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12 Seiten

Save Me from the Hell

Fantastisches · Kurzgeschichten
http://www.youtube.com/watch?v=TPKjDcw2yNQ
(Night of the Hunter - 30StM)

 An sich ist nichts weder gut noch böse. Erst das Denken macht es dazu.
William Shakespeare
 


Ein letztes Mal schweifte mein Blick nach hinten, bevor ich die magische Grenze überschritt. Augenblicklich spürte ich, wie mich meine Kräfte verließen und ich brutal zu Boden gezerrt wurde. Meine Füße landeten auf kalter, nasser Erde, die etwas nachließ. Schnee. Ich hatte völlig vergessen, dass man hier nicht schweben konnte. Weder mit eigener Kraft noch mithilfe der Flügel, sehr gewöhnungsbedürftig.

Doch ich hatte keine Zeit, um weiter darüber nachdenken zu können, ich musste weiter, weg von hier. Und zwar am beste so weit wie möglich. Irgendwohin, wo mich niemand vermuten würde. Ach, was redete ich mir nur ein? Erstens war ich nicht so schnell auf dieser komischen Erde und zweitens würden sie mich früher oder später eh finden. Ich hatte keine Chancen, also wem wollte ich was vormachen?

Meine hellblauen Ballerinas boten mir keinen Schutz und die eisige Nässe fraß sich augenblicklich durch diese hindurch. Erbarmungslos peitsche mir der Wind meine welligen, braunen Haare ins Gesicht und als ob das nicht schon genug wär, wirbelten tausende winzige Schneeflocken, die sich übrigens alles andere als weich und warm anfühlten, durch die Luft und erschwerten mich die Sicht. An sich fand ich es nicht wirklich schlimm. Normalerweise mochte ich Schnee, vor allem, weil es ihn bei uns nicht gab. Ich liebte es, zu sehen, wie die kleinen Flocken kreuz und quer durch die Luft flogen, bis sie irgendwann auf einem Gegenstand landeten, um dort zu verweilen, irgendwann wieder zu schmelzen. Und jede einzelne von ihnen hatte eine einzigartige Form.

Wie gesagt, normalerweise beeindruckte mich dies. Nur nicht heute, ich konnte ausnahmsweise mal wirklich auf sie verzichten, denn mir fehlte die Zeit, mich durch die kniehohe Schicht zu kämpfen. Ich hatte überhaupt keine Zeit. Doch ich konnte nichts gegen diese Kälte, dieses Nass tun. Genau das beunruhigte mich. Warum ging das nicht? Sonst hatte ich es auch immer geschafft, das Wetter zu beeinflussen. Gut, vielleicht nicht in großem Maße, doch für gewöhnlich war es mir möglich, mir einen Weg durch den Schnee zu machen.

Meine Schritte hinterließen Abdrücke, tiefe Abdrücke. Doch ich lief weiter, ohne wirklich darauf zu achten. Der Schneesturm würde sie schon verwischen. Niemand würde sehen, dass ich hier langgelaufen war. Vor allem sie nicht, sie durften es nicht sehen. Das würde bedeuten, dass ich wieder zurück in meine persönliche Hölle musste, aus der ich gerade erst geflohen war. Ich wollte da nicht wieder zurück.

Ja, ich hatte Scheißangst, aber wer hätte sie an meiner Stelle nicht? Allein schon die quälenden Erinnerungen jagten mir eine Gänsehaut nach der anderen über meinen gesamten Körper. Diese verdammten Erinnerungen sollten verbleichen und mich in Ruhe lassen, meine Albträume der Vergangenheit angehören, jeder herzzerreißende Schrei für immer verstummen. War das zu viel verlangt? Warum mussten die Gestalten nur so lebendig wirken? Wieso mussten mich die Silhouetten überall hin verfolgen?

Ihre bedrohlichen Stimmen hallten immer noch in meinem Kopf wider. Jede einzelne seiner Drohungen hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt und schlich dort umher – wie eine lauernde Katze, die auf den perfekten Zeitpunkt wartete, um seine Beute aus dem Hinterhalt anzugreifen und sie außer Gefacht zu setzen. Jede Nacht, jede quälend lange Nacht suchten mich die Erlebnisse der letzten Tage, Wochen – ja vielleicht sogar Monate – heim. Dafür hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren.

Ich war bereits einige Stunden unterwegs – so kam es mir jedenfalls vor, wie lange ich wirklich durch die Kälte schritt, wusste ich nicht – und völlig außer Atem, dachte jedoch nicht daran, eine kurze Pause einzulegen. Es war zu riskant. Ich war zwar kein Mensch, trotzdem konnte ich wie jedes andere Lebewesen erfrieren. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie groß der Vorsprung war, den ich hatte. Zu viel hatte ich bereits riskiert, zu viel Last auf mich genommen, als dass ich jetzt einfach so aufgeben würde. Nein, es stand zu viel auf dem Spiel. Und würde es war bringen, mich zu opfern – könnten damit die Leben der anderen verschont werden – so hätte ich keine einzige Sekunde länger gewartet und hätte es getan.

Doch das hier war anders. Es war ein Krieg um Leben oder Tod, indem jeder nur für sich kämpfte. Zusammenhalt wurde nicht belohnt, es gab hierbei nur sie – die Wächter des Bösen – und jeden einzelnen von uns. Und jeder, der sich gegen sie stellte, wurde gefunden und gnadenlos getötet. Jeder, der nicht auf ihre Seite wechseln wollte, hatte keine Chance zu Überleben. Traurig aber wahr. Das Schlimme dabei war, man konnte ihnen nicht entkommen, denn sie waren überall – vielleicht nicht in der Überzahl aber uns eindeutig überlegen. Wer es auch nur wagte sich zu verstecken oder gar zu wehren, wurde mit einem qualvoll langsamen Tod bestraft. Es war die reinste Folter. Nicht einmal Kinder wurden verschont. Ich verstand immer noch nicht, wie jemand etwas so schlimmes nur tun konnte. Hatte er denn kein Herz?

Plötzlich stolperte ich und fiel abermals hin. Ich spürte, wie die vielen Wunden an Armen und Beinen wieder aufplatzten und bei den höllischen Schmerzen entwich mir ein Schrei. Schnell hielt ich mir die Hände vor den Mund, um ihn abzudämpfen. Zwar war weit und breit niemand zu sehen, doch man konnte nie wissen. Es gab Wesen, die sich lautlos bewegten und denen man lieber nicht begegnete. Aber ob sie hier auch lebten, wusste ich nicht. Aber ich wollte es nicht riskieren und ihnen begegnen.

Etwas sehr erschöpft setzte ich mich kurz hin. Ich war eh schon komplett nass, also machte es keinen Unterschied mehr. Mein Atem ging schnell und flach, alle Kraft wich aus meinem Körper. Ich konnte nicht mehr. Ich war völlig fertig. Wie lange war ich bereits gelaufen? Wie weit lag mein Ziel noch entfernt? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie groß war der Vorsprung, den ich noch hatte? ‘Vielleicht sind sie mir ja gar nicht gefolgt? Vielleicht hatten sie die magische Grenze noch nicht überquert und suchten mich dort?‘, schoss es mir durch den Kopf. Ich hoffte es.

Langsam rappelte ich mich wieder auf und sah mir die Wunden an. Sie waren alle aufgerissen und mehr oder weniger tief. Mein ganzer Körper war übersät mit Schrammen und bevor die ersten überhaupt heilen konnten, gesellten sich bereits die nächsten hinzu. Ich seufzte.

Naja, wenigstens zeigte mir der Schmerz, dass ich noch am Leben was – auch wenn ich nicht wusste, wie lange dies noch der Fall war. Ich nahm ein paar tiefe Atemzüge, um meinen Atem wieder unter Kontrolle zu kriegen, und sammelte meine übriggebliebene Kraft, viel war nicht mehr davon vorhanden, um vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen. ‘Es war besser, sich mit kleinen Schritten fortzubewegen als gar stehen zu bleiben‘, redete ich mir ein.

Weitere Zeit verstrich und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich bereits unterwegs war. Was ich wusste, war, dass die Nacht angebrochen war. Die Sonne hat sich längst verabschiedet und der Mond ersetzte sie nun, jedoch war es um einiges dunkler und kühler geworden. Glücklicherweise hatte wenigstens der Blizzard nachgelassen. Mein ganzer Körper schmerzte und bebte, meine Gliedmaßen waren taub, das kleine Herz schlug immer langsamer und sanfter gegen meine schmerzende Brust und machte diese Anstrengung nicht mehr lange mit. Auch meine Beine waren kurz davor, zu versagen. Wenn ich nicht bald irgendwo Zuflucht fand, erfror ich.

Aufs Neue blieb ich irgendwo an einem harten Gegenstand hängen und der dünne Stoff des Kleides, das mich umhüllte, riss auf. Die gierige Kälte um mich herum fraß sich gierig durch das ohnehin schon durchnässte Kleid. Eine eiskalte Brise ließ mich erschauern. „Bitte lass es nicht mehr weit sein..“, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.

Ich dachte zurück an die Zeit, als der Ort noch magisch, friedlich und einfach traumhaft gewesen war. Es war lange her, doch ich konnte mich noch genau daran erinnern. Überall blühten Blumen und andere Pflanzen, immerzu schien die Sonne und das Reich war erfüllt von Leben.

Nun hauste der Tod über uns. Nun war nicht mehr viel von alldem übrig. Die Königin wurde gestürzt und bis vor kurzem gefangen gehalten. Wir taten, was er und seine Wächter von uns verlangten. Wir wurden zu seinen Sklaven und er lebte seine Macht vollkommen aus..

Dann sah ich es endlich. Langsam formten sich ein paar hundert Meter weiter viele große und kleine Blöcke, manche liefen oben spitz zu, andere waren flach. Es war das Dorf. Jenes, welches ich in der Vergangenheit immer wieder gerne besuchte. Die Menschen hier waren so fröhlich und gesellig. Ich habe sie öfters beobachtet. Sie liefen zusammen auf den Straßen rum. Die Kleinen vergnügten sich auf den Wiesen oder Spielplätzen.

Immer wieder spielte ich mit dem Gedanken, mich einfach dazu zu setzen und mitzuspielen. Einfach, um das Gefühl zu haben, irgendwo dazu zu gehören. Leider ging das nicht so einfach. Denn ich war anders, die Menschen konnten mich nicht sehen. Es war, als blickten sie durch mich hindurch, ohne überhaupt wahrzunehmen, dass ich direkt vor ihnen stand. Dieser Gedanke machte mich traurig.

Endlich erblickte ich das Schild aus Holz. Es war zugeschneit, aber ich wusste genau, was dort draufstand: Burnside. Dann betrat ich die leeren Straßen. Naja, zu sehen war davon nicht mehr viel. In den meisten Häusern brannte noch Licht und Stimmen waren zu hören. Aufgeregt unterhielten sich die Kinder und die Eltern. Ich nahm nur einzelne Wortfetzen war, denn das meiste wurde vom Rascheln des Papiers übertönt. Darauf folgten fröhliche Schreie. Hier wurde gerade gesungen, dort saßen alle am Tisch versammelt und aßen.

Ein Fest.

Ich glaube, hier nannte man es Heiligabend. In letzter Zeit hatte ich die Kinder und Jugendliche oft vom Christkind oder Weihnachtsmann reden den hören. Anscheinend brachte er all die Geschenke.

Gedankenverloren ging ich weiter die Straßen entlang und folgte einer wunderschönen Melodie, die auf einmal zu hören war. Es hörte sich an, als würde jemand Gitarre spielen. Es waren wunderschöne Klänge, ruhig, aber trotzdem schienen sie einen zu ergreifen. Als ich mich dem Haus, aus dem die zarten Geräusche kamen, näherte, hörte ich passend zu den Klängen eine  leise Stimme. Fasziniert davon vergaß ich für einen Moment, warum ich überhaupt hier war und ging zu einem der Fenster auf Augenhöhe. Mir war klar, dass er mich nicht sehen konnte, also konnte ich ruhig durch das Fenster spähen. Und genau das tat ich. Mein Blick schweifte durch den Raum, es war das Wohnzimmer, nicht sehr groß, jedoch gemütlich und einladend eingerichtet.

Eine der Wände wurde zur Hälfte von einem Schrank bedeckt, in dem sich unzählige Bücher, CDs und DVDs oder aber auch ein paar Bilderrahmen mit Fotos befanden. Die anderen beiden, die ich von hier aus sehen konnte, waren weniger zugestellt, hier stand ein Sofa, da ein Tisch und dort hing eine Uhr. Der Boden war mit Teppich bedeckt. Aber von einem Menschen fehlte jegliche Spur, in diesem Raum war er jedenfalls nicht. Schade, ich würde ihn zu gern beobachten.

Ich wollte gerade weiterlaufen nach der Suche nach einer Unterkunft, als mich auf einmal doch etwas zurückhielt. Ich ging zur Tür und versuchte sie leise zu öffnen, ich drückte die Klinge runter und die Tür sprang auf. Schnell schlüpfte ich hinein und die Tür Schloss sich mit einem leisen Klicken. Wieder horchte ich, die Melodie ging weiter, er hatte nichts bemerkt. Ich befand mich – ja, wo genau war ich jetzt? Neben einem Tisch mit einem Telefon, einem Kleiderhaken und einem Menschengroßen Spiegel auf der anderen Seite führten hier noch drei weitere Türen hinaus. Die Treppe fand ich auf der linken Seite neben dem Spiegel. Die Geräusche kamen etwas gedämpft aus der oberen Etage, das konnte man nun genau wahrnehmen.

Immer noch vorsichtig – obwohl ich ja wusste, dass er mich nicht bemerken konnte – schritt ich auf die Treppe zu und ging die ersten Stufen nach oben. Oben angekommen sah es nicht viel anders aus, der Gang war etwas länger, die Eingangstür durch eine vierte ersetzt, auch hier wirkte es ziemlich einladend. Vielleicht lag es daran, dass ich seit langem kein richtiges Haus mit Inneneinrichtung zu Gesicht bekommen habe, vielleicht auch daran, dass dieses Haus von einem Menschen eingerichtet worden war, vielleicht, weil es hier so schön warm war.

Mir fiel auf, dass meine nassen Schuhe Abdrücke hinterließen. Konnte das sein? Das ist bisher noch nie passiert. Gut, ich war noch nie wirklich in einer fremden Wohnung oder allgemein auf einem fremden Grundstück. Ich fand es unhöflich, einfach irgendwo reinzuplatzen ohne vorher anzuklopfen oder rein gebeten zu werden. Das war normalerweise nicht meine Art. Normalerweise. Doch heute schien alles anders. Woran das lag? Vielleicht, weil ich es nicht mehr viel länger dort ausgehalten hab, weil der nun öffentlich gewordene Krieg zu viel für mich wurde, weil ich nicht die nächste auf diesem Leichenhaufen sein wollte, weil ich nicht wollte, dass mein Blut bald auf diesen Straßen dort floss. Einfach, weil mein Leben doch noch nicht so schnell vorbei sein konnte.

Ich war so in Gedanken verloren, dass ich gar nicht bemerkte, wie ich auf eine der Türen zugelaufen bin und diese leicht aufgestoßen habe. Und nun stand ich mitten im Türrahmen und fand endlich, wonach ich gesucht habe. Ich kannte ihn vom Sehen her, er lief oft durch die Straßen, meist allein. Einmal, da dachte ich, er hätte mich gesehen oder vielleicht gespürt. Ich wusste nicht, was genau passiert war, aber auf einmal sah er mir in direkt die Augen, er schien dabei jedoch nicht durch mich hindurch zu sehen. Ich bildete mir ein, dass er mich ansah. Aus diesem Grund bin ich weggelaufen, seither mied ich diesen Jungen.

Er hörte auf zu singen und auch die Melodie war kurz darauf verklungen. Doch glücklicherweise begann direkt das nächste Stück. Seelenruhig war sein Blick auf die Gitarre gesenkt, nach dem Vorspiel hob er jedoch den Kopf, die Augen waren geschlossen, und er fing wieder mit seiner Stimme an zu singen. Im Takt zu der Musik bewegte ich mich ganz leicht hin und her und schloss ebenfalls die Augen. Ich war so sehr in dieses Lied versunken, es war nämlich eins meiner Lieblingslieder, dass ich nicht merkte, als auch dieses vorbei war.

Es erinnerte mich an die Vergangenheit – die schöne Zeit. Jene, in der ich noch eine kleine Schwester hatte, die mich überall hin begleitete, die ich über alles liebte und nie verlieren wollte. Sie war doch gerademal dreizehn. Sie wusste doch nicht, was sie tat, sie wollte nur ihr Leben genießen. Ich hatte versprochen, sie zu beschützen, ich hatte es ihr sogar geschworen. Wie konnte ich nur mein Versprechen nicht halten? ‘Bring dich in Sicherheit!‘ Ihre zarten Worte hallten mir immer noch im Kopf. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte. Wir liefen doch gemeinsam, Hand in Hand, durch die gewaltigen Gänge des Schlosses, durch die Straßen der verlassenen Gegenden. Ich wollte sie gerade Fragen, warum sie das sagte als sie plötzlich einen vor Schmerz verzerrten Gesichtsausdruck hatte und nicht mehr weiterlief.

Mir war direkt klar, was passiert war, doch dieser Gedanke wollte nicht in mein Bewusstsein, ich konnte es nicht glauben. Es durfte einfach nicht wahr sein! Verzweifelt sah ich mit an, wie sie zu Boden sackte, meine kleine Schwester. Schnell fing ich sie auf, ließ mich auf die Straße nieder und zog sie noch mehr in meine Arme. Mein Griff war fest um sie gelegt, während ihrer mit der Zeit immer schwächer wurde. ‘Penelope? .. Bitte, sag doch was! Lass mich nicht allein, du darfst nicht gehen, hört du? Das darfst du einfach nicht! Penelope..‘ Meine Stimme wurde immer leiser, bis sie sich in den Geräuschen des Gemetzels um mich herum verlor. Niemand schien mich zu beachten. Es war, als wären wir zwei in einer Luftblase, die alles andere von uns fernhielt. Ich sah mit an, wie sie Blut verlor. Es war viel zu viel und ab einer gewissen menge wusste ich, dass es zu spät war. Sie würde nicht mehr wiederkommen, egal, was ich tat.

Ein letztes Mal drückte sie meine Hand, die ihre fest umklammert hielt. Penelope blickte zu mir auf, ich konnte sehen, wie aus ihrem Gesicht die ganze Farbe wich, wie ihre Augen von Sekunde zu Sekunde immer leerer wirkten. So leblos. Ihr Mund bewegte sich ein letztes Mal, ihren Lippen entwichen Wörter. Ich strengte mich an, doch ich konnte nichts verstehen. Irgendwann drangen die Worte dann doch in mein Ohr. Es waren genau zwei: ‘Rette dich.‘ Doch bevor ich überhaupt realisieren konnte, was sie damit meinte, gingen sie wieder verloren, irgendwo in einem anderen Teil meines Gehirns. Ich klammerte mich nur an ihre Stimme.

Nie wollte ich ihn vergessen, den Klang. Oder wie sie lachte, so voller Lebensfreude, wie sie mich immer aufmunterte. Ihre optimistische Einstellung zu allem obwohl sie doch genau wusste, dass sich nicht alles gut reden ließ...

Ich wusste nicht, wie lange ich noch da im Türrahmen stand, doch irgendwann fiel mir auf, dass ich nicht mehr bei meiner kleinen Schwester war sondern hier in der Menschenwelt. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, denn irgendwas hat sich geändert. Was war passiert? Ich horchte in die Stille, doch konnte ich keine gefährlichen Geräusche wahrnehmen. Nichts, was mir sagte, dass ich ganz schnell weglaufen oder mich verstecken sollte. Also was war los?

Und dann fiel es mir endlich auf. Ich war nicht beunruhigt, weil irgendwas zu hören war, sondern weil ich nichts mehr hörte. Bis auf mein eigenes Herz, welches schnell gegen meine Brust schlug. Wo war die Melodie hin? Mein Lieblingslied. Meine Erinnerung.

Ganz langsam, so als ob ich Angst hätte vor dem, was mich jetzt hier erwartete, öffnete ich meine Augen. Mein Blick fiel direkt auf ihn, wie er da saß – im Schneidersitz und mit der Gitarre auf dem Schoß, die Arme oben drüber hängend – und mich ansah. Er schien mich durch seine strahlend grünen Augen zu mustern, von oben bis unten, war jedoch nicht erschrocken. Doch warum sah er mich an? Mich!? Ich war doch unsichtbar! Er konnte mich nicht sehen! ... Oder doch? Nein, das war absurd, ich bin doch eine Elfe, ein Wesen einer vollkommen anderen Welt. Also wie konnte es überhaupt möglich sein?

Starr vor Schreck wartete ich ab, was geschah. Doch er tat nichts, lief nicht schreiend davon, rief nicht die Polizei an, schrie nicht um Hilfe und scheuchte mich nicht weg. Warum nur? Das einzige, was er tat, war mich anzuschauen. So, als ob er auf eine Reaktion meinerseits wartete. Aber ich konnte mich nicht rühren, zu sehr verwirrte mich die Tatsache, dass er höchstwahrscheinlich nicht durch mich hindurch sah.

‘Er sieht dich nicht, du bist für ihn unsichtbar. Für ihn ebenso wie für jeden anderen Menschen. Bestimmt steht hinter dir jemand oder etwas. Oder er wundert sich einfach, warum die Tür plötzlich offen steht. Ganz sicher!‘, redete ich mir in Gedanken zu. Was anderes konnte es nicht sein, wie auch? Aber warum sah er mich nun direkt  in die Augen?

Es war beängstigend und trotzdem keimte in meine etwas Hoffnung auf. Obwohl ich doch wusste, dass er mich nicht sah. Oder war ich inzwischen so oft in der Menschenwelt, dass ich langsam eine von ihnen wurde? Irrsinn, was redete ich da?

Okay, bleiben wir bei den Tatsachen: Ich, Aileen Night, bin aus dem Reich der Elfen geflüchtet nachdem ich den Tod einer kleinen Schwester Penelope miterlebt habe. Ich bin kein Mensch, sondern ein für Menschen unsichtbares Wesen. Dieser Junge mir gegenüber sieht mir jedoch direkt in die Augen, seelenruhig ruht sein Blick auf mir. Das heißt, er sieht mich.

Immer noch stand ich wie erstarrt im Türrahmen und machte keine Anstalten, mich zu bewegen. Ich konnte mich nicht bewegen, zu sehr war ich von seinem Blick gefesselt. Endlich fühlte ich mich nicht mehr alleine oder einsam. Ich wurde angeschaut, so richtig. Ich bemerkte, wie er sich rührte, erst nur ein kleines Stück. Wie in Trance hob er seine Gitarre vom Schoß und legte sie neben sich. Dann stand er auf und bewegte sich langsam auf mich zu. So, als ob er mich nicht erschrecken wollte. In mir war alles schon in Alarmbereitschaft, fertig, um zu fliehen. Doch ich war alles andere als bereit dazu. Ich wartete und versank immer mehr in seinen leuchtend grünen Augen.

Und dann stand er plötzlich direkt vor mir. Ohne den Blick von mir zu lassen, nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie er vorsichtig seine rechte Hand hob und an meine linke Wange hielt ohne sie jedoch wirklich zu berühren. Ich merkte, wie er meine Reaktion abwartete. Doch ich tat nichts. Sah ihn nur an, musterte sein gesamtes Gesicht von Nahem, von seinem wirr abstehendem Haar bis zu seinen perfekt geformten Lippen.

Er sah irgendwie süß aus, als er so vor mir stand mit seiner Hand in der Luft, die fast meine Wange berührte, und nicht recht wusste, ob er es nun wagen sollte, mich zu berühren oder nicht.

In seinen Augen spiegelte sich dasselbe wie in meinen: Angst.
Davor, dass das Ganze nur ein Traum sein könnte, wir beide nur träumten. Aber ich musste es wissen. War das alles wirklich nur ein Traum? Und wenn ja, seit wann träumte ich schon? Wo befand ich mich dann in der Realität? Im Schnee zusammengeklappt, von den Wächtern gefunden, in meinem Zuhause im Bett, bei Penelope? Bei dem letzten Gedanken durchzuckte mich ein höllischer Schmerz.

Einen Augenblick zögerte auch ich. Ich wollte diesen Moment nicht zerstören. Es schien nichts anderes zu geben, nichts und niemanden bis auf uns zwei. Auch er schien denselben Gedanken zu haben, denn langsam ließ er seine Hand wieder sinken. Woran dachte er gerade? An eine Person, die ihm nahe stand, so  wie ich an Penelope dachte? Sein Gesichtsausdruck wandelte sich und Trauer und Schmerz waren nun in seinen Augen vorzufinden.

Bevor er seine Hand ganz sinken lassen konnte, hob ich meine an und berührte mit meinen Fingerspitzen seine Handfläche. Nur ganz sanft, doch ich spürte es. Auch er schien die Berührung gespürt zu haben, denn er verharrte in seiner Bewegung und mit einem Mal war all der Schmerz und die Trauer aus seinen Augen gewichen und weichte Verwunderung.
Gleichzeitig öffnete  er seinen Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder. So, als ob er etwas sagen wollte, jedoch nicht genau wusste, wie.

Mich kümmerte das kaum, ich strich neugierig über seine Hand und genoss die Tatsache, dass es ihn wirklich gab, dass er mich sah. Dass er meine Berührungen wirklich spürte. Als ich an seinen Fingerspitzen angekommen war, drückte er seine flache Hand gegen die meine und verschränkte unsere Finger miteinander.
Verwirrt blickte er auf unsere Hände, dann kurz in meine Augen und wieder auf unsere Hände. Suchte er genauso wie ich nach einer Antwort auf das Ganze? Ich versuchte, aus ihm schlau zu werden, seinem Gesichtsausdruck abzulesen, ob er sich freute oder nicht, was er fühlte. Aber ich erkannte nichts dergleichen.
Etwas erschöpft schloss ich meine Augen.

„Dich gibt es wirklich, oder?“, flüsterte er plötzlich. Ich hatte nicht bemerkt, dass er einen Schritt zurückgeweicht war und mich von oben bis unten musterte. Was dachte er wohl von mir?
Vor ihm stand ein 16-jähriges Mädchen - einen halben Kopf kleiner als er – in zerrissenem Kleid, kaputten Schuhen, mit wirrem Haare und war komplett durchnässt. Darüber hinaus beschmutzte es gerade den ganzen Fußboden seines Hauses.

Tausend Gedanken rasten durch meinen Kopf, wie er mich den Wächtern auslieferte, mich rausschmiss, mich einfach tötete, ...
Geschockt riss ich meine Hand los und stolperte einige Meter nach hinten  bis ich mit dem Rücken gegen eine Wand knallte, etwas zu hart, denn ich spürte, dass einige Wunden abermals aufrissen. Stöhnend kniete ich mich hin, als alles sich  langsam zu drehen begann.

„Warte!“, hörte ich die laute Stimme des Jungen und erschrak.
„Ich tu dir nichts“, fügte er schnell hinzu, diesmal etwas leiser. Vorsichtig hob ich meinen Kopf und fing seinen verzweifelten Blick auf. Meinte er es ernst? Alles in mir protestierte, aber gegen was? Sollte ich weglaufen oder bleiben? Ich wusste es nicht. Ich wog die Argumente ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er bewegte sich nicht. Gut so.

Einerseits wär ich im Warmen, hätte Gesellschaft uns erschien mir nichts antun zu wollen. Aber was, wenn die Wächter mich fanden? Sie würden ihn garantiert mitschleppe und foltern oder gar töten, weil er uns sehen konnte, weil er jetzt bereits zu viel wusste.
Konnte ich so egoistisch sein und sein Leben riskieren um selbst vielleicht noch einige Stunden oder Tage länger zu leben? Nein, das durfte ich nicht. Ich musst weg, sofort!

Schnell rappelte ich mich auf. Leider etwas zu schnell, denn das Schwindelgefühl wurde stärker und meine Beine drohten, mich nicht tragen zu können. Ich unterdrückte das Bedürfnis, mich einfach zu Boden fallen zu lassen und ging einen Schritt weiter Richtung Treppe ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Auch er kam einen großen Schritt näher, in seinem Blick sah ich Entschlossenheit. Weshalb?  Wollte er mich doch töten?

Abermals machte ich einen Schritt rückwärts zu Treppe hin und er auch. Irgendwie kam er mir trotzdem näher. Ich beschloss, mich umzudrehen und ganz schnell wegzulaufen. Weit würde ich zwar nicht kommen, denn er war bestimmt schneller. Aber ein Versuch war es wert. Als ich mich im Laufen umdrehte, übersah ich jedoch die erste Treppenstufe, die nach unten führte und stolperte.

Ein Schrei entwich mir und ich sah, wie ich den Treppen immer näher kam. Reflexartig schloss ich die Augen und hob meine Arme schützend über den Kopf. Und wartete auf den Aufprall. Alles um mich herum wurde bereits schwarz, ich verlor das Bewusstsein.

Das letzte, das ich noch spürte, waren zwei starke Arme, die sich um meine Hüfte schlossen. Dann war ich weg...

__
So und bevor hier noch jemand etwas falsches draus schließt.. Es ist zwar eine Kurzgeschichte - oder sollte eigentlich eine werden :D - aber hier ist sie noch NICHT zu Ende ;) wenn jemand mir sagen kann, wie ich das umstellen kann, dann wäre ich ihm sehr dankbar (also von Kurzgeschichte auf normale Geschichte)
 
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Kommentare  

Wow, klasse. Ja, mir würde es auch gefallen, wenn es weiterginge.

Petra (21.02.2012)

Tolle Story. Da geht aber die Post ab. Keine Sekunde langweilig. Genial auch, wie du erst nach und nach aufdeckst um was es hier eigentlich geht und romantisch wird es wohl auch werden oder? Eine fantastische Welt in die ich sehr gerne einsteige und hoffe das noch ein paar Kapitelchen kommen werden....... Oh, jetzt merke ich erst, da drüber steht Kurzgeschichte. Hm, schade, hätte mir gefallen, wenn das Ganze noch weiter gegangen wäre, denn irgendwie müsste da noch einiges geklärt werden.

Dieter Halle (20.02.2012)

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