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9 Seiten

Crysella und der Schwarze Mond/ Kapitel 4

Romane/Serien · Fantastisches
© rosmarin
4. Kapitel
__________________
Räche dich.
Mordlust. Rache.
Diese Worte gehörten nicht zu Crysellas Wortschatz, geschweige der Gedanke der Tat. Doch sie würde willig den Einflüsterungen ihres Nachtgemahls folgen. Dessen war sie sich sicher.
Entsprungen einer ihr unbekannten Quelle, vergleichbar einem stillen Wasser, das, durch unerwartete Wolkenbrüche aufgeschreckt, anschwillt, steigt und steigt, und schließlich, über die Ufer geschwemmt, alles, was sich ihm in den Weg stellt, mitreißt, mit wildem Ungetüm zerstört, um dann, vielleicht, endlich wieder in sich Selbst zu versinken, war sie Seth verfallen, ihm hörig mit Leib und Seele.
Seth, der Schattengott, war in sie gefahren. Sie waren ein Geist. Ein Fleisch. Ein Blut. Ein Teil ihres Lebens. Und sie nahm ihn mit in ihren Tag.
Seth erschien jede Nacht. Und sie war glücklich und fasziniert von den Abgründen, die sich ihr auftaten. Doch besonders faszinierend waren die Vollmondnächte. Wenn der Mond voll und rund und der Himmel dunkel war, kannte ihre Lüsternheit keine Grenzen und Seth wiegte sie berauscht in seinen langen Fledermausarmen.
„Du bist die erste unsterbliche Erdenfrau“, schmeichelte er, während er zum wiederholten Male Besitz von ihrem glühenden Körper ergriff.

‚Wo ist die Grenze zwischen Liebe und Hass‘, dachte sie, erfüllt von Scham, Gier, ungezügelter Leidenschaft.
‚Ist sie eine Gradwanderung zwischen Gut und Böse? Wie tief ist der Abgrund zwischen Verstand und Gefühl.?‘

Wie war es mit den Geistern, die sie rief? Sie musste es unbedingt heraus finden. Um jeden Preis. Und sollte es ihr Leben kosten.

Das reale Leben war ausgelöscht. Es fiel ihr immer schwerer, Traum und Fiktion von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie schrieb wie besessen. Schrieb über das Leben der - Die andere Frau -, die so viel Ähnlichkeit mit ihr selbst hatte. Alles vermengte sich. Und allmählich geriet sie in einen chaotischen Zustand, aus dem sie nicht mehr heraus fand. Immer heftiger sehnte sie die Nächte herbei, in denen Seth erschien und sie liebte.
„Du musst Ricardo töten“, verlangte er eines Tages, während sie in seiner lüsternern Umarmung verging.
„Ich bin doch keine Mörderin“, wehrte sie sich schwach.
„Dann schreib.“ Seth verschwand.
Doch der teuflische Gedanke des Tötens ließ ihr keine Ruhe. Beflügelte mehr und mehr ihre aufgeputschte Fantasie. Nahm Besitz von ihrem verlorenen Ich. Und, anstatt ihre Doktorarbeit zu schreiben, schrieb sie die Geschichte ihrer vergessenen Liebe. Das Leben der anderen Frau.
Die Schleusen ihrer verschlossenen Seele hatten sich geöffnet. Einsam saß sie vor ihrem Geliebten, der gierig ihre Liebe schluckte. Ihren Hass. Ihre Ängste. Ihr Leben.
An der Wand wachte Seth. Und das Licht des Vollmonds erhellte das Zimmer.
Im Licht der Sonne konnte sie nicht schreiben. Die Sonne ist hell und freundlich. Sie weiß nichts vom Mond, der über den Abgründen der menschlichen Seele wacht, sein zitterndes Licht über die schweigende Natur wirft, sie drängt zu halbem Erwachen. Schatten in Gedanken verwandelt, Bäume und Felsen in lebendige Wesen.
Fremd ist ihr die Dunkelheit der verlorenen Seelen. Die Düsternis der Hölle in uns.
Im Mond ist der Teufel zum Unheil bereit. Und so, wie Diana die Königin der Nacht war und den erwachenden Mond vor sich hertrug und sich heimlich mit ihrem Geliebten, Endymion, vermählte und ihren verpönten Lüsten frönte, hatte sie sich mit Seth vermählt.
Ein gefährliches Schweigen liegt in der Stunde, in der der Vollmond erwacht. Unschuldig senkt er seine Gefährten der Nacht über die schlafende Erde.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass das Land und seine Geschöpfe eine besondere Beziehung zum Mond hätten. Nach Jahrhunderten altem Glauben solle der Bauer seine Saat nach einem Mondkalender ausbringen.
Auch heute noch richteten sich viele Fischer und Jäger nach den Mondzyklen. Und doch ist der Mond, wissenschaftlich betrachtet, nur eine leblose Gesteinskugel. Aber wenn er das Wasser der Ozeane in Bewegung bringen kann, warum dann nicht auch ihr Blut. Austern öffnen und schließen ihre Schalen nach seinem Rhythmus. Andere Meerestiere, Nautilusse zum Beispiel, eine Tintenfischart, fügen ihrer spiraligen Farbe jeden Monat eine neue Kammer an. Warum also sollte sich nicht die Welt verändern in jeder Vollmondnacht?
„Das hättest du nicht tun dürfen.“
Auf dem Bildschirm erschien Ricardos Gesicht, lächelte verzerrt.
„Du hast mich betrogen.“
Lautes Gelächter erfüllte den Raum.
„Verschwinde!“

Entsetzt starrte Crysella auf den Bildschirm. Ricardos Gesichtszüge lösten sich langsam auf. Nebelhaft tanzten gespenstische Schatten darüber, verloren sich dann in Schwärze.
Hastig schloss sie die Datei. Wo war der verdammte Kerl nur. Was für ein mieses Spiel wurde hier gespielt. Seth war auch verschwunden.
Völlig irritiert warf sie sich auf ihr Bett, schaute durch das weit geöffnete Fenster in den dunklen Himmel. Wie ein Lampion am unsichtbaren Stock hing da der Mond. Und er schien zu lächeln. Zu lächeln. In seiner erstarrten Kälte. Plötzlich löste er sich vom Himmel. Schaukelte durch die Wolken hindurch. Fiel langsam tiefer und tiefer. Verharrte einen Moment vor ihrem Fenster. Wankte hindurch. Taumelte unter ihre Decke, die sie sich angstvoll über das Gesicht gezogen hatte. Völlig erstarrt lag sie da. Versuchte zu schreien. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Stumm, mit krampfhaft geschlossenen Augen, spürte sie, wie sich das Mondgesicht zwischen ihre Brüste schmiegte, ihre Haut glitschte. Und, unfähig, sich zu rühren, blieb ihr keine andere Wahl, als still zu halten.
Das Eisgesicht rutschte tiefer, über ihren Körper, versank in ihr, grub sich regelrecht in sie hinein und, geschüttelt von wilder Ekstase, bäumte sich ihr Leib wollüstig auf. Wieder und wieder. Sie stöhnte und schrie so lange, bis sie endlich in der Lage war, die Bettdecke von sich zu stoßen und ihre Augen zu öffnen. In diesem Moment verschwand auch der Mond.
Angstvoll schaute sie zum Himmel. Dort hing er. Gelassen. Unnahbar.

Dem Wahnsinn nahe, sprang sie aus dem Bett.
„Du bist verrückt!“,schrie sie wild. „Verrückt! Verrückt!“
Hastig zog sie die Vorhänge zu, lief ins Bad, ihr verschwitztes Gesicht zu waschen, drehte den Wasserhahn auf, der kalte Strahl plätscherte in das Becken.
Und da war sie wieder. Die schöne, fremde Frau. Lilith. Ihr Gesicht spiegelte sich im klaren Wasser.
Zärtlich schmiegte Crysella ihr Gesicht an das Gesicht im Spiegel, berührte es mit ihren Lippen, hauchte einen Kuss auf die vollen, roten Lippen.
„Wie schön du bist. Lilith. Mein Schatten.“

Sie setzte sich auf den roten Hocker vor dem Spiegel. Schaute nachdenklich in Liliths schönes, ruhiges Gesicht, bewunderte ihre herrlichen, vollen Brüste unter dem durchsichtigen schwarzen Schleier, das lange Rotfunkelnde Haar, das sich in sanften Wellen bis zur Taille schlängelte.

Haare sind nach volkstümlicher Vorstellung die Träger der Vitalkraft. Und das nicht nur bei Männern. Auch bei bestimmten Frauengestalten waren sie ein Symbol für Macht und Stärke. Delia zum Beispiel nahm Simson seine Manneskraft, indem sie ihm die Haare abschnitt. Oder auch die jüdische Legende von der Königin von Saba zeugt davon.
Die Königin soll eine furchtbar hässliche Fußbehaarung gehabt haben und somit ihre dämonische Abstammung bewiesen worden sein.
Der König Salomon hörte davon und wollte diesen Makel unbedingt mit eigenen Augen sehen. Also lud er die Königin nach Jerusalem ein. Er ließ ein Prunkgemach aus Glas anfertigen und hieß die Königin einzutreten. Der Boden war weiß und täuschte somit klares Wasser vor. Die Königin von Saba nahm also an, es sei ein kleiner See. So hob die ihr Kleid, um hindurch zu waten. Das Glas spiegelte ihre Waden und der König konnte deren dichtes Haarkleid sehen. Er bediente sich also der Spiegeldiagnostik, um das Dämonische der Königin zu entlarven. Dämonen sollen aber kein Spiegelbild haben. Und so nahm die Königin Salomon für sich ein. Sie dachte jedoch nicht daran, ihre Beine zu rasieren, hätte sie sich doch damit ihrer Instinkte, ihrer Potenz und ihrer Macht beraubt. Ebenso wie Lilith bestand sie auf ihrer Eigenständigkeit und Freiheit und wollte nicht unterliegen.
Dies geschah vor 3000 Jahren. Die Königin von Saba war also eine mutige Frau, die gar nicht daran dachte, sich den gesellschaftlich moralischen Zwängen zu unterwerfen.
Haare symbolisieren also nicht nur Macht und Potenz, sondern vor allem Freiheit. Sexuelle Freiheit. Den Sklaven wurden die Haare abgeschnitten, die Gefangenen geschoren, bis weit in unsere Zeit hinein. Frauen, die sich ihre sexuelle Freiheit nahmen, wurden mit gestutztem Haar an den Pranger gestellt, Nonnen und Mönche opferten ihr Haar und verzichteten somit auf die weltliche Freiheit.

„Und, was das Wichtigste ist“, riss Lilith Crysella aus ihren Gedanken, „Haare sind der Ausdruck für das Mystische, Magische. Sie sind Symbol für schwelgerische Wollust. Sie verführen den Mann, in die Abgründe der Frau einzutauchen.“
„Oh, Lilith.“
Über Crysellas Gesicht zog langsam eine helle Röte, die Röte der Scham.
„Ich weiß, was du meinst“, sagte sie. Sie dachte an Ricardo und sein Begehren. Und sie dachte an Will und sein langes Haar.
„Ich habe mich gefügt.“
„Das Schamhaar verbirgt diese Abgründe“,fuhr Lilith lächelnd fort. „Und doch ahnt, ja, weiß der Mann sie dahinter. Einige Männer trauen sich nur an glatt rasierte Mösen.“ Lilith lachte verächtlich. „Weil sie überschaubar sind und an das Geschlecht junger Mädchen erinnern, Denen können diese Männer mutiger begegnen. Denn sie haben Furcht vor einer reifen, selbstbewussten Frau.“
„Ich bin eine Eva“, flüsterte Crysella beschämt. „Ich bin eine Eva.“
Sie erinnerte sich, was sie über Lilith und Eva gelesen hatte, als sie für ihre Doktorarbeit recherchierte. Demzufolge schuf Gott Lilith, die erste Frau, so wie er Adam erschaffen hatte. Doch statt reinen Staubes nahm er nur Schmutz und Abfall. Aus der Vereinigung mit Adam gingen Asmodeo und unzählige andere Dämonen hervor. Diese sollen noch heute eine Plage für die Menschheit sein. Man erzählt auch, dass Adam und Lilith nicht in Frieden miteinander leben konnten, weil Lilith mit der ihr im Beischlaf auferlegten Stellung nicht einverstanden war. Sie wollte nicht unter Adam liegen.
"Warum soll ich unter dir liegen", soll sie erzürnt gesagt haben. "Ich bin wie du aus Staub erschaffen. Also dir ebenbürtig."
So kam es, dass Adam sie mit Gewalt unterwarf. Und ihr wurde bewusst, dass er sie niemals gleichrangig behandeln würde. In ihrer Verzweiflung rief sie dann den unaussprechlichen Namen Gottes und flog durch die Lüfte davon.
Adam aber flehte zu Gott, er möge die Rebellin finden und zu ihm zurück bringen. So schickte Gottvater drei Engel aus, die Entflohene zu suchen.
Diese fanden Lilith in der Nähe des Roten Meeres. Sie war die Braut der dort lebenden Dämonen geworden, beging unreine Handlungen mit ihnen, was immer das auch heißen mag, und empfing täglich unzählige dämonische Kinder, die Lilim.
Die Engel überbrachten ihr die Warnung Gottes. Demzufolge sollten täglich Hunderte ihrer Kinder sterben, wenn sie nicht zu Adam zurückkehren würde.
Doch Lilith weigerte sich hartnäckig.
"Wie kann ich nach diesem Aufenthalt hier jemals zu Adam zurückkehren?", soll sie erwidert haben, "und als seine ehrbare Frau leben?"
Also zog sie es vor, zu bleiben und wurde selbst zum bösen Dämon. So die Überlieferung. Es könnte aber auch alles ganz anders gewesen sein. Darüber wollte sie später nachdenken. Jetzt schaute sie noch immer in das wunderschöne Gesicht Liliths.
Auf die Ausrottung ihrer Kinder soll sie äußerst grausam reagiert haben. Sie erwürgte die Neugeborenen, sofern sie nicht durch ein ganz besonderes Amulett geschützt waren. Oder sie ließ die werdenden Mütter bei der Geburt sterben. Und die Männer verführte sie im Schlaf oder schickte ihnen wüste Träume.
„Ich verkleidete mich als Dirne und erwartete sie an irgendeiner Kreuzung oder in dunklen Ecken“, hauchte da Lilith. „Und dann ermordete ich sie. Sofort nach dem Beischlaf“, lachte sie hexisch. „Oder ich ließ sie verrückt werden.“

Erschreckt zuckte Crysella zurück. Das konnte nicht wahr sein, dass Lilith selbst diese Geschichten bestätigte.
„Inzwischen nahm Gott eine Rippe von Adam“, sprach Lilith da leise weiter. „Und schuf ihm daraus eine neue Gefährtin.“ Wieder lachte sie boshaft. „Doch auch das ging nicht gut. Denn auch Eva war ungehorsam und achtete nicht das Gebot Gottes, sondern erlag den Einflüsterungen der Schlange.“
„Du hast Recht, Lilith, meine Schöne“, stimmte ihr Crysella bei. „Sie pflückte den verbotenen Apfel vom Baum der Erkenntnis, gab auch Adam davon zu kosten und wurde von Gott verflucht.“
„Und beide mussten das Paradies verlassen.“ Liliths Gesicht war jetzt groß und klar. Ihre hellen Augen sahen eindringlich in Crysellas. „Und auf der unwirtlichen Erde leben.“
„Man sagt auch, dass du dich in die Schlange verwandelt haben sollst, um Eva zu verführen.“
„Man sagt so Vieles. Unzählige Mythen ranken sich um mich. Doch wie es wirklich war, weiß nur ich. Und es wird für euch Menschenkinder ein ewiges Geheimnis bleiben.“

Beide Frauen waren also ungehorsam und wurden von Gott verstoßen. Beide handelten als Individuen. Und beide erscheinen und heute sehr menschlich in ihrem Wissensdurst, ihrer Eigenwilligkeit und Unvollkommenheit. Und beide mussten die Prüfungen der unwirtlichen Erde bestehen.

„Den Müttern, die ihre Kinder durch den Tod verlieren, bringt dein Aufenthalt hier auf Erden Trauer und Schmerz“, sagte Crysella aufmüpfig.
„Sie sollen leiden, wie ich gelitten habe.“ Liliths Augen funkelten böse im Glas des Spiegels. „Täglich musste ich Hunderte meiner Kinder sterben sehen.“ Jetzt lachte sie ihr süßes, aber doch so unheimliches Lachen. „Ihr Menschen seid nicht geschaffen,in immerwährender Glückseligkeit zu leben. Was wisst ihr über die menschliche Seele. Ihre Untiefen. Verirrungen. Verwirrungen. Nichts wisst ihr. Gar nichts. Doch ihr alle tragt die Erbsünde in euch.“
Lilith zeigte ihren Kussmund. „Und du bist doch immer noch eine echte Eva“, sagte sie spitz. „Schau dich doch an.“

Ja, Crysella war noch eine Eva, wenn auch eine, die manchmal aufmuckte, sich aber im Allgemeinen unterworfen hatte. Ihren Männern zum Beispiel, musste sie sich beschämt eingestehen. Und besonders auch dem Schönheitsideal der Zeit. Diesem zufolge hatte der weibliche Körper haarlos zu sein. Und sie entfernte gewissenhaft jedes störende Härchen. Rasierte ihre Scham, frei zugänglich für Ricardo.
Achselhaare waren auch etwas Verpöntes, ebenso wie die anderen behaarten Körperteile. Also sparte sie nicht mit Kosmetikprodukten.

„Die Kosmetikindustrie erfährt damit gerade einen Boom“, höhnte Lilith. „Aber wer bedenkt schon die Nebenwirkungen dieser chemischen Mittel.“
„Und die wären?“
„Antriebsschwäche, Müdigkeit, Libidoverlust, Blutungsstörungen, Migräne, depressive Verstimmungen.“
„Du spinnst.“ Crysella sprang auf. „Verschwinde! Du Trugbild meiner Sinne!“
„Nach astrologischer Zuordnung sind dies die Folgen bei einem Defizit von Mars und Sonne“, fuhr Lilith unbeeindruckt fort. „Eva unterdrückt diese Qualitäten und unterwirft sich freiwillig dem patriarchalen Schönheitsideal.“
Lilith bewegte ihre auf dem Rücken befestigten, durchsichtigen blauen Flügel und flüsterte, ehe sie verschwand:
"Denk mal darüber nach."

Nachdenklich saß Crysella auf dem roten Hocker.
Was wusste sie eigentlich über sich. Vielleicht schlummerten ja auch in ihr Geheimnisse, die lieber in ewiger Dunkelheit ihr Schattendasein fristen sollten. Die Jahre ihrer frühen Kindheit waren in tiefe Nacht gehüllt. Ihre Erinnerungen begannen mit ihrem zwölften Lebensjahr. In einem Kloster. Nonnen und Zöglinge waren ihre Familie. Dunkel erinnerte sie sich an einen Opa, obwohl die Nonnen sagten, sie sei ein Findelkind.
Sie war ein scheues Kind, ständig beschäftigt mit sich und ihrer ungelebten Vergangenheit. Doch das war vergessen, als sie Will kennen lernte. Mit achtzehn. Und sie wagte den Schritt in ihre vermeintliche Selbständigkeit. Vom Regen in die Traufe. Geschieden mit 25.
Und dann begegnete sie Ricardo. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ihr Chef gab eine Party, feierte seinen 50. Geburtstag. Als der Tanz begann, stand Ricardo vor ihr, wie der Prinz aus dem Märchenland. Er faszinierte sie so sehr, dass sie sogar seine blöden Komplimente vor Wonne erschauern ließen.
„Ein wunderschönes Kleid tragen Sie“, ließ er sie wissen. Lach. Lach. „Es umschmeichelt Ihren Körper wie die Haut eine Schlange.“
Schöner Vergleich. Was war sie doch für ein Schäfchen. Nichts wusste sie von der Welt da draußen. Nichts. Hinter den Klostermauern lag das große Schweigen. Lernen, Beten, Gehorchen, Ritualen, Träumen. Ein Leben in Monotonie.
Vor den Klostermauern ein Leben in Arbeit, oder noch schlimmer, ohne Arbeit.
Und nun himmelte sie Ricardo stumm an. ‚Der muss doch denken, ich bin eine dumme Gans‘, dachte sie.
Noch jetzt hörte sie ihn sagen:
„Und Collier und Armband harmonieren wunderbar mit dem duftigen Schwarz Ihres Hautkleides. Sind das Smaragde?"
Sie war kaum fähig, sich zu bewegen. So sehr zitterten ihr die Beine. Ricardo berührte die tief grün funkelnden Steine, streifte wie zufällig ihren Hals mit seinem Finger. Sie bekam eine Gänsehaut, hauchte töricht:
„Ja, Smaragde.“
Schon an diesem Abend ersten Abend haben sie miteinander geschlafen und sie somit ein wichtiges Verbot überschritten, eine Todsünde begangen.
„Mein Gott. Wie Lilith.“

Crysella schmiegte ihr Gesicht wieder an den Spiegel. Im gleichen Moment erschien Liliths schönes Gesicht.
„Im Auto“, sagte sie. „Und am nächsten Abend in seinem Haus. In seinem Bett.“
„Ja, die Liebe mit Ricardo war einmalig." Crysella atmete tief durch. "Und dann hat er mich so brutal in den Arsch getreten!" Wütend sprang sie vom Hocker, lief im Badezimmer auf und ab, dann wieder zurück zum Spiegel. „Und du bist auch nur so ein Phantom!“, schrie sie. „Verschwinde endlich! Verschwinde!“
Sie griff die Bodenvase, die neben dem Spiegel stand, und warf sie mit voller Wucht hohnlachend an den Spiegel. Klirrend zersprang er in tausend Scherben, die im Licht des Mondes flimmerten und flammten, während Lilith sich auflöste im Kaleidoskop des zersprungenen Glases.
„Tritt hindurch", hauchte sie, ehe sie ganz verschwand. "Die Wahrheit liegt hinter dem Licht."

***

Fortsetzung folgt
 
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Kommentare  

Es sieht nicht gut aus für Ricardo. Man kann nur hoffen, dass Crysella nicht auf Seth hört. Ja, das Haar und die Macht der Frau. War ein interessantes Thema.

doska (02.02.2010)

hallo, ingrid und jochen, habt ganz lieben dank für die kommis.
@ingrid - das mit den haaren fand ich bei meinen recherchen auch überaus interessant und aufschlussreich. wie auch die beschäftigung mit dem lilithmythos überhaupt.
@jochen- vielen dank für das aufmerksame lesen. ich hatte doch tatsächlich den satz- denk mal darüber nach - vergessen. nun ist er wieder da, wo er hin gehört.
ich denke auch, dass lilith durchaus für männer interessant sein kann, erfahren sie doch durch sie viel über die frau. und wenn du mal wüste erotische träume haben solltest, weißt du nun, wer sie dir geschickt hat. ich schreibe gerade das fünfte kapitel und hoffe, ihr bleibt mir treue leser.
hier kommen ganz liebe grüße von


rosmarin (30.01.2010)

Sehr spannend. Crysella ist völlig verträumt und gibt sich immer noch Seth hin. Wobei man sich zu fragen beginnt, ob dieser Typ nicht vielleicht auch ein realer Mann sein könnte - zum Beispiel Will, denn auch der hat wohl langes Haar. Sehr interessant ist auch die Geschichte der Lilith, die du dabei einflechtest. Ich habe mich nie mit diesem Thema beschäftigt und darum war es schön mich, soviel über sie zu erfahren. Wie gesagt, es bleibt sehr spannend und mystisch und auch erotisch.
Kleiner Flüchtigkeitsfehler: An einer Stelle fehlt der restliche Text.

Lilith bewegte ihre auf dem Rücken befestigten, durchsichtigen blauen Flügel und flüsterte, ehe sie verschwand:

WAS flüsterte sie? Das fehlt hier.


Jochen (30.01.2010)

wie ein lampion am unsichtbaren stock hing da der mond....
der vergleich gefällt mir sehr. und das mit den haaren ist interessant, wie der rest auch, frauen... gespalten zwischen eva und lilith - und dann auch noch seth...
liebsten gruß ;)


Ingrid Alias I (30.01.2010)

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