Er schaltete weiter zur nächsten Nachricht auf der er sich die Namen des Teams und die Orte notiert hatte wo er sie abholen sollte. Seine Mannschaft für den Vormittag bestand aus drei Chemikern, einen Security sowie einem Notfallmediziner.
Dann loggte er sich in seine Email ein und sah nach, ob seit seid seinem letzten Check noch ein Anhang zu seinem knappen Arbeitsauftrag hinterhergeschickt worden war.
‚Es ist merkwürdig. Warum sollte ein administrativer wie ich da raus fahren? Ist doch gar nicht mein Aufgabengebiet.’
Seine Hoffnung mit ein paar Hintergrunddetails versorgt zu werden wurde enttäuscht. Die Entnahme von Restschlamm zur Bestimmun der Zusammensetzung sollte eigentlich Routine sein und die Anwesenheit des Sicherheitsdirektors nicht erfordern. Er würde sich bei seinem Kontakt zum Aufsichtsrat erkundigen müssen.

Zuerst holte Brunner die drei Chemiker ab, die bereits in ihre Kontac 200 Schutzanzüge gekleidet am Haupteingang zum Wissenschafts- und Laborkomplex auf ihn warteten. In selbigen befanden sich die experimentellen Maschinen und Anlagen zur Wiederaufbereitung des Restschlamms, der in Milliarden Litern in den Scheissewannen versickerte. Irgendwann, so die Hoffnung, könne man selbst die Abfallprodukte der Ölgewinnung wieder aufbereiten. Im Labormaßstab gelang das schon sehr gut. Ungefähr 3000 Liter des Abfallproduktes wurden am Tag zu brauchbarer Ressource zurückdestiliert und -gefiltert.
Dem Schlamm aus den Giftseen wurde dabei zuerst das Wasser entzogen, dann wurde das Öl abgesondert und von Nebenstoffen und Gerüchen befreit. Das Wasser wurde wieder in den Kühlkreislauf der Raffinerie geleitet. Die wiedergewonnene Menge Öl ließ sich tatsächlich dazu verwenden eine Anzahl von Fahrzeugen des Firmenfuhrparks anzutreiben.
Doch diese Praxis in einen größeren, vor allen Dingen aber auf lange Zeit anwendbaren Maßstab zu übersetzen, stellte eine Jahrhundertherausforderung dar, auch wenn Athabasca Oil sich dies einen ganzen Wissenschaftszweig mit über Fünfzig Mitarbeitern kosten ließ.

Gerard Nolan, Eugene Pullman und Joseph Harkness kamen näher und befestigten ihr Gepäck auf der Ladefläche. In ihren weißen Anzügen sahen sie aus wie Astronauten einer schlechten Fünfzigerjahre Space Opera. Harkness klopfte zur Begrüßung gegen die Seitenscheibe. Brunner stieg aus dem Wagen, begrüßte seinerseits das Trio.
„Morgen Brunner. Hm. Wir fahren heute nach C2?“
Pullman war der wissenschaftliche Leiter der Gruppe und zuständig für die Durchführung der Überprüfung der Zusammensetzung des Restschlamms. Diese musste immer wieder neu durchgeführt werden damit die LYEs, die Wiederaufbereitungsmaschinen, entsprechend weiterentwickelt, oder im Bedarfsfall modifiziert werden konnten. Die momentane Zusammensetzung eines jeden Abfallproduktsees fand sich in den Labors als Protokollschrift wieder, um den giftigen Schlamm von Hand anrühren zu können.
Das war unabdingbar für die Erforschung der Aufbereitungsmethode, da die Lagerung eines Vorrates innerhalb der Gebäude paradoxerweise nicht zulässig war, um die Mitarbeiter nicht zu gefährden. Brunner fragte sich schon nicht mehr, wieso das Zeug draußen auf den Feldern einfach auf die Landschaft gepumpt wurde.
„Ja. Dort nehmt ihr was ihr kriegen könnt. Man sagte mir, ihr sollt Zehn Liter rausholen. Aber seid nachher vorsichtig, die Pumpen wurden dort wieder zu spät abgestellt. Es wird bei Wind und Wetter den Damm überspülen und in See C3 überlaufen. Wenn wir Pech haben bricht der Damm in den nächsten Tagen auch.“
„Oh boy… dann sollten wir schnell machen. Hm. Solchem Mist kann ich nichts abgewinnen. Sagen sie, haben die ihnen gesagt, weshalb wir da hin sollen? Wir haben da erst vor drei Wochen entnommen. War alles in Ordnung, soweit diese Bezeichnung hier überhaupt angebracht ist. Die nächste reguläre Entnahme ist erst für Mai angesetzt.“
„Ah… nein, ich weis da nicht mehr als sie. Die haben sich ziemlich bedeckt gehalten. Die Proben gehen auch nicht zu euch, die sind für die Schadstoffleute bei den Biologen.“
„Ja. Klar. Super. Die haben doch wieder Scheiße gebaut, irgendwas richtig tolles da rein geleitet.“
„Was soll schon mehr drin sein als der ganz normale Ausfluss?“
„Ach fuck. Vergessen sie’s. Bestimmt hat wieder einer der Caterpillarfahrer was abgekriegt.“
Die Caterpillars waren Planierraupen, die zum freifahren der Restschlammbecken benutzt wurden. Sie schoben den Sand auf eine Tiefe von Fünf Metern beiseite und schichteten ihn an den markierten Begrenzungen zu drei Meter breiten Erdwällen auf. Diese wurden dann von den Planierraupen festgefahren. Die Fahrzeugführer bekamen zwar eine Schutzmontur mit auf die Arbeitsstelle, jedoch keine Atemmasken. Es war ihnen strengstens untersagt während der Arbeitszeit das Fahrzeug zu verlassen, solange sie and den Restschlammbecken arbeiteten.
„Fertig? Dann können sie ja wieder etwas Professionalität an den Tag legen.“
In Gedanken stöhnte Christian Brunner auf.

Eugene war ein nordamerikanischer Grüner. Doch AO war schlau gewesen und hatte mit Berechnung einen Idealisten für den Job der Wiederaufbereitungsforschung besorgt – konnte sich also sicher sein das diese mit Feuereifer betrieben wurde, selbst wenn es nur dem Image diente. Persönlich fand er Pullmans Einstellung realitätsfern. Immerhin konnte der am Abend nur deshalb den Computer einschalten und morgens Kaffee kochen, weil sein Arbeitgeber den Boden Aufriss und mit Aufwand und Gewalt daraus holte was den Rechner letzten Endes antrieb - Öl.
Pullman entschuldigte sich knurrend.
„Sie haben Recht Brunner. Wir sollten uns beeilen. Wer kommt noch mit?“
„Ein Sicherheitsmann und ein Notfallsanitäter für den Ernstfall. Abraham Lincoln.“
„Wie heißt der bitte?“ meldete sich Nolan.
„Sie haben richtig gehört. Daneben noch ein Mann von der Security, dessen Namen ich grade vergessen habe. Sobald Ihr fertig seid werden wir noch eine Runde drehen, euch danach am Labor absetzen und nach Hause fahren. Wenn ihr eure Zehn Liter habt steigt ihr bitte hinten ein. Ich will heute Abend nicht kontaminiert nach Hause kommen.“
„Wenn sie heute was abbekommen sollten, kämen sie nicht nach Hause.“ Meldete sich Nolan.
„Steigen sie ein und sparen sie sich den Sarkasmus, Nolan. Lassen sie uns jetzt den Arzt abholen.“
Brunner und Nolan stiegen ein und schnallten sich an. Die anderen stiegen in die Kabine auf der Ladefläche, die in der Standardausführung der Feldversion des Humvee als Lazarett fungierte. Eine halbe Stunde später saß der Sicherheitsmann auf dem Sitz neben Nolan.

Sein Name war Eddi LaBrouche, ein kantiger, muskulöser Typ mitte dreißig. Er begrüßte die beiden, richtete den Blick geradeaus und übte sich in schweigen. Nolan schielte ab und zu zur Seite erntete aber keinerlei Reaktion von LaBrouche. Entweder war der Mann schlecht aufgestanden oder so empfindsam und an zwischenmenschlichem Kontakt interessiert wie ein Mitarbeiter des Pentagon. Christian tippte auf den Hintergrund Ex-Soldat, irgendeine Spezialisierung, Fünf bis Sieben Jahre Dienst in einer Kaserne und dann die Pension. LaBrouche sah nicht danach aus als wäre er jemals in einem Kampfeinsatz gewesen. Christian blickte dem Mann ins Profil.
„Sie wissen bescheid, LaBrouche?“
„Ja Mr. Brunner, ich weiß bescheid. Ich bin hier um für die Sicherheit der Teilnehmer des Ausflugs und den Besitz der Firma zu sorgen.“
Viel zu viele Worte für einen Ex-Militär.
Christian sagte nichts weiter, sondern konzentrierte sich aufs fahren. Es war inzwischen halb Neun geworden.

Der frühmorgendliche Berufsverkehr war gelaufen, doch noch immer waren viele Autos und Lastkraftwagen unterwegs. Sie kamen an Baustellen vorbei und mussten einen Umweg nehmen um zum Wohncontainer des Sanitäters zu kommen.
‚April hat sich bestimmt schon vor einer Stunde an die Arbeit gemacht.’
Der Notfallarzt mit dem Namen des Sechzehnten Präsidenten der vereinigen Staaten war noch keine Vierundzwanzig Jahre alt, sah aber bereits aus wie dreißig.
Lincoln öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben LaBrouche.
„Guten Morgen, Gentlemen. Lincoln mein Name.“ Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Sanitäters.
„Guten Morgen. Dann sind wir ja vollzählig.“
‚Wahrscheinlich liegt es an der Arbeit.’ Dachte der Sicherheitschef.
Wenn man Junge Männer wie Lincoln sah, konnte man froh sein mit Dreiundvierzig so gut über die Runden gekommen zu sein wie er. Sah man einmal von dem hohen Cholesterinwert ab, der seinen Arzt beunruhigte.
Wenn es jemanden gab mit dem selbst seine Ex-Frau ihn nicht hätte tauschen lassen, dann war es wahrscheinlich der junge Sanitäter. Nicht nur die Polizei war in Dunston und den beiden anderen Städten unterrepräsentiert.
Abgesehen von zu wenigen praktizierenden Ärzten gab es auch nur ein einziges Krankenhaus für die ganze Region. Das Northeast Alberta Hospital war bei der Städteplanung allerdings für eine Kleinstadt mittlerer Größe konzipiert worden. Nicht für eine sich anschwemmende Menge von Menschen, die allesamt mehr oder minder gefährlichen Arbeiten nachgingen. Christian fragte sich, wie viele Stunden am Tag mehr der kleine arbeitete als er.
Sie brauchten eine halbe Stunde um aus Dunston raus zu kommen. Um Zeit zu sparen hatte Brunner sich für die östliche Route entschieden. Drei Straßen führten von Dunston aus nach Norden, in die Richtung der Raffinerie und der dahinter liegenden Restschlammbecken. Die östlich gelegene war weniger gut ausgebaut, bestand aus einem simplen breiten Streifen Asphalt. Noch vor drei Wochen lagen hier Drei Zentimeter Schnee, doch die Räumfahrzeuge hatten kaum Probleme, da es in der Gegend auch im Winter relativ schnell wieder abtaute.
Eine Viertelstunde Später passierten sie die riesige Raffinerieanlage.

Die Fläche die diese beanspruchte übertraf selbst die der sich rasch vergrößernden Stadt. Es gab keine genauen Abmessungen des Areals, Schätzungen besagten es wären ungefähr Fünfundzwanzig Quadratkilometer.
Im Ganzen betrachtet stellte jede Raffinerie eine gigantische Maschine mit mehreren Abteilungen dar, die verschiedene Endprodukte in gewaltige Silos oder Auffangbecken auslieferten. Hier wurde aus Rohöl Benzin hergestellt aber auch Schmierstoffe, Heizöl und Kerosin. Die Fabriken, Silos, Distillen, Behandler, Öfen und anderen Teile der riesigen Maschinerie waren verbunden mit Stahlbetonrohren, deren höchster Umfang dem eines Jumbojets gleichkam.
Zahlreiche Sicherheitsschaltungen und Ventile, Konverter, unzählige Kühlungen an jeder der einzelnen Stationen, Umleitungen und Maschinen, Gerüste zur ständigen Wartung, tägliche Sicherheitsüberprüfungen, Ersatzteillager, Büros, kurz – eine einfache Stadt war trotz der Automatisierung der Anlagen nur ein Prototyp an Betriebsamkeit gegenüber diesem Zusammenspiel von Mensch, Computer und Mechanik.

Am Tage erschien die Anlage in ihrer ganzen Hässlichkeit. Grau ging in Grau über, schattiert nur durch die Lichtverhältnisse. Kleine Inseln von grünem Gras schwammen zwischen den Stahlbetonkonstruktionen wie ein zerriebener Schwarm Fische zwischen einer Trawlerflotte.
Die riesigen Schornsteine und Kühltürme spieen statisch anmutenden Rauch und Wasserdampfwolken aus, die ihre Ursprungsschlote Kilometerweit in den Himmel fortzuführen schienen.
An Tagen, an denen der Wind kräftig durch die Ebene blies, konnte man sehen, wie die künstlichen Wolken sich im Wind wanden und schließlich schief legten. An solchen Tagen konnte man die weißen, braunen und grauschwarzen Abgase selbst vom Weltraum aus mit bloßem Auge entdecken.
Des Nachts jedoch, wenn die Schlote ihre Schlünde schlossen und die Flutlichtanlagen eingeschaltet wurden, ergab sich ein majestätischer Anblick, den man nicht wieder vergessen konnte.
Es gehörte auch zu den Sicherheitsbestimmungen, dass eine Raffinerie des Nachts völlig ausgeleuchtet werden musste. Dazu waren zwar ungeheure Mengen Energie nötig, doch der sprichwörtliche Sitz an der Quelle negierte das Problem zu einem Produktionsverlust von nicht mal einem Prozent, da die Anlage sich schlicht selbst mit Energie versorgen konnte. Einen geeigneten Vergleich dieses überwältigenden Schauspiels findet man wohl nur in der nächtlichen Skyline Manhattans.
Christian Brunner dachte an das Heimatland seiner Eltern und schmunzelte über die Lust der Amerikaner sich und ihre Technik darzustellen.

Sie ließen die Raffinerie hinter sich und bogen auf die Schlammpisten des Fördergebietes ein. Einer der Caterpillar Schwerlaster kam ihnen entgegen und passierte sie. Das Fahrzeug machte einen Lärm wie ein Flugzeug und war so hoch wie ein Haus. Ein einzelnes Rad maß ganze Sechs Meter Höhe. Christian war an den Anblick gewöhnt, doch Lincoln, Nolan und LaBrouche starrten voll Ehrfurcht zu dem Fahrzeug auf, das ihnen gemessen an ihren Gesichtsausdrücken, wie ein Raumschiff erschien.
Die Schlammpisten waren über dreißig Meter breit und kreuzten sich scheinbar nach Gutdünken. Aus der Vogelperspektive gesehen wurde einem Beobachter jedoch sofort klar, dass zwischen zwei Punkten immer der kürzeste Weg eingeschlagen wurde. Auf den ersten Blick schien dies eine Verschwendung von Ressourcen, doch wenn man berechnete, ob der kürzere Weg auf Dauer mehr Energie einsparte als die Schaffung desselben verbrauchte, kam heraus das meist eine neue Schlammpiste fällig war.
„Das sieht aus wie in den Filmen mit Mel Gibson.“ Brunner sah flüchtig zu LaBrouche hinüber. Das staunen vom Anblick des übergroßen Lastkraftwagens war abgelöst vom in wenigstens ebenso großem Maße beeindruckenden Anblick des Pistenfeldes, an dessen zur Raffinerie gelegenen Ufer sich die Restschlammbecken schmiegten. Doch nun mischte sich auch ein zweites Empfinden in seine Mimik. Ekel. Vielleicht sogar eine Spur von Unbehagen.
Offensichtlich war es das erste Mal für seine Beifahrer, dass sie hier heraus kamen. War die Raffinerie schon beeindruckend groß, dann stellten die Ölsandfelder zusammen mit dem Schlammpistenirrgarten ein Areal, das von der Größe einem eigenen Bundestaat immer näher kam.Christian bremste ab und schlug gegen die Hinterwand der Fahrerkabine.
„Aussteigen, wir sind angekommen.“

Das erste was Eddi registrierte war der Geruch. Schon als sie sich dem direkt hinter der Raffinerie gelegenen C1 genähert hatten, war ihm ein beißender Petroleumgeruch in die Nase gestiegen. Das war zumindest der Stoff, mit dem er diesen Pestgestank am ehesten assoziierte. Tatsächlich mischte sich eine Melange and derart ungesunden Miasmen dazwischen, das er aus seiner Erfahrung keine adäquate Beschreibung parat hatte.
Eilig schob er sich die Maske über Mund und Nase, atmete kräftig aus und langsam durch den Mund wieder ein. Sofort bildete sich Kondensflüssigkeit an der Innenseite. Hinter dem Wagen kamen die Drei Eierköpfe zum Vorschein. Zwei von ihnen trugen eine Luftdichte Truhe, die sie am Ufer von C2 abstellten und öffneten. Der Typ namens Harkness schraubte einen Kescher zusammen und sprach mit Nolan. LaBrouche war jedoch zu weit entfernt um etwas zu verstehen.
Der Sicherheitschef tippte, offensichtlich verärgert, auf seinem PDA herum. Alles schien in Ordnung.

Nolan schraubte die zwei Meter lange Stange zusammen und befestigte den feinmaschigen Kescher am Ende derselben. Pullman stand neben ihm und erinnerte seinen Kollegen überflüssiger weise an die Sicherheitshinweise.
„Du gehst höchstens Einen Meter rein. Denk daran Dich langsam zu bewegen und achte auf Unebenheiten und Schlicklöcher. Zieh den Käscher gleichmäßig durch den Restschlamm.“
„Ja. Ich bin schon vorsichtig, Eugene. Ist immerhin meine Haut.“
Nolan lehnte den Käscher an die Probentruhe und ließ sich von Harkness beim anziehen der Kontac Gefahrstoffstiefel helfen, die ihm bis direkt in den Schritt reichten. Dann half er dem Kollegen selbst in die schweren Stiefel zu kommen. Zu seinem Leid musste er feststellen, das die Schäfte sogar etwas zu lang waren und unangenehm gegen seinen Schritt drückten. Harkness zog ihn auf die Beine und reichte ihm den Käscher.
„Los mein Junge, bring mir einen großen mit.“ Ungewollt lachte Nolan auf.
„Klappe Harkness. Machen sie Ihre Arbeit, Nolan macht seine.“
Harkness blickte sich um. Brunner musste während der letzten Minuten irgendetwas über die Leber gelaufen sein. Warum war der überhaupt hier draußen? Immerhin war Der Kerl die Nummer Eins der Sicherheit. Egal.
Harkness streckte ihm unter dem Atemschutz die Zunge raus. Er bereute es jedoch sofort als er damit gegen die feuchte Innenseite der Maske leckte.
„Verzeihung.“ Entschuldigte er sich.
Brunner schien es gar nicht gehört zu haben.

Pullman blickte seinem Kollegen hinterher, der wie ein Pinguin mit versteiftem Rücken in die schwarze Brühe watschelte. Irgendetwas an dem ganzen hier störte ihn. Auf den ersten Blick war nichts auszumachen, das die Situation von anderen regelmäßigen Probenahmen unterschied, doch trotz alledem...
Und Brunner und ein Wachhund waren bei ihnen, was nichts Gutes verhieß. Irgendetwas war da doch im Gange. Er ließ seinen Blick an Nolan und Harkness vorbei über das Restschlammbecken schweifen. Es hatte die Ausmaße eines kleinen Binnensees und reflektierte die durch die auffasernde Wolkendecke strahlende Sonne mattrot.
Der Wissenschaftsleiter der Wiederaufbereitungsforschung seufzte, fischte die Rolle Luftdicht verschließbarer Säcke aus dem Probenkoffer und machte sich am Ufer auf die Suche nach verendeten Vögeln oder anderen Tieren. In den letzten Monaten wurden es immer weniger, wahrscheinlich lernten sie langsam, das C2 kein natürlicher See war, von dem zu trinken ratsam ist. Er war von Anfang an dabei gewesen und hatte bereits unzählige Fauna eingesammelt, untersucht und schließlich verbrannt. Meistens waren es kleine Fluchttiere, doch er hatte auch schon zwei Schwarzbären tot aufgefunden.
Auf Blickweite konnte er noch nichts erkennen. Die zerstörte Flur lag ausgebreitet und leblos vor ihm. In der Ferne hörte er das Brummen der Kräne, die einen Caterpillar nach dem anderen mit dem schwarzen Sand beluden.

Harkness klopfte gegen sein Headset. Er hatte sich vergewissert das Brunner außer Hörweite war. In seinem Lautsprecher klopfte es dreimal zur Antwort.
„Nolan, wie steht’s?“
„Gut. Hier ist jede Menge Treibgut angeschwemmt worden. Ich glaube ich kann Pullman nachher einen Vogel aus dem Käscher holen. Auf der Fahrt habe ich das Ufer abgesucht aber nichts gesehen. Er wird einen langen, ruhigen Spaziergang haben.“
„Weißt du warum Brunner hier ist?“
„Nein. Aber er scheint nicht erfreut darüber zu sein mit uns im Gestank zu stehen.“
Harkness gluckste amüsiert. Nolan hatte Recht, C2 stank grauenhaft.
„Ich wette als das hier befüllt wurde, haben sie drüben grade eine Riesenbestellung von Schmiermitteln gehabt. Ist irgendwie noch dickflüssiger als die anderen, wenn du mich fragst.“
„Joseph, Joseph, Joseph. Als ob Du jeden Tag darin baden würdest.“
„Es ist mir ernst. Oder willst Du mir erzählen Du spürst keinen Widerstand beim laufen?“
Pause.
„Nolan?“
Harkness sah am Ufer entlang. Brunner sprach aufgeregt in sein Mobilfunktelefon, der Mann von der Security lehnte gelangweilt am Jeep, in Einhundert Metern Entfernung schritt Pullman über die Schlammpiste. Als er das nächste mal sprach erhob er seine Stimme.
„Nolan?“
Da war kein Nolan, kein weißer Kontac Anzug, der bis zu den Knien langsam durch den Giftsee watete. Harkness holte tief Luft.
„HEY, Hey, Ich glaube Gerard ist gestürzt.“
„Wo? Wo?“ Schrie der Security geistesgegenwärtig.
Brunner ließ das Handy sinken. Lincoln schoss aus dem Wagen, sah nach Links zu ihm, dann nach Rechts. Harkness deutete auf die Stelle an der er Nolan das letzte Mal gesehen hatte und setzte sich in Bewegung, gefolgt von den anderen.
„Dort. Eben noch war er…“
Pullman meldete sich über das Headset.
„Was ist los, wo ist Nolan?“
„Komm mal hier rüber und mach schnell, er ist umgefallen. Ich glaube er ist untergegangen.“
Eugene Pullman ließ die Säcke fallen und rannte los.
Der Security kam als erster auf der Höhe der Stelle an, auf die Harkness gezeigt hatte, Brunner dicht auf den Fersen. Joseph Harkness watete aus dem Giftsee heraus, wurde von dem rennenden Lincoln überholt. Der Junge sah keineswegs erschrocken aus, vielmehr trug er eine nüchterne, fast unbeteiligt wirkende Miene zur Schau. Im laufen riss der junge Sanitäter den Reißverschluss seines Rucksacks auf. Brunner lief am Ufer auf und ab, telefonierte schon mit dem Rettungsdienst, forderte in bemüht ruhigem Ton einen Hubschrauber an.
Eddy LaBrouche hatte sich hingehockt und rief immer wieder Nolans Namen. Pullman erreichte atemlos die Szenerie.
„Ich sehe ihn nicht. Hier ist nichts. Kein Körper, kein Käscher. Nichts. Joseph, sie gehen da rein und suchen ihn.“
Das hätte er Harkness nicht sagen müssen. Dieser wankte bereits armerudernd durch die Scheissewanne. Unversehens drohte er kopfüber zu kippen, wedelte linkisch mit den Armen und fing sich wieder. Sofort tauchte er beide Arme in die schwarze Brühe.
„Hier ist sein Käscher.“
Mit nicht unbeträchtlichem Kraftaufwand zog er das Gerät aus dem See. Das Fangnetz war abgebochen, er hielt nur noch den Stab in Händen. Ohne ein weiteres Wort benutzte er den ihn als Suchstock, stocherte damit im schwarzen Nass herum. Er hörte Pullman leise in sein Headset sprechen. Er hatte jetzt auf offenen Kanal gestellt.
„Nolan, wo bist du, wo bist du?“
„Hier ist er nicht. Ich finde hier nichts.“
Brunner schrie vom Ufer zu ihm herüber
„Zwei Minuten. In Drei Minuten ist der Heli da.“
Seit den letzten Worten von Nolan waren keine Zwei Minuten vergangen. Sie mussten ihn sofort finden, wenn er auch nur noch eine kleine Überlebenschance haben sollte. LaBrouche hatte sich wieder aufrecht hingestellt und schien sich nur mit Mühe davon abhalten zu können ebenfalls in die dickflüssige Schwärze zu rennen um mitzusuchen.
Pullman rannte zum Probenkoffer, an dem ein drittes Paar Stiefel lag.
Der Stab fuhr auf und nieder. Aus dem Headset tönte Pullmans schweres Atmen. Da schoss eine Idee durch Harkness Kopf. Er schaltete auf die Privatfrequenz von Nolan. Nichts.
„Leise, alle leise!“
LaBrouche, Brunner und Lincoln erstarrten. Pullman hielt im Rennen inne. In der Ferne wurde das charakteristische Geräusch des sich nähernden Hubschraubers hörbar.
Harkness regelte die Lautstärke an seinem Headset nach oben.
„Ich glaube, ich höre…“
„Ist das eine Welle da hinten?“
„Was?“
Brunner deutete auf einen Punkt etwa Siebzig Meter hinter Nolan. Es war kaum auszumachen was er meinte, doch nach einigen Sekunden wurde sichtbar, das sich tatsächlich ein kleiner, seichter Kamm von vielleicht Zehn Zentimetern Höhe und Dreißig Metern Breite auf sie zu bewegte.
„Da drüben. Die kommt aber schnell.“
Joseph Harkness folgte dem Fingerzeig mit den Augen.
„Es weht doch gar kein Wind…“ Dachte er sich laut.
„Joseph, das ist jetzt egal. Suchen sie weiter nach Nolan! Sobald ich die Dinger anhabe helfe ich ihnen.“ Ließ sich Pullman vernehmen.
Brunner war die ganze Situation unheimlich. Schon spülte die erste Welle um Harkness Oberschenkel. Er beobachtete ihren Lauf, bis sie in voller Breite ans Ufer spülte. Christian stutzte.
„Hey. Die läuft überhaupt nicht ab.“ Er schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte zu den Fünf nebeneinander liegenden Ausflussrohren hinüber, die wie halb fertig gestellte Pipelines mitten im See endeten. Halb befürchtete er, dass ein Unfall geschehen sei oder die Kommunikation nicht geklappt hatte, und die Pumpen für C2 wieder angeworfen worden waren, doch aus den schwarzen Löchern kam nichts. Eine zweite, seichte Welle umspülte den immer noch mit der Käscherstange suchenden Wissenschaftler.
Nun hatte das Phänomen auch LaBrouchs Aufmerksamkeit erregt.
„Der Spiegel steigt. Die zweite Welle ist auch nicht abgelaufen. Was soll das?“
Brunner rief den Leiter der Drei Wissenschaftler und zeigte auf die dritte Welle, die sich gemächlich dem Ufer entgegen rollte. Beobachtete die Erscheinung einige Sekunden und reagierte dann mit einem beunruhigten Ton in der Stimme.
„Joseph. Ich möchte, dass sie da raus kommen.“
„Was? Sind sie übergeschnappt?“
„Sehen sie sich ihre Stiefel an. Der Der Spiegel von C2 steigt höher. Kommen sie da raus oder wollen sie auf der trage des Hubschraubers weggeflogen werden?“
Harkness blickte an sich hinab. Der Restschlamm reichte ihm tatsächlich fast bis zur Hüfte. Er sah rasch zum Ufer und bemerkte, dass die Wasserlinie sich tatsächlich näher an die Piste gearbeitet hatte.
Eine dritte Welle schwemmte ihn beinahe von den Beinen. Er fiel nur deshalb nicht um weil er sich geistesgegenwärtig auf den Stock stützte.
„Ah.“
Pullman erschien links in seinem Gesichtsfeld.
„Reichen sie mir die Stange. Ich ziehe, sie laufen.“
Harkness hatte es plötzlich sehr eilig. Soviel Kraft wie er aufwenden konnte legte er ins Vorwärtskommen.

Christian sondierte immer noch die Seemitte, den Ort von dem aus die Wellen zu kommen schienen. Er hatte so etwas noch nicht erlebt und ging im Geiste alles durch was er über Restschlamm wusste.
Es konnte zu Blasenbildung unter der Oberfläche und sogar zu Lufteinschlüssen kommen. Solche Einschlüsse wanderten unter bestimmten Konditionen nicht direkt an die Oberfläche, sondern konnten phantastischer weise einige Tage im Verborgenen bleiben. Brach ein Damm oder war undicht und entließ das schwarze Gift, dann konnte es zu Strömungen kommen. Aber ihm wollte nichts einfallen, das es ermöglicht hätte aus dem puren Stillstand Wellen zu erzeugen.
Harkness hatte bereits das Ufer erreicht. LaBrouche stützte ihn, während Pullman ihm die Stiefel auszog und stattdessen die Halbschuhe reichte. Lincoln stellte dem Chemiker Fragen und untersuchte gleichzeitig das innere der ausgezogenen Watstiefel.
Eine Wellengruppe von Fünf hintereinander liegenden Kämmen rollte langsam und gemächlich dem Ufer entgegen. Kurz nacheinander legten sie sich über die Wasserlinie und raubten einen ganzen halben Meter an Boden. Auch sie liefen nicht wieder ab, sondern blieben liegen wo sie ausgerollt waren. Christian stolperte überrascht ein paar Schritte zurück und zog Lincoln am Ärmel mit sich.
„Wir sollten sehen dass wir abhauen.“
„Nur noch einen Moment.“ Sagte der Sanitäter. Er rannte zur an der Seeseite bereits vom Restschlamm verschmutzten Probentruhe, entnahm ihr einen Kopfgroßen Gefahrstoffbehälter und strich mit der Käscherstange etwas von dem schwarzen Schlamm hinein. Er hätte ihn fast fallen lassen als LaBrouche aufschrie.
„DA! Seht Euch das an, da ist doch was drin!“
Die Gruppe folgte seinem Blick. Was sie sahen, entgleiste ihre Mienen und hielt sie an den Fleck gebannt. Zwar rollten immer noch Wellen auf das Ufer zu, doch was sich dort bereits angesammelt hatte bewegte sich wider allen Verstandes Zentimeter für Zentimeter weiter über die Schlammpiste. Einen unendlichen Moment lang stand die Welt still, während die Männer die invasive Masse auf ganzer Uferbreite beim fortbewegen beobachteten.Irgendjemand jauchzte ängstlich.
Brunner erwachte aus dem perplexen Zustand.
„Weg jetzt hier. Alle. LaBrouche, Harkness, Pullman, Lincoln – in den Wagen!“
Christian brauchte die Aufforderung nicht zu wiederholen. Sie alle erinnerten sich wieder an die eine bestimmte Art von Angst, die sie mit dem altern vergessen hatten. Sie waren wieder Kinder, die keine Erklärung hatten für das, was sich unter dem aus den Wolken hervorschälendem Sonnenschein abspielte.
Die Männer nahmen ihre Plätze in der Fahrerkabine und im umgebauten Lazarett ein. Der Sicherheitschef startete den Wagen, würgte ihn ab und zündete ein weiteres mal. Lincoln und LaBrouche starrten wortlos auf das sich ihnen immer weiter nähernde Ufer.
Lautlos kroch der Inhalt des Giftsees um die Räder des Humvee. Am Himmel wurde das Dröhnen eines Sikorsky Seelöwen, der zur Rettung von Gerard Nolan niemals rechtzeitig hätte eintreffen können, lauter.
 
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Kommentare  

Hi Petra.
Das nächste Kapitel kommt, wenn alles gut geht auch wieder am Montag. Wenn ich es schaffe Freitag Nacht durch zu schreiben (Ich habe mir das richtig vorgenommen - Viel Käse, eingelegten Knoblauch (sehr gesund) und schwarzen Tee), dann auch schon Sonntag.
Ja, Natur kann schrecklich sein. Aber auch so atemberaubend phantastisch, das man gar nicht glauben mag was es alles gibt. Und das coole ist, finde ich, wir sind mittendrin statt nur dabei :-)


Killing Joke (13.10.2009)

Puh, da gruselt`s einen echt. Dabei gehen hier weder Mörder noch Geister um. Die Natur kann wesentlich unheimlicher sein, mit ihren "Überraschungen". Wann kommt`s nächste Kapitel?

Petra (13.10.2009)

Dankeschön für die Kommentare!

Ich werde hier und dda noch ein paar Rechtschreibfehler ausbügeln müsse und einige kleinere Wiederholungen ebenfalls, doch ich denke auch dies ist mir ganz gut gelungen. Besser als ich beim schreiben und dem ersten überarbeiten gedacht habe.


Killing Joke (13.10.2009)

Schön, dass es weitergeht mit deiner Gänseschauergeschichte. Die schlechten Anzeichen mehren sich. Die Katastrophe schleicht sich langsam immer näher.

Jochen (12.10.2009)

Spannend, super geschrieben. Ich bin bereit für den nächsten Teil!! ;0)
Liebe Grüße Dubliner Tinte


Pia Dublin (12.10.2009)

Mächtig unheimlich, was Gerard Nolan im Giftsee widerfährt. Übel riechende Wellen erbobern plötzlich das Ufer. Erschreckend und ziemlich ekelig das Ganze und wie immer hervorragend geschrieben.

doska (12.10.2009)

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