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4 Seiten

Das Generationsraumschiff 5/6

Romane/Serien · Spannendes · Experimentelles
Was ist der Sinn des Lebens? Weshalb gibt es uns überhaupt? Gibt es einen Unterschied zwischen Sein und Nichtsein? Wenn ja, welchen?
Als junger Mann steckte Thomas intellektuell lange Zeit im so genannten Existenzialismus fest. Rückblickend sah er es als die große Zeit seiner Stagnation an. Er galt damals als intellektuell begabt, aber unangepasst und auch ein wenig selbst zerstörerisch. Niemand konnte ihm plausibel machen, weshalb es Sinn machen könnte, irgendetwas zu tun. Er hatte eigentlich immer und für alles stets Gründe parat gehabt, weshalb dies oder jenes keinen Sinn ergab, auch wenn anderes behauptet wurde. Er hatte sich von nichts und niemandem zu irgendetwas überzeugen lassen. Damals sah er sie alle als eine Art Gefangene an, Gefangene auf ihrem Generationsraumschiff. Für ihn waren sie damals eine unbedeutende Generation unter vielen anderen unbedeutenden Generationen gewesen. Und außerdem: weshalb sollte es überhaupt so wichtig sein, dass die Menschheit überlebte? Sie hatte doch schon ihren eigenen Planeten zerstört gehabt. Welches Recht hatten sie nun, das Gleiche mit einer eventuellen neuen Welt zu tun? Und was, wenn dieser andere Planet schon von irgendwelchen intelligenten Lebewesen bewohnt wurde? Würden sie dann einfach weiterfliegen? Noch einmal 20 Generationen in eine andere Richtung, mit der Hoffnung, dass es dort vielleicht diesmal klappen könnte?
Sowieso waren die Chancen sehr gering, dass sie überhaupt einen möglichen Planeten finden würden.
Damals wünschte sich Thomas insgeheim, dass dem Schiff etwas widerfuhr, wie es nun höchst wahrscheinlich bevor stand. Jedoch hatten sich seine Ansichten mittlerweile ein wenig geändert. Selbst damals war es auch ihm völlig klar gewesen, dass er irgendwann aus seinem Existenzialismus wieder herausfinden musste. Es hätte nicht ewig so weitergehen können. Seine Antwort, die er dann letztendlich auf den Sinn seines Lebens gefunden hatte, war Disziplin. Mit ihrer Hilfe dafür zu sorgen, dass alles auf dem Schiff reibungslos funktionierte, um so auch das Überleben der gesamten Gemeinschaft zu sichern. In gewisser Weise war er damit von einem Extrem ins nächste Extrem gefallen. Er gehörte eben zu den extremen Menschen.
„Alfred, was ist geschehen?“ Mittlerweile befand sich Thomas in seinem Quartier am Terminal zum Bordcomputer.
„Hallo Thomas, wie geht es dir?“, ertönte die betont freundliche Stimme Alfreds.
„Gut, und dir?“
„Auch gut, danke der Nachfrage.“
„Was für eine Kollision steht uns bevor?“ Thomas wollte keine Zeit mehr verlieren. Gleichzeitig sah er nach seinem Überwachungsprogramm.
„Eine Kollision?“
„Der Kollisionsalarm wurde ausgelöst.“ Thomas war schon wieder von Alfred ein wenig genervt.
„In etwa 20 Minuten wird dieses Raumschiff in die Erdumlaufbahn eines Planeten eintreten und darin verglühen.“
Thomas sah auf. „20 Minuten“, flüsterte er. Das war sehr wenig Zeit, um das gesamte Schiff zu evakuieren. Bei dem letzten Probealarm hatten sie mindestens 40 Minuten gebraucht. Ihnen stand wahrlich eine Katastrophe epischen Ausmaßes bevor. Herrgott, wenn er doch nur die Ursache kennen würde.
„Alfred, wie ist es zu diesem Kollisionskurs gekommen?“
„Unbekannt.“
„War vielleicht das Informationspaket, das ich isoliert habe, schuld daran?
„Unbekannt.“
„Herrgott noch mal! Nun gib endlich die Information frei!“ Thomas schlug mit der Faust auf seine virtuelle Tatstatur, beruhigte sich aber schnell wieder, weil er wusste, dass dies sowieso keinen Zweck hatte. Er widmete sich wieder voll und ganz seinem Programm.
Das Informationspaket schien immer noch isoliert zu sein. Auch sein neues Überwachungsprogramm schien zu funktionieren, wie es sollte. Es war nicht überlastet, sondern erfüllte optimal seine Aufgaben: fehlerhafte Programme wurden isoliert und ersetzt und die funktionierenden Programme frei ihre Tätigkeit ausführen gelassen.
Er hatte nun also, zumindest wenn die Angaben von Alfred korrekt waren, knapp 20 Minuten Zeit, sein Überwachungsprogramm wieder auszuschalten. Es war die letzte Chance. Niemand konnte mit Gewissheit sagen, ob es etwas bringen würde, aber es war besser als gar keine Option.
Zunächst wollte er es aber noch ein letztes Mal mit Alfreds Hilfe versuchen.
„Alfred!“
„Ja, Thomas.“
„Gib bitte das isolierte Informationspaket frei.“
Schweigen.
„Alfred, hast du mich verstanden?!“
Schweigen.
„Du sollst verdammt noch mal das isolierte Informationspaket frei geben!“
Schweigen.
„Alfred.“
„Ja, Thomas.“
Schalte mein neues Überwachungsprogramm aus.
„Das geht nicht.“
„Warum geht das nicht?“
„Es ist mit einem Code gesichert.“
Ja, stimmt, der Code, dachte Thomas. „Und wenn ich dir den Code einfach sage?“
„Der Code muss manuell eingegeben werden.“
Verdammt, er hatte keine andere Wahl mehr. Er musste zurück zu seinem Arbeitsplatz. Er hoffte nur, dass diesmal wenigstens der Aufzug funktionieren würde.
Rasch tippte er auf seinem Telekommunikationsgerät 20 Minuten ein und startete dann eine Countdownfunktion.
Er machte sich schleunigst auf den Weg.

Der Lärm des Kollisionsalarms war ohrenbetäubend. Die Menschen rannten immer noch wild durcheinander in alle Richtungen umher. Thomas versuchte, sich irgendwie einen Weg da durch zu bahnen, was alles andere als einfach war.
Als er dann aber endlich am Aufzug zum K-Deck angelangt war, schaute er auf sein Telekommunikationsgerät. Er hatte bis zur Kollision noch neun Minuten Zeit.
Er drückte auf den Knopf für den Aufzug. Durch all den Lärm um ihn herum konnte er nicht hören, ob sich die Mechanik des Gerätes tatsächlich in Gang gesetzt hatte. Er konnte nur abwarten, bis sich die Tür öffnete – oder eben nicht.
Die Tür öffnete sich und Thomas trat ein. Er drückte den Knopf im Inneren des Aufzugs, die Tür schloss sich wieder, und er brauste in die Höhe. Auf dem K-Deck angelangt hielt der Aufzug wieder an. Thomas trat heraus und rannte zurück zu seinem Arbeitsplatz. Dort öffnete er die Tür, stürzte zu seinem Terminal hin, schaltete den Computer hastig ein, gab, als dieser hochgefahren war, den Code ein, und schaltete sein neues Überwachungsprogramm aus. Dann schaute er wieder auf sein Telekommunikationsgerät. Es zeigt noch zwei Minuten an.
Thomas nutzte die Zeit um sich zu vergewissern, dass das isolierte Informationspaket auch tatsächlich wieder frei war, was anscheinend der Fall war, da auf der virtuellen Quarantänestation seines Computersystems kein Programm angezeigt wurde.
Er lauschte nun. Der Kollisionsalarm ertönte nach wie vor. Dies konnte bedeuten, dass sich nichts an ihrer prekären Situation geändert hatte. Vielleicht war es einfach schon zu spät dafür gewesen. Es konnte nämlich durchaus sein, dass die Gravitation des Planeten in diesem Stadium keine Kurskorrektur mehr zuließ. Das Raumschiff war einfach zu groß, es hatte zu viel Masse. Einmal in eine Richtung in Bewegung versetzt, war eine Kurskorrektur schon ohne beeinflussender Gravitation keine so einfache und vor allem keine so schnell durchführbare Sache. Die Trägheitsgesetze galten nun einmal auch hier, weit draußen im All.
„Albert.“
„Ja, Thomas.“ Thomas schaute auf sein Telekommunikationsgerät. Noch zehn Sekunden.
„Hat sich irgendetwas an unserer Situation geändert?“
Noch acht Sekunden.
„Wie meinst du das?“
Noch sechs Sekunden
„Sind wir immer noch auf Kollisionskurs?“ Thomas pochte das Herz bis zu seinem Halse.
Noch vier Sekunden.
„Ja.“
Thomas atmete tief ein und dann wieder aus und ließ sich anschließend in seinen Arbeitssessel plumpsen.
Noch zwei Sekunden.
Nun war alles aus. Er würde zwar mit vielen anderen, aber dennoch tief in seinem Innern völlig einsam in diesem Gott verfluchten Generationsraumschiff in der Atmosphäre eines ihm unbekannten Planeten verglühen.
Null Sekunden.
Er schloss seine Augen und wartete auf das unabwendbare. Er ließ sich fallen; ergab sich seinem Schicksal. Wie fühlte es sich wohl an, in einem Raumschiff zu verglühen? Er hoffte nur noch, dass sein Übergang ins Reich der Toten nicht allzu schmerzhaft sein würde.
 
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Kommentare  

Ein schauerlicher Schluss, aber es gibt ja noch eine Fortsetzung. Doch wie könnten die Menschen aus diesem ganzen Chaos nur wieder heraus kommen?

Dieter Halle (23.05.2011)

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