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10 Seiten

Sünde einer Nacht/3/erotische Geschichte 11

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
-3-
____
„Ja, so war das, meine Liebe“, sagte ich zu mir selbst, während meine Gedanken zurück in den Prüfungsraum schweiften.

Die Mitglieder der Prüfungskommission hatten mich freundlich angelächelt, der Vorsitzende sich erhoben, mir die Hand gereicht, gedrückt und versprochen:
„Sie hören von uns.“
Ich würde nie etwas hören von denen. Nie. Nach diesem Reinfall. Diesem Lachen.
Nachdem ich das Vorgespräch hinter mich gebracht hatte, kam die Etüde an die Reihe.
„Und nun spielen Sie uns einen Fisch.“

Einen Fisch. Einen Fisch? Wie sollte das denn gehen. Völlig ratlos schaute ich mich um, sah nur lächelnde, ausdruckslose Gesichter. Niemand würde mir helfen. Wie kann man einen Fisch spielen.
Da, plötzlich, einer Eingebung folgend, schmiss ich mich in meinem schönen roten Kleid und den schönen neuen, roten Stöckelschuhen, die schwarze Lacktasche in der Hand, der Länge nach auf den blanken Dielenboden. Ich riss meine Augen auf, so gut das möglich war, und hatte nur einen einzigen Gedanken:
'Hoffentlich verplapperst du dich nicht.'
Dann bewegte ich ratlos meinen offenen Mund, wie ein Stummer, der als Ergänzung zu seiner Zeichensprache die Mimik einsetzt. Ich legte meine Arme an die Hüften, spreizte meine Finger, wippte mit ihnen und den Füßen auf und nieder. Bestimmt sah ich wirklich aus wie ein Fisch, der im Trockenen nach Luft schnappt. So bemühte ich mich eine ganze lange Weile.
„Sehr schön“, erbarmte sich endlich ein Herr im dunklen Anzug. „Sie dürfen sich erheben.“
Ich erhob mich erleichtert, schien ja die Prüfungskommission überzeugt zu haben.

Doch das war nur der Anfang. Ich sollte noch einen Ausschnitt aus einem klassischen Stück spielen. Das tat ich doch liebend gern. Darauf hatte ich mich gut vorbereitet. Der Monolog aus der Jungfrau von Orleans war mein Lieblingstext und Friedrich Schiller sowieso mein Lieblingsdichter.
So rezitierte ich, wo ich stand und ging, zum Beispiel zu Hause beim Abwasch, beim Putzen, beim Saugen, draußen auf den Wiesen, den kleinen Bächen und wogenden Feldern, an deren Rand ich manchmal stundenlang saß und dem Gesang der Vögel lauschte, dem Säuseln des Windes und all den geheimnisvollen Lauten der Natur.
Manchmal, selten, wenn es meine Zeit erlaubte, legte ich mich auch einfach nur ins Gras, verschränkte meine Arme unter dem Kopf, träumte den Himmel an und die Wolken, die hoch über mir ihr seltsames Spiel trieben, und rezitierte voller Inbrunst meine Lieblingspassagen.
Besonders in meiner Klasse nutzte ich jede Gelegenheit, meiner Johanna zu huldigen und rezitierte lautstark hinter dem Lehrertisch:

Vierter Auftritt
(Johanna allein)

Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften,
Ihr traulich stillen Täler, lebet wohl!
Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,
Johanna sagt euch ewig Lebewohl.
Ihr Wiesen, die ich wässerte, ihr Bäume,
Die ich gepflanzet, grünet fröhlich fort!
Lebt wohl ihr Grotten und ihr kühlen Brunnen!
Du Echo, holde Stimme dieses Tals,
Die oft mir Antwort gab auf meine Lieder,
Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder!

So, als hätte ich damals schon gewusst, dass auch ich einmal fortgehen und meine geliebten Wiesen, Berge und Täler verlassen und niemals wiederkehren würde.

Natürlich zollten mir die Klassenkameraden verdienten Beifall und ich fing wieder von vorn an, bis der Lehrer den Klassenraum betrat und mich auf meinen Platz verwies.

Jetzt versuchte ich, mich wieder in diese Johanna, die die Natur so sehr liebte und doch in den Kampf der Menschen zog, hineinzuversetzen.
Spontan nahm ich mir einen Stuhl, der einsam in der Ecke stand, stellte ihn in die Mitte des Prüfungsraums, stieg darauf und schrie euphorisch:

Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,
Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
Den Feldruf hör‘ ich mächtig zu mir dringen,
Das Schlachtross steigt, und die Trompeten klingen,

Ich riss meine Arme empor, als wollte ich mich jetzt, sofort, in die Lüfte erheben, der Welt entschweben, mich von dem höchsten Gipfel eines vom Meer umtosten Felsens in die Fluten oder geradewegs in mächtiges Kriegsgetümmel stürzen würde.
Und doch warf ich verstohlen einen Blick in die Augen meiner Kritiker. Dort sah ich es amüsiert blitzen.
Aus der Traum. Bestimmt lachen die mich aus. Und ich hatte so viel Gefühl, so viel Kraft in meine Stimme, und natürlich auch in meine Gesten, gelegt. Mit Herz und Seele und Körper aktiven Einsatz geleistet.
Meine Arme sanken mutlos aus den Höhen, meine Beine trotteten zur Tür. Mein Mund sagte:
„Danke.“
Ich drückte die Klinke nieder, schloss leise die Tür von außen, lieb dann wie angewurzelt davor stehen und lauschte.
Aus dem Prüfungsraum erschallte lautes, unbeherrschtes Gelächter. Erstaunt bückte ich mich etwas und schmulte neugierig durch das Schlüsselloch.
Und was ich da erblickte, ließ mir fast das Blut in den Adern erstarren.
Die Mitglieder der Prüfungskommission warfen sich gegenseitig irgendwelche Wortfetzen zu, gestikulierten in der Luft herum und bogen sich fast vor Lachen. Es sah aus, als äfften sie mich nach. Einer war sogar aufgesprungen und sagte etwas bestimmt sehr Lustiges, denn wieder brachen alle in schallendes Gelächter aus. Bestimmt machten sie sich über mich lustig. Über wen sonst.
Wusste ich es doch. Durchgefallen. Mit Pauken und Trompeten, wie man so schön sagt.
Mist, meine Tasche hatte ich auch vergessen. Also klopfte ich an die Tür, ganz zaghaft, und stand wieder vor den jetzt wieder ernsthaften Männern, auf deren Gesichtern sich noch immer ungewöhnliche Heiterkeit spiegelte.
„Sie sollten Komikerin werden“, sagte der Mann im dunklen Anzug. „Sie haben Talent.“

Ich? Komikerin. Nie und nimmer. Das war unter meiner Würde. Mir liegt das Dramatische, war ich sicher. Ich wusste damals noch nicht, dass Komiker selten sind und komisch sein ein Kompliment bedeutete.
Ich wollte die großen Rollen der Klassiker spielen. Die Tragödien der Russen. Nicht solchen Firlefans. Komikerin.
„Sie hören von uns“, hatte ich vergessen, verbannt ins Märchen der unerfüllten Wünsche, der märchenhaften Träume. Und dann kam dieser Brief. Und dazu, als Folgeerscheinung sozusagen, Apoll. Und durch Apoll Johanna. Mein Sonnenschein. Sie war jetzt zwei Jahre alt. Und diese zwei Jahre waren alles andere als Zuckerlecken gewesen. Und das Jahr der Schwangerschaft natürlich auch.

*

Mein Mann dieser Nacht war also verschwunden. Vor Schreck blieb ich bewegungslos auf dem Bett mit der roten Plüschdecke liegen. Sie war etwas verrutscht, lag aber noch ziemlich ordentlich. Und das nach dieser Nacht. Vorsichtig befühlte ich meinen Körper. Alles in Ordnung. Nur mein Unterleib schmerzte etwas. War auch geschwollen, wie ich durch Tasten feststellte.
‚Vielleicht kommt der Kerl ja noch‘, dachte ich. ‚Der kann mich doch nicht einfach so hier liegen lassen. Allein in einer fremden Stadt. In einem fremden, separaten Zimmer. Auf einem Lotterbett.‘ Obwohl das Bett, wie gesagt, ja gar nicht so lotterig aussah.
Doch er konnte. Und ich konnte nicht begreifen, wie all das geschehen konnte. Und zwar mir, die ich immer so zurückhaltend Männern gegenüber gewesen war.
Mach das Beste draus, war mein bester Gedanke. Doch was war das Beste.

Nach einer Stunde intensiven Nachdenkens meinte ich zu wissen, was das Beste war.
Ich würde nicht wieder in mein altes Leben zurückkehren. Linda würde mich ausquetschen wie eine Zitrone und ich ihr diese Sünde dieser Nacht gestehen. Denn in Lindas Augen war es eine Todsünde. Dessen war ich mir sicher. Sie würde mir Vorwürfe machen, mich einsperren, keinen Schritt mehr alleine tun lassen.
„Du verdorbenes Ding“, vernahm ich ihre zornige Stimme, „wie kannst du mir so etwas antun! Habe ich mich deswegen mein ganzes Leben abgerackert, damit du dir von dem erstbesten hergelaufenen Lümmel die Unschuld rauben lässt? So eine Schande, so eine Schande. Und du willst Vorbild sein für deine Geschwister?!“
Nein, das konnte ich Linda nicht antun.
Fluchtartig verließ ich das verruchte Zimmer. Alles war ruhig. Nichts mehr zu spüren von der turbulenten Nacht. Der Musik. Dem wilden Tanzen auf der kleinen Tanzfläche. Dem Treiben an der Bar. Die Stühle standen auf den Tischen. Die Bänke waren zur Seite an die Wand geschoben.
Nur schnell weg hier. Bestimmt war alles nur ein Traum. Ein Albtraum. Ein wunderbarer allerdings.
Nein, war es nicht. Es war Realität. Und mir sehr bewusst. Ich würde Linda einen Brief schreiben, ihr alles erklären.

Irgendwie gelangte ich in einen kleinen Park, setzte mich auf eine Bank, zog meine roten Schuhe aus, scharrte mit nackten Füßen in dem Schmutz, der sich vor der Bank angesammelt hatte.
Es war Frühling. Und ein warmer Tag. Die Bäume blühten schon. Die Vögel sangen. Alles war so friedlich. Auch in mir. Ich hörte auf zu scharren, legte meine Beine auf die Bank, lehnte mich wohlig an die Lehne, schloss die Augen. Es war wirklich ein wunderschöner Morgen, in Freiheit.
„Na, Kleene, so früh schon auf? Und so ganz alleene?“
Erschreckt öffnete ich die Augen. Vor mir stand ein junger Mann, grinste mich frech an.
„Na, heul man nicht gleich“, sagte er, „darf ich mich zu dir setzen?“, er saß schon, „du siehst aus, als brauchtest du ein offenes Ohr.“

Das offene Ohr hieß Otto. Vertrauensvoll erzählte ich ihm meine ganze vertrackte Geschichte. Alles. Und er hatte Verständnis.
„Das ist ja eine tolle Geschichte.“ Otto nahm meine kalten Hände in seine warmen. „Du brauchst eine Bleibe“, sagte er mitfühlend. „Und Arbeit. Wenn du hier bleiben willst. Und das willst du doch?“
Natürlich wollte ich. Und so schleppte mich das Offene Ohr erst einmal zu sich in seine verkommene Junggesellenbude.
„Du brauchst gar nicht so zu gucken“, sagte er, als ich mich in seiner Wohnung im vierten Stock in irgendeinem Hinterhof im Brenzelberg umsehen wollte. „Es gibt nur dieses Zimmer. Die Kochecke. Und die Toilette ist draußen, eine Treppe tiefer. Die benutzen noch andere Mieter. Aber im Hof gibt es noch drei Plumpsklos.“ Otto lachte schallend. „Und hier gibt es nur das eine Bett.“
Wahrhaftig. In dem Zimmer stand nur ein Bett. Ein alter Schrank. Ein Tisch und zwei Stühle. Ach, ja, das Fensterbrett war durch ein helles Holzbrett verbreitert und diente Otto als Schreibtisch.
"Und wo soll ich mich waschen?"
"Im Ausgußbecken."
„Und, und, wo soll ich schlafen?“, stotterte ich.
„Na, bei mir.“ Otto grinste über sein ganzes rundes Gesicht. „Wo sonst.“
„Aber…“
Das durfte ja wohl nicht wahr sein. Der dachte wohl, wenn ich sowieso keine Jungfrau mehr sei, würde ich auch mit ihm. Aber ich würde nie mit ihm. Otto war nicht mein Typ. Er war mir zu rund. Trug eine runde Brille und die Haare zu lang und fettig. Lieber würde ich auf dem Plumpsklo im Hof übernachten.
„Aber…“, fing ich wieder an.
„Nichts aber“, unterbrach mich Otto grinsend. „Ich bin schwul. Es passiert nichts. Nur reine Menschenliebe.“
„Schwul?“
„Schwul. Kennste wohl nich, Kleene.“

Natürlich kannte ich es nicht. Aber Otto war ja da und klärte mich nun über die Homosexualität auf. Also konnte ich beruhigt mit ihm in einem Bett schlafen, ohne dass er mich anrühren würde.
Auch mit den Pornofilmen machte ich in dieser Zeit meine ersten Erfahrungen. Otto hatte eine ganze Sammlung davon, von der wir uns jeden Abend einige Filmchen ansahen. Eine ganz neue bizarre Welt öffnete sich vor meinen immer aufs Neue staunenden Augen. In welch verträumter Welt hatte ich bisher nur gelebt.
Otto schleppte mich zur Polizei - ich musste mich ja ummelden -, zum Wohnungsamt. Zum Arbeitsamt.
„Alles muss seine Ordnung haben“, war seine Devise.
Und alles bekam seine Ordnung. Und ich nach einigen Wochen meine eigene kleine Wohnung.

Mit Otto eroberte ich sozusagen Berlin. Jeden Winkel kannte er. Wusste immer, wo etwas los war. Er nahm mich überall hin mit. Ein aufregendes Leben begann.
Otto war Kameramann beim Fernsehen.
„Du kannst als Statistin arbeiten“, sagte er eines Tages. „Vorerst. Vielleicht wird ja jemand auf dich aufmerksam.“
Aufmerksam wurde ich jedoch erstmal auf meinen Körper. Der verweigerte mir nämlich die Periode. Oh, Schreck. Ich würde doch wohl nicht. Doch, ich war. Schwanger.
„Willst du es bekommen?“ Otto kraulte bedächtig in seinem schwarzen Bart. „In deiner Situation?“
„Verdammt, verdammt“, wütete ich. „Was soll ich nur machen.“
„Verdammter Apoll“, wütete auch Otto. „Armes Schnuckelchen. Ich weiß einen guten Arzt.“
„Ich könnte einen Abbruch beantragen“, sagte der gute Arzt, „aber der wäre mit dem Risiko verbunden, dass Sie nie mehr schwanger werden könnten.“
Nie mehr schwanger? Nein, das wollte ich nun doch nicht. Also entschloss ich mich, das Produkt meiner sündigen Nacht zu bekommen. Ich war echt neugierig darauf. Hoffentlich würde es ein Mädchen. Sie sollte Johanna heißen. Das stand von Anfang an fest.
„Es wird schon irgendwie gehen“, tröstete ich Otto. „Ich habe ja dich.“

So schleppte mich Otto zu allen möglichen Produktionen, bis mir wirklich ein Regisseur eine komische Rolle anbot. Darauf folgte die nächste und so weiter. So konnte ich mich wenigstens einigermaßen über Wasser halten.
Doch meinen Traum von den großen Tragödien träume ich heute noch. Doch mehr im Spaß.

*
Die 20. Klappe blieb. Der Regisseur war zufrieden. Er stopfte seine Pfeife, wir setzten uns zu einem Pausenschwatz zusammen. Claudia hatte in der Kantine die Kaffeekanne neu füllen lassen. So tranken wir Kaffee, aßen die Reste von Claudias Hochzeitskuchen. Claudia flüsterte mir verschwörerisch zu:
„Siggi wollte gestern unbedingt deine Telefonnummer haben. Ich habe sie ihm natürlich nicht gegeben ohne deine Einwilligung.“
„Der soll mich in Ruhe lassen“, sagte ich, während mein Herz wie wild klopfte. „Ich gebe mich nicht mit verheirateten Männern ab. Man bekommt nur Probleme.“

Verheiratete Männer waren für mich tabu. Na, andere auch. Ich kam mir schon vor wie eine Nonne. Aber die sollen es ja mit den Priestern getrieben haben, hatte ich gelesen. Sogar einen Nonnenkinderfriedhof soll es gegeben haben. Echt gruselig. Daran durfte ich gar nicht denken. War bestimmt alles nur dummes Geschwätz. Es wird soviel geredet und geschrieben. Vielleicht sind des Dichters Flügel mit ihm davongeflogen. Doch wenn man es bedenkt? Möglich war und ist ja alles.

„Mach schon.“ Claudia lachte. „Du willst es doch. Das sehe ich dir doch an. Du hast ganz rote Wangen bekommen.“
Natürlich wollte ich.
„Aber das Kind“, widersprach ich zaghaft, „seine Frau.“
„Du hast doch auch ein Kind.“
„Und keinen Mann.“
„Eben.“
Ich ließ mich nicht mehr lange bitten, Claudia durfte Siggi meine Telefonnummer geben. Ich war verliebt und neugierig.

Und so begann das Jahr mit Siggi, meinem geliebten Bernstein, ein Jahr mit ständigen Höhen und Tiefen. Sehenwollen. Nichtsehenwollen. Der reinste Horror. Eine Hassliebe sozusagen.
Mein Bernstein konnte sich nicht von seiner Frau trennen. Sollte er ja auch nicht. Aber das glaubte er mir nicht.
Zum Sex ist es dann aber doch gekommen. Und zwar, als seine Frau verreist und unser aller Leben sowieso im Wandel begriffen war. Die ganze Welt schien sozusagen auf den Kopf gestellt zu sein. Mir war zum Lachen und Heulen gleichermaßen. Und alles war so spannend.
Besonders der 4. November 1989.
An diesem Tag ging ich zum ersten Mal in meinem Leben zu einer Demonstration. Freiwillig. Die Westmedien nannten den Tag einen „Historischen Tag“. Das fand ich ja ein bisschen übertrieben. Jeder Tag ist in der Vergangenheit ein historischer Tag. Ein Tag, der Geschichte ist. Ein Tag, der nie wieder kehrt. So wie jeder Tag. Jede Stunde. Jede Sekunde. Aber dieser Tag war ein historischer Tag im ganz besonderen Sinn. Das stimmt. Ein Tag, der Geschichte schrieb. Ein Tag, der in die Geschichtsbücher eingehen würde. Und ich war dabei. War Teil eines friedlichen Ganzen, fühlte mich Eins mit den Hunderttausend Menschen, die für ein besseres Vaterland demonstrierten. Immer auf der Hut und in Sorge, nicht doch noch von dem riesigen Aufgebot der Polizisten neben, vor oder hinter uns auseinander getrieben oder von den Hubschraubern über uns angegriffen zu werden. Doch nichts geschah. Alles blieb friedlich. Nur das unwahrscheinliche Prickeln blieb. Jedenfalls unter meiner Haut.

Auf den Bühnen auf und um den Alexanderplatz herum lauschten die unübersichtlichen Massen dann den Rednern auf den Bühnen. Die Kommunisten streuten sich Asche aufs Haupt, Schabowski wurde ausgepfiffen, hielt sich aber tapfer. Biermann durfte nicht kommen. Und das war besonders schade. Ich mochte den mutigen Liedermacher.

Dafür kam dann am Abend mein Bernstein, der Filou, zu mir.
Kaum, dass ich ihm die Tür geöffnet hatte, nahm er mich fest in seine Arme und küsste mich. Ich spürte sein Herz klopfen, wurde sofort so erregt wie er.
„Immer, wenn ich auf meiner Frau liege“, flüsterte er mit seiner sanften Stimme, „denke ich an dich und wünsche, du wärest es.“
Eigentlich war das ja eine Unverschämtheit. Nicht, dass er, wenn er auf seiner Frau lag, an mich dachte, und das dachte, sondern, dass er überhaupt auf ihr lag. Das wollte ich jetzt mal sagen.
Doch ich flüsterte: „Sie ist ja weg. Dein Wunsch kann in Erfüllung gehen.“
Bernstein küsste mich noch leidenschaftlicher. Ich legte spontan meine Hand auf seine Hose, spürte freudig seine immer stärker werdende Erregung.
„Nicht.“ Er schob meine Hand weg. „Du willst es doch auch endlich richtig. Lassen wir uns also Zeit. Wo ist eigentlich Johanna?“
„Bei Linda. Sie will auch etwas von ihr haben. Und weil deine Frau jetzt drei Wochen nicht da ist, ist mir das ganz Recht.“

Wir lachten, gingen in die Küche. Meine Wohnung hatte nur ein Zimmer. Das auffälligste Möbel darin war ein rotes Bett mit einer roten Plüschdecke. Sozusagen zum Gedenken an meine Nacht mit Apoll. Darin schlief ich mit Johanna. Und nun sollte dieses Bett geweiht, nicht entweiht, werden durch Siggi.
In diesem einen Jahr hatten wir uns oft gesehen, so zweimal die Woche mindestens. Wir hatten uns geküsst, gestreichelt, unsere Körper erforscht, auch die intimsten Stellen berührt, aber uns doch vor dem letzten Schritt gescheut.
Und nun sollte es endlich geschehen.
„Hier, Bernstein, kannst du dir Mut antrinken.“
Ich stellte zwei Flaschen Bier, zwei Allzweckgläser und eine Flasche Wein auf den Tisch. Dann ging ich ins Wohnschlafzimmer, legte eine Platte von Rockhaus auf. Mich zu lieben. Das schien mir passend. In der Kommode fand ich einige Kerzen, zündete sie an. Alles sollte schön romantisch sein.
Bernstein trank einen Schluck Bier, ich einen Schluck Wein. Auge in Auge.
„Ich halte es nicht mehr aus.“

Bernstein stand auf, nahm mich auf seine Arme, trug mich zum Bett, legte mich zärtlich auf die rote Plüschdecke.
Unter Tausend Küssen zogen wir uns gegenseitig aus. Dann betrachteten wir uns ausgiebig. Entzückt von der Glut und der wilden Schönheit unserer nackten Körper. Wir streichelten und liebkosten uns, lagen dann still nebeneinander, schauten in das warme Licht der flackernden Kerzen, lauschten der leisen Musik.
Nach einer Weile küssten wir uns wieder. Diesmal Zunge in Zunge. Unsere Lust wurde zur Wollust. Wir wollten mehr, viel mehr.
Siggis Zärtlichkeiten wurden wilder, unkontrollierter. Sein Mund saugte sich an meinen Brustwarzen fest, dass es schmerzte. Ich stöhnte, während süße Lust meinen gesamten Körper erfasste, sich heiß über seine Hand ergoss. Wir drehten uns auf die Seite, ich umklammerte seinen geilen, steifen Schwanz.
Bernstein zog mich auf sich, ich rutschte mit meinem Kopf tiefer. Mein Bernstein wand sich unter mir, zuckte, stöhnte laut. Da gab ich ihn frei. Im gleichen Moment zog er mich hoch, umklammerte meine Hüften, stieß wie wild in mich, so dass ich laut aufstöhnte. Er bestimmte den Rhythmus, schob mich hin und her, drehte mich, zog mich auf und nieder.
In nie erlebter Ekstase wussten wir nicht mehr, was wir taten, waren unserer Sinne beraubt.
„Komm! Komm!“
„Ja! Ja!“
„Wir gehören zusammen!“
„Für immer zusammen!“
Wir redeten dummes, wirres Zeugs, steigerten uns immer mehr, bis es mich in einem wonniglichen Rausch heiß durchströmte, eine Welle unsäglichen Glücks mich empor trug, höher und höher.
Mein Kopf lag auf Siggis Brust. Wir hielten uns eng umschlungen. Wie lange? Ich weiß es nicht.
„Ich hole uns was zu Trinken.“
Verwundert schreckte ich auf.
„Zu trinken? Ach, ja.“
Siggi stand auf, holte die Flasche Wein und die Gläser. Wir prosteten uns zu.
„Auf diese unvergleichliche Nacht.“
Wir tranken die Flasche leer. Siggi legte sich wieder neben mich. Wir küssten uns wieder. Sehr zärtlich jetzt. Ganz vorsichtig drang er in mich.
„Beweg dich nicht“, verlangte er. „Umschling mich mit deinen Beinen.“
So lagen wir lange Zeit ineinander, ganz ruhig, ganz entspannt. Völlig Eins. Andächtig genossen wir die intime Nähe, brachten uns dann mit sehr sachten Bewegungen zum Höhepunkt.

Doch es wurde wieder wild in dieser Nacht, und den darauf folgenden natürlich auch. Es war, als müssten wir ein ganzes Leben nachholen. Ein Sexleben. Immer wieder trieben wir uns gegenseitig von einer Ekstase zur nächsten. Siggi war ein erfahrener Liebhaber. Er weihte mich sozusagen in die unerschöpflichen Geheimnisse der sexuellen Lust ein. War fantasievoll und erfinderisch. Ich schwebte auf allen Wolken. Besonders auf Wolke sieben. Die Nacht mit Apoll war nichts dagegen. Wir aßen kaum. Tranken viel. Zogen durch alle möglichen Kneipen. Siggi kannte sich aus. Mehr noch als Otto. Alle kannten ihn. Alle mochten ihn. Alle sollten sein Glück mit ihm teilen. Mich bewundern. Und damit ihn. Er nahm keine Rücksicht auf seinen Ruf. Seine Frau. Die er vergessen zu haben schien.

Und dann kam die Nacht, die alles veränderte.

***


Fortsetzung folgt in - 4 - und Schluss
 
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Kommentare  

hallo, doska, im nächsten kapitel gibt es noch mehr geschichtliche einblicke und das wunder. aber leider bin ich noch nicht ganz fertig.
grüß dich


rosmarin (21.07.2010)

Otto ist leider schwul, aber er ist ein guter Kamerad. Und mit Siggi Bernstein - er ist zwar ein Filou- kann deine Heldin eine schöne heiße Nacht genießen. Doch was wird später? Hat sich schön gelesen Tolle geschichtliche Einblicke.

doska (20.07.2010)

hallo, wolfgang, na, das finde ich ja ganz toll. gleich zwei aufmerksame leser heute. hab ganz lieben dank. natürlich muss es gepflanzet heißen. da habe ich das e vergessen. leider kommt es bei mir des öfteren vor, dass ich einen buchstaben vergesse oder nicht an der richtigen stelle platziere, obwohl ich meine texte sehr oft durchlese. aber wie das so ist- die eigenen fehler überliest man oft. destomehr freue ich mich, wenn mich jemand darauf aufmerksam macht. die einschätzung meiner person trifft wohl auch ungefähr den kern. ich will mir das leben nicht mit unnützem grübeln versauen. und wenn ich vorher immer überlegen würde, was wäre, wenn..., würde ich ja nichts erleben und keinen stoff zum schreiben haben. also doch rational. jepp.
hier kommen ganz liebe grüße an dich von


rosmarin (15.07.2010)

Hallo RosMarin, ich wollte mal wieder lesen, was Du so schreibst und bin sehr beeindruckt von Deiner Geschichte. Du schaffst es immer wieder, Deine Figuren nicht so schrecklich rational handeln zu lassen. Darum beneide ich Dich ein wenig. Denn es ist wohl auch Maxime für Dein eigenes Leben, zuerst mal zu handeln und danach notfalls darüber nachzudenken. Wer so leben kann, hat mehr vom Leben!

Meckern muss ich aber über das Schiller-Zitat. Im Johanna-Monolog muss es in der 6. Zeile richtig heißen:
„Die ich gepflanzet, grünet fröhlich fort!“ (gepflanzet statt gepflanzt – wegen der Metrik)
Liebe Grüße vom


Wolfgang Reuter (15.07.2010)

hallo, michael, hab ganz lieben dank, diesen -minimalen fehler- werde ich sofort ausmerzen. du hast recht, ein fast gibt es nicht. entweder er wurde ausgepfiffen oder er wurde nicht ausgepfiffen.
grüß dich


rosmarin (15.07.2010)

Hallo Rosmarin,

wieder eine sehr prickelnde, eine sehr aufregende Geschichte, die in einer sehr bewegten Zeit sich abspielt.
Nicht das erste Mal hast du historische Ereignisse in deine Geschichten eingebaut, was ich sehr toll finde.
Zum Schluß noch ein gut gemeinter Hinweis von mir: "Schabowski wurde fast ausgepfiffen..., der wurde nicht fast, der wurde gnadenlos ausgepfiffen.
Dieser wirklich nur minimale Fehler ändert aber nichts am hervorragenden Gesamteindruck dieser Geschichte.
LG. Michael


Michael Brushwood (15.07.2010)

hallo, ingrid und jochen, danke euch, stimmt, immer wenn es am schönsten ist, passiert irgendetwas.
grüß euch


rosmarin (15.07.2010)

Zu Anfang amüsant, dann sogar ein kleiner geschichtlicher Rückblick, danach heiße Erotik und zum Schluss Nachdenklichkeit. Man würde es Siggi und deiner Protagonistin sehr wünschen, dass sie sich für immer gefunden haben, aber mir geht es wie Ingrid. Irgendwie hat man das Gefühl, dass da noch etwas dazwischen funken wird.

Jochen (13.07.2010)

dieser monolog ist wirklich bewegend: johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder... - ein offenes otto ohr ist gold wert und sanitäre anlagen auch... ;))
sieht ja so richtig nach großer liebe und leidenschaft aus, aber da kommt bestimmt was nach. hoffentlich was gutes.
lieben gruß von mir


Ingrid Alias I (13.07.2010)

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