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6 Seiten

Übergeordnetes Staatsinteresse

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
„Keine Festnahmen!“ Kommissar Maubert steckt eine Hand zwischen Hemdkragen und Hals. „Abwarten und nur beobachten!“ Unwillig versucht er sich im Nacken zu kratzen. Verdammte Hitze!
„Versteh’ ich nicht!“ Pierot öffnet das Fensterchen. „Die Presse hackt auf uns herum, alle Welt erwartet die Festnahme, wir haben sie schon am Kanthaken und könnten zuschlagen, und dann solche absurden Befehle“.
Der Kommissar lächelt mit einer Mischung aus Grimm und Sarkasmus in die Runde. Er dreht den summenden Ventilator auf Pierots Schreibtisch in seine Richtung. Dann knöpft er das verschwitzte Hemd auf und lockert die Krawatte. Ein Blick aus dem Mansardenfenster hinunter zum Seine-Ufer. Auf dem Quai St. Michel kämpfen sich Autoschlangen aus dem Stadtzentrum Richtung Westen. Ein Ausflugsboot schiebt sich auf der Seine stromabwärts am Justizpalast vorbei. Wie gleichmäßiges Grollen strömt der Straßenlärm in den fünften Stock.
Maubert flucht. Da liegt Paris in glitzernder Augustsonne und wir schwitzen in diesem Taubenschlag aus dem vorletzten Jahrhundert. Die Polizeipräfektur war schon zigmal umgebaut worden, aber eine Klimaanlage ist noch nicht dabei herausgekommen. Nur die Zimmer der Inspektoren waren kleiner und die Gänge verwinkelter geworden; der quietschende Fußboden des Dachgeschosses riecht noch wie zu Maigrets Zeiten nach Linol.
Der Kommissar schiebt Inspektor Pierot die Akte über den Schreibtisch und Pierot zeigt den anderen die Fotos.
Marie-Noelle ist die einzige Dunkelhäutige in der Vierergruppe. Sie war vor Jahren zur Schulung von Reunion nach Paris gekommen, hatte ihren Mann kennengelernt und war in Frankreich geblieben.
Der nächste in der Truppe, Jean-Claude, war Bretone und gerade mit der Polizeischule fertig.
Und der dritte, Pierot, der alte Haudegen und Dienstälteste, hatte es längst aufgegeben, vor seiner Pensionierung noch befördert zu werden. „Das ist alles Politik!“ schimpft Pierot. „Ich habe das falsche Parteibuch. Ein Gewerkschafter der CGT (*1) kann bei der Pariser Polizei nicht befördert werden!“
Dann brummelte der Kommissar: „Mein lieber Pierot! Warum hast du es nicht wie ich gemacht?“ Maubert, das Schlitzohr, hatte zwar eine Meinung, aber kein Parteibuch. Obwohl er wusste, dass der Polizeipräfekt Parteigänger des Präsidenten war. Und aus dem Präsidium wurde seit Wochen die Losung ausgegeben: "ABWARTEN! Momentan nirgends zuschlagen! Das Unvermögen der linken Regierung in Fragen der Sicherheit muss in seinem ganzen Ausmaß sichtbar werden! Morgen ist der erste Durchgang zur Wahl des Staatspräsidenten. Danach ist ein starker Mann gefragt! Erst dann brauchen wir Erfolgsberichte in der Kriminalitätsbekämpfung!"
Der Kommissar kannte die Intrigenspiele der Sicherheitspolitik. Das wird auf ganz anderen Ebenen weit oben ausgetragen, aber wir kleinen Polizisten hier unten müssen den täglichen Schlamassel ausbaden, denkt Maubert. Der rechtsradikale Bauernfänger Le Pen (*2) steht in den Startlöchern. Wir werden bald den Preis für die Fehler der Vergangenheit bezahlen!
Der Kommissar weiß von der beachtlichen Anzahl Polizisten, die sich jetzt offen auf den Versammlungen Le Pens zeigen. Aber Maubert war nur stiller Beobachter und erledigte seine Arbeit. Nur bei seiner Frau hatte sich Maubert einmal zu einer Offenbarung hinreißen lassen: „Diese größenwahnsinnigen Rattenfänger gehen mir auf den Keks! Die sollten sich besser um die Polizeiarbeit kümmern und nicht großkotzig auf vaterländischen Versammlungen herumhängen und von Recht und nationaler Ordnung schwafeln. Ein Polizist hat Verbrecher zu jagen und die Bevölkerung vor Kriminellen zu schützen, und das jeden Tag, egal ob Wahlen anstehen oder nicht, egal wer gerade an der politischen Macht ist, und damit basta!“
Madame Maubert hatte ihm still lächelnd zugehört, hatte ihm die Schultern gegrault, während Jules seine Pfeife reinigte, und war dann in die Küche gegangen, um das Abendessen vorzubereiten.
„Macht euch auf die Socken!“ sagt der Kommissar müde zu seiner Truppe. Er weiß ohnehin, die Aktion ist nur Beschäftigungstherapie. Also tigern die Drei los. Der Kommissar angelt sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Als er sie an den Mund setzt, schrillt das Telefon.
*
Die drei verschwinden mit Blickkontakt in der Metrostation „Citè“. Pierot im grauen Anzug mit unauffälliger Krawatte, wie ein dicklicher und griesgrämiger Büromuffel. Jean-Claud hat ausgewaschene Jeans an, darüber eine abgeschabte Plastikjacke. Mit den langen Backenkoteletten und dem Goldkettchen unter einem schmuddeligen Hemdkragen gibt er das Bild eines Tagediebes aus der Pariser Vorstadt ab. Obwohl Jean-Claude nicht aus Paris stammt, kennt er das Metronetz besser als den Inhalt des Kühlschrankes in seiner Zwölfquadratmeterwohnung im Achtzehnten Arrondissement.
Marie-No hat ihre schwarzen Kraushaare hochgesteckt; sie trägt enge Jeans mit T-Shirt; darüber flattert eine Bluse mit knalligem Afrolook, die Schulterhalfter mit Pistole und Handschellen verbirgt. In der Hand hält sie die Plastik-Einkaufstüte eines Billigkaufhauses.
Wir haben genug Beweise, um die Bande hochgehen zu lassen, denkt Marie-No. Warum dürfen wir nicht zuschlagen, sondern müssen uns weiter mit Beobachtungen befassen? Wenn einer von ihnen vor mir stehen würde, ich würde nicht lange zögern…
*
„Hier Maubert...!“ meldet sich der Kommissar am Telefon.
„Bonjour Monsieur le Commissair! Hier spricht Monsieur Delattre!“ Der Kommissar hatte die näselnde Stimme bereits erkannt. Delattre war Koordinierungsbeamter zwischen Innenministerium, Präsidialamt und Polizeipräfektur. Jules Maubert mochte diesen stromlinienförmigen Delattre nicht, obwohl sich die beiden nur von den Telefongesprächen kannten. Wie eine graue Eminenz taucht Delattre nie öffentlich auf. Einer dieser gefährlichen Bürohengste, denkt Maubert, die als hörige Gehilfen ihrer Meister die Fäden einer Marionettenbühne zusammenhalten, bei denen man nie weiß, ob sie wirklich Macht haben und man vor ihnen Angst haben soll, oder ob sie nur harmlose, auswechselbare, von der jeweiligen Machtstruktur abhängige Kasperpuppen sind.
„Was kann ich für Sie tun?“ Der Kommissar bleibt kurz angebunden. Sie sparen sich die Blumen und die Höflichkeitsfloskel einer langen Vorrede; Delattre kommt gleich auf den Punkt: „Ich weiß nicht, ob Sie der Herr Präfekt bereits informiert hat. In jedem Fall bin ich befugt Sie anzuweisen, Ihre Leute vom Fall Lacroix zurückzuziehen! Dieser Befehl gilt bis zu neuen Anweisungen nächste Woche! „Und noch etwas, Monsieur ...“, Delattre hüstelt, „... es besteht absolutes Pressetabu! Sie verstehen?!“
Maubert ärgert sich über die politischen Lackaffen, die immer mehr in die praktische Polizeiarbeit hineinreden. „Darüber wurde ich bereits von meinen Vorgesetzten unterrichtet. Nur die sind mir gegenüber weisungsberechtigt!“ Maubert bleibt knapp, aber er kann sich die Spitze nicht verkneifen. Sein Gesprächspartner schluckt. Aber Delattre hat sich schnell gefasst. Mit penibler Fistelstimme versucht er Machtanspruch auszudrücken. „Mein lieber Kommissar, ich habe den Eindruck, Sie verkennen die Situation! Hier geht es nicht mehr um Polizeiarbeit!“ Delattre macht eine Kunstpause und hebt die Stimme: „Hier geht es um übergeordnete Staatsinteressen!“
Maubert denkt spöttisch, jetzt fehlt nur noch Strammstehen und Nationalhymne. „Oh, wie interessant!“ antwortet Maubert und bemüht sich nicht, den ironischen Unterton zu verbergen. „Aber meine Leute sind bereits unterwegs!“
„Dann pfeifen Sie Ihre Leute zurück!“ Delattres Stimme bleibt erstaunlich ruhig. „Oder wollen Sie sich ein Disziplinarverfahren aufhalsen, Monsieur?! Ich rate Ihnen, heben Sie sich Ihre Erfolge besser bis nächste Woche auf! Sie werden die Lorbeeren noch benötigen, mein lieber Kommissar!“
*
Die drei schieben sich getrennt durch die Wartenden am Bahnsteig. Der Samstagabendverkehr und der Sturm auf die Unterhaltungsetablissements haben eingesetzt. Auf einer Bank sitzt zusammengesunken ein Clochard. Zuckend rutscht sein Kopf zur Seite und knallt auf eine Tragetasche, aus der Lumpen und Plastikbeutel quellen. Eine Frau mit flackernden Augen und einer weißen Ratte auf den Schultern wandert unruhig auf und ab. Die Ratte krabbelt über Hals und Gesicht der Frau. Als der Mund der Frau das Rattenfell liebkost, lächelt die Frau verklärt.
Hinten sitzen drei Kinder und schnüffeln Klebstoff aus Tüten. Eines der Mädchen verdreht die Augen und lässt sich torkelnd auf einen Sitz fallen. Die Fahrgäste wenden sich ab. Der Zug fährt ein. Die drei Polizisten stehen verteilt im Waggon. In der Ecke wird es unruhig. Ein Mann schreit gestikulierend auf. Taschendiebe! Der Zug hält. Ein Mann steckt einem Helfer die gestohlene Brieftasche zu. Jean-Claude darf nicht eingreifen, kann nur auf das Auftauchen des Sonderkommandos „Metro“ hoffen. Die Täter verschwinden in der Masse. Der Zug fährt weiter. Türen, Räder und Gleise quietschen.
Ein junger Mann hat sich auf der Plattform aufgebaut. „Mesdames et Messieurs! Ich wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen!“ beginnt er seinen Spruch. „Ich habe kein Zuhause und nichts zu essen. Erlauben Sie mir, dass ich Sie um eine kleine Spende bitte!? Danke für Ihr Verständnis!“ Er schiebt sich durch die Reihen und hält eine Mütze hin. Die meisten schauen stur an ihm vorbei. Eine Frau wirft ein paar Centimes hinein. Der Mann steigt in den nächsten Waggon um.
Die drei Zivilbeamte verlassen an der Place Pigalle die Metro. Marie-No und Jean-Claude gehen in die Kneipe. Marie-No bestellt an der Bar einen Espresso. Jean-Claude holt am Tabac-Tresen Zigaretten und setzt sich an einen Tisch. Pierot steht draußen auf dem Boulevard de Clichy und kann den Radius bis zur Rue Duperre überblicken. Er sieht Marie-No aus dem Bistro kommen und ein Stück die Rue Houdon hinauflaufen. Sie hat das Handy am Ohr.
„Chef!“ Marie-No wirkt aufgeregt. „Wir haben sie! Alle vier auf einen Schlag! Sie sitzen im ersten Stock und spielen Karten! Wir brauchen Verstärkung!“
„Vergiss es!“ Der Kommissar versucht den Redeschwall Marie-No’s zu bremsen. „Die Sache ist abgeblasen!“
„Wieso abgeblasen?“ Marie-No ist irritiert. „So wie heute bekommen wir sie kaum noch einmal zusammen! Eine einmalige Chance, um sie alle hochgehen zu lassen!“
„Macht euch einen schönen Abend!“ antwortet Maubert. „Geht wegen mir ins Kino oder nach Hause, oder Jean-Claude soll sich endlich eine Freundin anlachen. Aber bis Montagmorgen läuft überhaupt nichts!“ Der Kommissar ist müde und will nicht diskutieren. „Das ist ein Befehl!“ sagt er ungewöhnlich grob.
*
Sonntagabend! Das Wahlergebnis schlägt wie eine Bombe ein. Der Sozialist Jospin im ersten Wahlgang aus dem Rennen! Le Pen an zweiter Stelle zur Stichwahl mit Chirac, dem Konservativem. Aber mit Le Pen die extreme Rechte auf dem Sprung ins höchste Staatsamt Frankreichs...
Noch in der Nacht beginnen in Paris, im ganzen Land Demonstrationen. Nein zu den Rechtsextremen! Im zweiten Wahlgang in zwei Wochen alle Kräfte gegen Le Pen! Pierot hat Kollegen aus der Polizeigewerkschaft eingeladen; seine Frau Jacqueline hat ein kaltes Büffet improvisiert. „Es wird das erste Mal in meinem langen Leben sein, dass ich als Linker für einen konservativen Präsidentschaftskandidaten stimmen muss, um einen Faschisten zu verhindern!“ sagt Pierot ernst. „Es schmerzt, aber wir haben keine andere Wahl!“

Pierots Frau reicht die Häppchen und sagt: „Das erinnert mich an Deutschland 1933!“ Die Umstehenden sehen Madame Pierot erstaunt an; kaum einer kennt die familiären Zusammenhänge: Jacqueline hatte einen deutschen Vater, eine komplizierte Geschichte, er war 1937 als Freiwilliger aus Berlin zu den Internationalen Brigaden nach Spanien gezogen, konnte nach Francos Sieg nicht nach Nazi-Deutschland zurück und landete in Paris in der Résistance (*3). Er heiratete eine Französin und 1949 wurde Jacqueline geboren. Fünfundzwanzig Jahre später heirate sie den jungen Polizisten Pierot.
*
Am nächsten Morgen im Büro. Pierot knallt den Stapel Zeitungen auf den Tisch des Kommissars. „Lies dir das durch!“ flucht er. „Die Ratten kommen aus ihren Löchern!“
„Ich weiß!“ Jules Maubert lächelt ein weises Lächeln. „Jetzt kommt Arbeit auf uns zu! Es wird sich einiges bei uns ändern! Jetzt dürfen die Hunde von der Leine!“ Der Kommissar schiebt die Zeitungen zur Seite und will gerade die Pfeife anzünden, als das Telefon schrillt.
„Hier Delattre! Mein lieber Kommissar, Sie können jetzt Ihre Bande festnehmen! Die Sicherheit der Bevölkerung hat oberste Priorität! Die Polizei muss jetzt durchgreifen! Wir Konservativen machen Schluss mit dem linken Schlendrian! Presse und Öffentlichkeit erwarten polizeiliche Erfolge! In zwei Wochen ist Stichwahl! Wir haben uns verstanden, Monsieur?“
„Aber natürlich!“ sagt der Kommissar mit einer Prise Zynismus „Es geht schließlich um übergeordnetes Staatsinteresse!“
***
Erläuterungen:
(*1) CGT = Commission General du Travail (linke Französische Gewerkschaft, der Kommunistischen Partei Frankreichs nahestehend).
(*2) Le Pen = Ex-Vorsitzender der rechtsextremen "Nationalen Front". Den Vorsitz hat jetzt seine Tochter Marie Le Pen übernommen.
(*3) Résistance = Französische Widerstandsbewegung während der Besatzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland, 1939 - 1944/45.
 
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Kommentare  

Mit dem "Geflecht" liegst du richtig, liebe Evi Apfel. Aber damit der kleine Mann nicht mehr nur "staunt", sollten wir Autoren mit unseren bescheidenen Mitteln Aufklärung betreiben und jene Kreise anprangern, die immer noch versuchen uns Honig ums Maul zu schmieren. Vielleicht können auch solche kleinen Geschichten dabei helfen, Zusammenhänge besser zu verstehen und nicht mehr alles zu schlucken was man uns von oben vorsetzt...?!

Michael Kuss (04.12.2012)

Tolle Story und immer wieder aktuell, denn es hapert doch überall in den Regierungskreisen. Alles ist ein Gepflecht und der kleine Mann staunt.

Evi Apfel (04.12.2012)

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