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3 Seiten

Die Sternengucker 2/2

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
Es dauert nicht lange, und sie haben die kleine Lichtung erreicht. Steffen und die Anderen sind schon da. Sie stehen dort wie hypnotisiert in einem Kreis. Man hört das Rauschen der Blätter des Waldes und das Heulen des Windes. Jeder einzelne der Sternengucker scheint dieses Erlebnis in sich aufzusaugen, was keiner Worte bedarf, ja Worte dabei sogar eher hinderlich wären.
Sie schauen alle wie gebannt nach oben. Man sieht dort die Sterne, so klar wie nur selten einmal zuvor. Manche leuchten ein wenig heller, manche ein wenig schwächer.
Auch Jens und Sabrina reihen sich nun in den Kreis der Sternengucker ein. Keiner ihrer Kollegen scheint sie dabei zu bemerken, wahrscheinlich deshalb nicht, weil gerade jeder von denen einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist.
Als nun auch Sabrina dem Kreis angehört, spürt sie, wie sich ihre Wahrnehmung plötzlich zu öffnen, wie sich ihre Reizfilter nach und nach aufzulösen scheinen. Alle ihre Sinne erscheinen ihr jetzt hypersensibel. Intensiv lauscht sie nun dem Rauschen der Blätter und sieht gleichzeitig zu den kleinen Lichtpunkten da oben hinauf. Es kommt ihr fast wie ein religiöses Erlebnis vor, aber eben nur fast, weil irgendwie dann doch ganz anders. Denn der Ursprung dessen scheint in keinem Gott oder sonstigen mythischen Wesen zu liegen, sondern sie spürt nur sich und die Energie des gesamten Universums, von dem auch sie selbst ein Teil ist. Ein Umstand, der ihr gerade nur allzu bewusst zu werden beginnt. Denn sie spürt diese Energie in diesem Kreis viel konzentrierter, als es alleine, oder nur mit Jens zusammen, der Fall gewesen wäre. Es scheint jetzt irgendwie ihren gesamten Körper zu durchdringen, ähnlich einer Welle, die sie ganz zaghaft - irgendwie auch unendlich friedlich - mit sich fort trägt, fort zu einem Ort, der weit, weit entfernt irgendwo da draußen liegt, aber dennoch, zumindest in diesem Augenblick, ihr als so nah erscheint, wie er überhaupt nur sein kann.
Sie schließt ihre Augen und stellt sich vor, wie sie schwere- und auch willenlos auf einem Lichtstrahl durchs Weltall dahin gleitet. Es kommt ihr so vor, als wäre sie sich jetzt gerade zum ersten Mal in ihrem Leben über ihre wahre Bestimmung vollends bewusst. Dies erscheint ihr ein derart klarer Moment zu sein, dass sie ihn gar nicht erst mit ihrem Verstand zu erfassen versucht, weil sie aus irgendeinem Grund sehr genau zu wissen glaubt, dass dieses Vorhaben nur zum Scheitern verurteilt sein kann.
Das Milchglasfenster ihrer Sehgewohnheiten scheint nun vollends frei gewischt worden zu sein, und ihr Blick, obwohl, oder gerade WEIL sie ihre Augen fest verschlossen hat, so unendlich klar zu sein, dass sie bis in den allerletzten Winkel des Universums, und deshalb auch bis in den allerletzten Winkel von sich selbst, blicken kann.
Zeit spielt nun keine Rolle mehr, Pflicht ebenso wenig. Wille gibt es plötzlich gar nicht mehr, denn er scheint sich in der Energie des Universums vollends aufgelöst zu haben.
Sabrina überschreitet gerade eine Grenze, die zwar unsichtbar, aber dennoch jederzeit existent ist. Es ist die Grenze zwischen dem Materiellen und dem Geistigen des Seins, die für die so genannten „normalen“ Menschen niemals zu überschreiten ist. Sie aber lässt nun das Materielle weit hinter sich, wodurch sie automatisch immer weiter im Geistigen, im Spirituellen des Seins aufzugehen beginnt. Es ist ein sehr gefährlicher Moment, weil er immer auch die Gefahr in sich birgt, einfach alles hinter sich zu lassen und dann irgendwann nicht mehr zurückfinden zu können, zurück zu jenem Zustand, den die meisten Menschen als den einzig „normalen“ Zustand begreifen, vielleicht deshalb, weil sie gar keinen Anderen als diesen als „normal“ akzeptieren können – oder besser gesagt: akzeptieren wollen.
Sabrina aber geht jetzt noch weiter, und lässt noch mehr los. Viele würden dazu sicherlich viel zu früh sagen, da sie eigentlich noch ein recht langes materielles Dasein vor sich hat. Aber wirklich hindern könnte sie wahrscheinlich keiner daran, zumindest nicht, wenn sie es nicht irgendwo selbst auch wollen würde. Sehr wahrscheinlich wären aber die meisten Menschen selbst dann nicht in der Lage dazu, weil sie sich gar nicht vorstellen könnten, dass es solch einen Zustand überhaupt geben könnte; dass solch ein Zustand überhaupt theoretisch möglich ist.
Schließlich erreicht Sabrina tatsächlich exakt den Punkt des absoluten Vergessens; des im Geistigen vollends Aufgehens; des nicht mehr zurück Könnens oder Wollens. Es ist auch eine Art Endzustand, den wir alle irgendwann einmal erreichen werden. Allerdings werden ihn die Meisten von uns erst nach dem materiellen Dasein kennen lernen, und nicht schon lange davor.

Hin und wieder kommt auch Steffen Sabrina in der Psychiatrie besuchen, um zu sehen, wie es ihr so geht. Er ist sich dabei nie wirklich sicher, ob er sie ihres Zustandes wegen bemitleiden oder doch viel eher beneiden soll. Vielleicht ist er tatsächlich der Einzige unter den Besuchern - auch was das Personal betrifft - der wenigstens ansatzweise erahnen kann, wo sich Sabrina gerade spirituell befindet.
Die Meisten ihrer Besucher, vor allem ihre Angehörigen, sind regelrecht angeekelt von ihr, wie sie geistig völlig weggedreht, sabbernd und weltvergessen vor ihnen dasitzt, und selbst ihren eigenen Vater nicht mehr erkennen kann. Wie sie ins Leere blickt und weder ansprechbar ist, noch sich irgendwie artikulieren kann. Ein Zustand, den die meisten Sternengucker einerseits anstreben, vor dem sie aber andererseits immer auch instinktiv zurückschrecken.
Sabrina ist eine der Wenigen unter ihnen, die auch diesen allerletzten Schritt gegangen ist. Sie war schon nicht die Erste gewesen, und wird mit ziemlicher Sicherheit auch nicht die Letzte gewesen sein…

ENDE
 
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Kommentare  

Ein schauriges Ende oder doch nicht? Diese Frage, die sich deine Sternengucker stellen, stelle ich mir auch manchmal. Tolle mystische Story.

Evi Apfel (11.11.2011)

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