247


5 Seiten

Townsen 1/3

Romane/Serien · Spannendes · Experimentelles
Eine Stadt wie Townsen war eine typische Stadt des neuen Zeitalters. Post-Postmodern sagte man gerne dazu. Wie man es auch immer nennen mochte: für Jip war es die reine Hölle. Eine Stadt nach ihrem Kollaps, nach der Zeit, in der sie die Menschenmassen, die sie beherbergen musste, nicht mehr fassen konnte; nach dem der Müll, den die Bewohner produzierten, nicht mehr ausreichend schnell weggeschafft werden konnte, damit man zu der Stadt sagen könnte, sie sei sauber. Ohnmachtsgefühle beherrschten diese Stadt, dieses Gefühl durchdrang einfach alles und jeden. Diese Stadt war ein riesiger, schwarzer Schlund, der alles, was an Materie und Seele in seine Reichweite geriet, unerbittlich an sich zog, in sich aufsaugte und danach wieder angeekelt ausspuckte, so als habe es der Stadt gar nicht geschmeckt. Was davon dann noch übrig blieb, wenn denn etwas übrig blieb, war von da an in das Gesamtbild integriert, ja assimiliert, trug, ob dies nun gewollt wurde oder nicht, selbst dazu bei, dass es jedem Neuankömmling in dieser Stadt ganz genau so erging.
Townsen war die Hölle oder zumindest die Vorhölle auf Erden. Wollte ein menschliches Leben einen kleinen Vorgeschmack darauf bekommen, was nach dem Tot auf ihn warten könnte, brauchte er lediglich dieser Stadt einen Besuch abzustatten.
In dieser Stadt schien es die allermeiste Zeit zu regnen. Jip konnte sich nicht daran erinnert, wann er es das letzte Mal erlebt hatte, dass hier die Sonne geschienen hatte. Er stand gerade in einer engen Gasse. Die nächste Hauptstrasse war weit entfernt. Um ihn herum überall Schmutz, Ratten, die zwischen den Abfällen nach etwas Essbarem suchten und hin und wieder schlich irgendwo ein Underdog herum. Jip wusste schon gar nicht mehr, wie oft er in dieser Stadt dem Tode gerade mal eben so von der Schippe gesprungen war. Jedes mal hatte er sich dabei eine tiefe physische und auch seelische Wunde zugezogen gehabt. Bis jetzt waren sie immer so weit wieder verheilt gewesen, dass er weiter hatte überleben können; dass er in dieser Stadt, die er gleichzeitig liebte und hasse, weiter sein tristes Dasein führen konnte.
Wie lange konnte wohl ein menschliches Lebewesen so einen Zustand auf Dauer aushalten, bis es unweigerlich zugrunde ging; bis es an seinen vielen seelischen und physischen Narben zerbrechen würde und zu einem der vielen Underdogs werden würde, die unter der Erde in den alten U-Bahnschächten hausten und darauf warteten, bis einer der Snaps zu ihnen kam, um sie zu jagen und anschließend hinzurichten, auf diese Weise deren ungnädiges Dasein beendeten?
Jip wusste es nicht zu sagen. Er wollte es auch gar nicht wissen. In diesem Falle war Unwissenheit dann doch mal ein Segen.
„Hey, Jip!“, hörte er plötzlich seinen Namen von irgendwoher rufen. In dieser verfluchten Stadt konnte man wirklich niemandem trauen, schon gar nicht einem so genannten „Freund“.
Jip drehte sich um und erblickte hinter sich eine Gestalt. „Hallo?“, rief er ihr zu, wobei er sich bemühte, seine Stimme gefestigt klingen zu lassen, um einem möglichen Angreifer seinen derzeitigen doch sehr gebrechlichen Zustand zu verheimlichen. Denn es kam durchaus schon mal vor, dass ein Underdog aus Zufall den Namen von jemandem mitbekommen hatte, und dieses Wissen dann ausnutzte, um von seinem Opfer zuerst das Vertrauen zu gewinnen, es dann auszurauben und nicht selten anschließend zu töten.
„Hey, Jip! Ich bins: Floley.“
Floley? Jip kannte niemanden mit solch einem Namen. „Was willst Du?“
„Ich wollte nur mal Hallo sagen. Ich meine: wie groß ist denn die Chance, dass man sich in dieser riesigen Stadt irgendwo mal über den Weg läuft?“
„Verschwindend gering.“
„Du sagst es“, bestätigte Floley oder wie immer auch dieser offensichtliche Underdog heißen mag.
Jip räusperte sich. Dann sagte er mit irgendwie etwas erstickt klingender Stimme: „Hör mal, ich muss dringend weiter. Habe leider gerade keine Zeit. Nichts für ungut. Du weißt ja: man trifft sich im Leben immer zwei Mal. Das nächste Mal können wir ja einen trinken gehen.“
„Aber Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder Jip? Ich möchte doch nur Hallo sagen, das ist alles.“
Der Regen wurde plötzlich stärker. Um die beiden herum klatschten die dicken Regentropfen mit einem lauten „Platsch!“ auf den Boden. Man sah, wie sich die Ratten davon machten und irgendwo einen sicheren Unterschlupf suchten. Genau das hätte Jip nun auch sehr gerne getan. Diese Situation war ihm alles andere als geheuer.
„Tut mir wirklich leid, aber ich kann gerade nicht. Machs gut.“ Jip drehte sich um und bekam sofort eine sehr unangenehme Gänsehaut auf seinem Rücken. Er wollte diesem Fremden eigentlich nicht seinen Rücken zuwenden. Dennoch tat er es. Er schien immer noch Hoffnung zu haben, dass er aus dieser Situation irgendwie mit heiler Haut herauskommen könnte.
Jip trat einen Schritt nach vorne. Seine Beine waren wie Wackelpudding. Er betete zum regnerischen Himmel hinauf, dass er nicht hinfallen würde, denn dies könnte seinen Tod bedeuten.
Plötzlich knickte ein Bein etwas ein. Sofort fing er sich aber wieder.
Seine kleine Schwäche war auch dem Fremden offensichtlich keines Wegs verborgen geblieben, denn dieser setzte sich nun auch in Bewegung.
Als Jip dies bemerkt hatte, rannte er so schnell er nur konnte los. Er stürzte zur nächsten Tür hin. Sie war alt, uralt und elend schmutzig, so wie alles andere auch in dieser Stadt. Dem Himmel sei Dank!, dachte er erleichtert, als er sie öffnete. Er trat hektisch ein und zog die Tür hinter sich hastig wieder zu. In Todesangst versuchte er nun, den Angreifer vom Eintreten abzuhalten.

„City Twister“ war das Lieblingslokal von Floley. Dort gab es den härtesten Whiskey der Stadt. Floley mochte alles, was hart ist. So musste man eben in solch einer Stadt sein, wenn man überleben wollte.
In diese Art von Bar ging man nicht hinein. Der Tresen war direkt an der verdreckten Strasse. Ratten huschten einem um die Füße herum. Schien einmal die Sonne, stank die ganze Stadt zum Himmel. Also fast schon ein Glück, dass es hier die meiste Zeit regnete. Dadurch wurde auch viel vom überall herumliegenden Dreck die Abflüsse runtergespült, wahrscheinlich zu den Underdogs, die irgendwo da unten hausten.
Floley setzte sich auf einen der Hocker. Er schien zu diesem Zeitpunkt der einzige Gast hier zu sein.
„Gib mir einen von deinen scharfen“, sagte er zu dem Wirt, der gerade mit dem Abwaschen irgendwelcher Gläser beschäftigt war. Nach Floleys Ansicht könnte der sich dies auch getrost sparen. In dieser Stadt war doch eh alles dreckig, weshalb dann nicht auch die verdammten Whiskeygläser.
Der Wirt schnappte sich eins der sauberen Gläser, bückte sich, nahm eine Flasche vom schärfsten aus einer der untersten Schubladen – die gute alte Bückware – und goss seinem Stammgast großzügig ein. Dann stellte er Floley das Glas vor die Nase hin und sagte anschließend: „Lass es dir schmecken, Floley. Aber nicht gleich alles auf einmal. Dieser Jahrgang ist besonders ätzend. Die verträglicheren hast Du mir schon alle weg gesoffen.“ Dabei musste der Wirt über seinen eigenen Witz lachen, wobei mal wieder seine Goldzähne zum Vorschein kamen. Es war immer noch ein Rätsel für Floley, wie es sein konnte, dass dieser Typ noch alle seine Goldzähne im Maul zu haben schien. Es liefen hier in der Gegend viele seltsame Typen herum, die nur auf so etwas warteten. Ein Leben war in dieser Stadt nicht besonders viel wert. Dafür aber Gold umso mehr.
„Bist Du meine Mutter, oder was?“, fragte Floley den Wirt ein wenig herausfordernd, schnappte sich das Whiskeyglas, das vor ihm stand, wobei der Inhalt bedrohlich hin und her schwappte, und trank das Glas auf einen Schluck aus.
Der Wirt verstummte und gaffte seinen Gast mit offenem Mund an. Anscheinend wartete er auf irgendeine Gefühlsregung. Zwar brannte dieses Zeug tatsächlich wie die Hölle, jedoch war Floley in diesem Moment alles andere als dazu geneigt, seinem Wirt den Gefallen zu tun, dies vor ihm auch zu zeigen. Er zeigte ihm keine Regung sondern ertrug den Schnaps wie ein harter Kerl, der er nun einmal war oder zumindest sein wollte.
Der Wirt schüttelte nach einer Weile seinen Kopf, murmelte so etwas wie: „Floley, Du wirst mir immer ein Rätsel bleiben“ und widmete sich dann wieder voll und ganz seinen Gläsern.
Es dauerte lange, bis der sprittige Geschmack dieses Getränkes wieder ein wenig nachgelassen hatte. Dieser Whiskey stieg sofort in den Kopf. Floley fühlte sich nun wie betäubt, so als würde sich ein unsichtbarer Schleier langsam um ihn herum legen. Das Plätschern des Regens schien sich zu entfernen, auch die Erinnerung an das, was er vor weniger als einer Stunde getan hatte. Der Wirt hatte recht: dieses Gesöff schmeckte mehr nach Spiritus als nach Whiskey. Floley trank ihn auch weniger wegen des Geschmacks, als viel mehr des Vergessens wegen. War vielleicht der Whiskey das Einzige, das ihn dazu befähigte, in dieser kranken Stadt zu leben?
Etwas benommen kramte er in seinen Taschen herum. Es dauerte eine Weile, bis er etwas Geld gefunden hatte. Er legte einen Schein auf den Tresen und winkte ab, als ihm der Wirt das Wechselgeld geben wollte. Geld war wahrscheinlich das Letzte, das Floley wichtig war. Seine Seele war ihm wichtig, aber doch kein beschissenes Geld. Allerdings war seine Seele schon lange verloren, das wusste er nur allzu gut. Und somit war ihm nichts mehr wichtig. Keine Ehre, kein Geld – einfach nichts. War das vielleicht der erste Schritt hinunter zu den Underdogs?
Floley musste grinsen. Vielleicht war es sein Schicksal, wer wusste das schon zu sagen. Und dem Schicksal konnte man genau so wenig entkommen, wie dieser verdammten Stadt.
Er machte sich auf den Weg.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Das ist ja wirklich ein grässliches Städtchen, diese vielen Ratten ..Bäh! ... und mittendrin ein tieftrauriger Floley, der NOCH kein Underdog ist. Was wird Floley wohl erwarten wenn er wieder zur Tür hinaus tritt ? Ein athmospärisches Kapitel. Bin gespannt wie es weitergeht.

Jochen (19.04.2010)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Geld  
Der Wandel tobt  
Das Geheimnis  
Die letzte Reise  
Die blöde Katze  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De