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Rosi und das Haus Brühl 18/ Kapitel 3/Rosi lernt schwimmen

Romane/Serien · Für Kinder
© rosmarin
Kapitel 3

Rosi lernt schwimmen

Zwei Tage später kam Frau Schmids zu Besuch.
„Na, ist Ihr Mann schon wieder weg?“, fragte sie scheinheilig. „Er hatte doch zwei Wochen Urlaub.“
„Ja“, erwiderte Else höflich, „er konnte wiedermal seinen Mund nicht halten. Aber das wissen Sie doch bestimmt.“
„Ich weiß gar nichts.“ Frau Schmids machte ein beleidigtes Gesicht. „Mein Mann redet nicht mit mir über solche Dinge. Das darf er auch gar nicht. Das sind Parteiangelegenheiten.“
„Schon gut“, lenkte Else ein, „wollen Sie einen Malzkaffee? Bohne hab' ich nicht mehr."
Else verschwand in der Küche und tauchte den Tauchsieder in den Wassertopf.

*

Sie hatten nichts mehr von Karl gehört. Nicht ein Brief kam an. Der Postbote schüttelte jedes Mal mitleidig seinen Kopf, wenn Else ihn danach fragte.
„Gefallen kann er aber nicht sein“, sagte sie zu Rosi. „Sonst hätten wir bestimmt eine Nachricht über seinen Tod erhalten.“
„Wie bei dem Mann von Frau Müller.“ Rosi rückte ganz nah an Else, die auf der Couch saß und vor sich hinstarrte.
„Ja“, sagte Else, „der ist vor Moskau gefallen. Oder vielleicht auch erfroren in dem schrecklichen Winter.“
„Frau Müller schnieft immer in ihr Taschentuch, wenn sie davon redet. Guck mal Mami, so.“
„Jedenfalls ist er jetzt tot.“ Else nickte traurig mit dem Kopf. „Und kommt nie wieder.“

Eines Tages erfuhren sie dann doch etwas über Karl. Frau Schmids reckte ihren Kopftuchwuschelkopf aufgeregt über den Zaun und flüsterte: „Er ist jetzt in Frankreich.“
„Wer ist jetzt in Frankreich?“ Vor Schreck ließ Else ihr Strickzeug fallen. Sie erhob sich von der Bank und drehte sich zu Frau Schmids, um sie besser verstehen zu können.
„Na, Ihr Mann, der Karl“, sagte Frau Schmids etwas lauter. „Er beaufsichtigt jetzt Kriegsgefangene.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Ich weiß es eben.“
„Das glaube ich nicht“, zweifelte Else. „Bestimmt sind das Gerüchte. Aber wer weiß“, fügte sie leise hinzu. „Möglich ist ja alles.
„Bestimmt ist er jetzt Aufseher geworden“, vermutete Rosi, „weil er kein Parteibuch mehr hat und nicht mehr schießen darf.“
„Vielleicht. Else nahm wieder ihr Strickzeug. „Vielleicht.“
„Ist auch besser so“, sagte Rosi. „Er wollte ja sowieso nicht über die Feinde reden.“

*

Einige Tage später kam ein Pflichtjahrmädchen in den kleinen Haushalt.
„Ich soll Ihnen im Haushalt zur Hand gehen“, sagte Helga, „wo Sie doch so viel Arbeit haben mit den drei kleinen Kindern.“
„Bleibst du jetzt bei uns?“, staunte Rosi Helga an.
Helga sah aus wie ein echtes deutsches Mädchen. Genauso sahen die Mädchen auf den Filmplakaten aus, die vor dem Kino und auch drinnen im Gang hingen. Meistens sah man die Mädchen auf den Bergen, beim Tanzen oder in einer feinen Gesellschaft. Da hätte Helga auch hingepasst. Sie hatte ganz blaue Augen und lange blonde Zöpfe. Die sahen aus wie reife Ähren. Sie fand Helga echt schön. Und echt arisch, wie Frau Schmids sagte.
Doch leider entpuppte sich Helga als Fehlgriff. Sie half Else nicht. Sie tat einfach nichts; sie saß den lieben langen Tag in der Kammer vor dem Schlafzimmer und schaute aus dem kleinen Fenster zum Hof hinunter. Manchmal saß sie auch auf dem weiß gestrichenen Stuhl vor dem Fenster und schrieb auf dem Fensterbrett einen Brief.
„Schicken Sie das dumme Ding doch wieder zurück“, sagte Frau Schmids zu Else. „Mit der haben Sie doch ein viertes Kind.“
„Sie ist ja auch noch ein Kind“, erwiderte Else. „Ihre Eltern sind sehr arm und froh, wenn sie einen Esser weniger haben.“
„Ärmer als wir?“, mischte sich Rosi in das Gespräch.
„Das nicht, aber wir haben doch noch unsere Großeltern, die uns unterstützen“, sagte Else. „Los, packt eure Badesachen ein. Das Wetter ist so schön. Wir gehen ins Schwimmbad.“

Sobald es warm wurde, hielt es Else nicht mehr im Haus. Sie hatte dann immer Hummeln im Hintern. Schöne Vorstellung.
Else packte die Badesachen in den grünen Militärrucksack, den Karl eines Urlaubs mitgebracht hatte. Eine bunte Decke und eine Thermoskanne Tee passte auch noch rein. Dann lief sie mit Jutta und Karlchen an der Hand die Alte Chaussee entlang. Vorbei an Vetterling. Weiter zum Brückentor, bei dem noch Reste der alten Stadtmauer, die schon 1529 begonnen und 1558 beendet wurde, erhalten waren. Dann kam der Gänsebach am Fuße der Kirchtreppen. Auf der Brücke am Teichberg, durch den der Gänsebach träge vor sich hinplätscherte, verschnaufte sie.
Rosi war langsam hinterher getrottet. „Wollen wir nicht erst noch zum Weitesten Hügel Mami?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Nein. Ein andermal wieder.“ Else sah sie genervt an. „Außerdem gehst du doch fast täglich allein dorthin. Ich will mich im Bad auf die Wiese legen. Das ist erholsamer.“

*

Das Bad war eine wunderschöne Anlage. Breite Liegewiesen luden zum Verweilen ein. In den uralten Bäumen spielte der Wind. Überall standen weiß gestrichene Holzbänke. Sandkästen, Klettergerüste, Wippen und ein Drehkarussell waren das Paradies für Kinder.
Das Bad gab es schon seit 927 am Neuen Teich. Der Alte Teich lag genau gegenüber. Getrennt durch einen schmalen Weg, der zum Kirschberg führte. Der Alte Teich war überwuchert von meterhohem Schilf. Und in den Algen, die im Sommer reichlich blühten, quakten am Abend die Frösche.
Die Umkleidekabinen waren getrennt für Frauen und Männer. In den Gemeinschaftsumkleideraum durften alle, auch Kinder.
Das Schwimmbad war schöner und moderner als das in Rastenberg, in das sie manchmal mit der Zwecke fuhren. Es war ein Heilbad. Das frische Wasser floss aus mineralhaltigen Quellen direkt in das Badebecken und war eiskalt.

Vor den Umkleidekabinen lagen schmale Holzdielen, auf denen man sich sonnen konnte.
Das Schönste aber war ein Springbrunnen. Er trennte das Nichtschwimmerbecken von dem der Schwimmer.
Else machte es sich mit den Kindern ganz hinten auf der Liegewiese gemütlich. Es roch herrlich nach frisch gemähtem Gras. Die Gänseblümchen reckten ihre Köpfchen hervor. Hummeln und Bienen schwirrten darüber. Die Kirschbäume standen noch in voller Blüte.
„Kommt, wir gehen zum Springbrunnen.“ Else nahm Jutta an die Hand und Karlchen auf den Arm. „Und du, tauch nicht wieder so lange“, ermahnte sie Rosi. „Bleib im Nichtschwimmer.“
„Ja, ja“, murrte Rosi. „Aber ich kann doch schon schwimmen. Das vergisst du nur immer.“ Sie rannte los und stürzte sich in das blau schimmernde Wasser, hüpfte auf einem Bein, führte mit den Armen Schwimmbewegungen aus und schrie übermütig:
„Guckt mal alle her! Guckt mal alle her! Ich kann schwimmen! Ich kann schwimmen!“
„Ja, ja, du kannst schwimmen.“ Else hatte mit den Kindern das Becken erreicht.
„Angeberin.“ Jutta streckte die Zunge heraus.
„Ich will auch groß sein. Lass mich runter Mama.“
Else stellte Karlchen ins Gras.
„Das wirst du noch früh genug“, sagte sie.
„ich kann schwimmen! Ich kann schwimmen!“, schrie Rosi noch immer. Ihre Beine hatten sich tatsächlich vom Grund des Beckens gehoben. Das konnte man ganz deutlich erkennen in dem glasklaren Wasser. Vor freudigem Schreck vergaß sie, die Arme zu bewegen, tauchte unter und schluckte Wasser.
„Ich kann wirklich schwimmen“, stotterte sie. „Wirklich. Ich muss nur den Mund zulassen.“
„Ja, ja, so gut, dass du Wasser schluckst“, lachte Else. „Raus mit dir. Trink etwas.“
Unwillig stieg Rosi aus dem Becken.
„Und doch kann ich schwimmen“, trotzte sie und setzte sich auf die Decke.

Wie schade, dass sie nicht zum Weitesten Hügel raus sind. Dort hätte sie jetzt unter der uralten Linde sitzen können. Unter den knorrigen Ästen. Im Inneren des Hügels waren bestimmt die wunderbarsten Schätze der Welt verborgen. Totenköpfe zum Beispiel. Oder Uniformen aus den alten Kriegen. Vielleicht gar ein vergessener Schatz.
Schon zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges sollen von dort aus die Wächter mit ihren Fanfaren die Stadt vor anmarschierenden Kriegern und Plünderern gewarnt haben, sodass die Tore rechtzeitig geschlossen werden konnten, bevor die Feinde an der Stadtmauer angelangt waren. Außerdem sollen von dem Hügel aus verzweigte unterirdische Gänge bis zur Kirche führen.
Entdeckt hatte sie sie allerdings noch nicht, obwohl sie so oft nach einem Eingang gesucht hatte.

*

In Brühl 18 saß Richard im Hof auf der Bank und wartete auf die Familie.
„Wir waren baden, Onkel Richard“, plapperte Rosi los, kaum dass sie ihn sahen. „Und ich kann jetzt richtig schwimmen.“
Else nahm die Badesachen und das Handtuch aus der Tasche und ging in den Flur. Hastig spülte sie die Sachen in dem kleinen Waschbecken gleich neben der Stubentür flüchtig aus und hängte sie dann auf die Wäscheleine im Hof. Die Leine, eigentlich ein dicker Strick, war immer da. Sie führte von dem Fliederbaum hinter dem Mist zu dem Zwetschgenbaum neben der Bank. Auch im Winter. Da hängte Else die Wäsche an die großen Holzklammern, die zu der Leine gehörten. Die Leine war immer gefroren. Steif schwankte sie im eisigen Winterwind hin und her.

Doch jetzt war Frühling. Alles duftete und blühte. Eigentlich könnte alles so schön sein. Doch es war Krieg. Das Drohende rückte immer näher. Ließ alles andere allmählich verblassen. Das widerspiegelte jetzt auch Richards Gesicht. Bestimmt hatte er wieder schlechte Nachrichten.
Der Volksempfänger wurde nur noch selten eingeschaltet. Da war Else konsequent. Die Kinder sollten nicht zu sehr verunsichert werden. Sie konnten ja noch nicht begreifen, was Krieg bedeutete. Und Richard hörte den Feindsender. Meistens den Engländer. Das war gefährlich. Ebenso, dass er der Kommunistischen Partei angehörte. Außerdem war er ein Illegaler. Sozusagen. Aus Saabrücken hierher gekommen. Aus welchem Grund auch immer. In das kleine verträumte Städtchen, dem der Krieg so weit entfernt schien. Auch wenn man ab und zu hörte, dass dieser oder jener gefallen sei. Solange es nicht einen von ihnen selbst betraf, ließen sie die schrecklichen Nachrichten nicht allzu sehr an sich herankommen.

Besorgt schaute Else in Richards düsteres Gesicht.
„Los Kinder“, sagte sie, „wascht euch. Wir wollen essen. Und dann ab ins Bett.“
„Mama“, maulte Rosi, „es ist doch noch so früh. Die Sonne scheint doch noch. Immer müssen wir so früh ins Bett.“
„Die anderen Kinder dürfen viel länger aufbleiben“, maulte auch Jutta. „Die lachen uns immer aus, weil wir schon um sechs Uhr ins Bett müssen.“
„Kinder brauchen ihren Schlaf, damit sie wachsen können“, ließ Else sich nicht beirren. „Macht, was ich euch gesagt habe. Und keine Widerrede.“

*

Jutta und Karlchen schliefen schon bald wie die Murmeltiere. Rosi fand wieder keine Ruhe. Das Gemurmel, das von unten in die Kammer drang, störte sie. Sie hatte ein äußerst empfindliches Gehör. Sie hörte sogar das Gras wachsen. Jedenfalls sagte das Else.
Leise stand sie auf. Lief barfuß die Treppe hinunter. Schnell huschte sie über die kalten Fliesen im Flur. Vor der Stubentür blieb sie stehen. Die Stimmen, die aus der Stube drangen, waren deutlich zu vernehmen.
„Schon im Februar hat der verdammte Reichsminister Goebbels in seiner Rede im Berliner Sportpalast den Totalen Krieg erklärt“, wütete Richard. „Und an den Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung appelliert.“
„Ich habe davon gehört“, sagte Else. „Was ist daran schlecht? Das würde doch die schnelle Beendigung des Krieges bedeuten.“
„Nein!“
Rosi drückte ein Auge fest ans Schlüsselloch. Richard stand mitten im Zimmer.
„Nein“, wiederholte er“, das ist eine infame Lüge. Das Gegenteil ist der Fall. Hitler müsste kapitulieren und sich nicht noch einmal gegen den Feind aufbäumen. Dieses unüberlegte Vorgehen wird die Welt weitere Hunderttausende Opfer kosten. Glaub mir.“
„Die Menschen haben doch aber Goebbels begeistert zugestimmt und das Deutschlandlied gesungen“, zweifelte Else. „Sollen die alle irren?“
„Aber Else!“ Richards Stimme wurde noch eine Nuance lauter. „Das waren doch alles geladene Gäste. Bestellte Klatscher. Zujubler. Um das Volk irre zu führen.“ Er lief einmal um Else herum, bevor er sarkastisch schrie: „Nun, Volk, steh auf! Und Sturm brich los!“
„Aber Richard!“
„Es ist aber so.“ Richard sprach etwas leiser, doch mit dem seltsamen Unterton. „Der Führer hat befohlen. Wir werden ihm folgen. Und wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen; wir müssen nur zufassen. Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles andere seinem Dienst unterzuordnen. Das ist das Gebot der Stunde. Und darum lautet von jetzt ab die Parole:
'Nun, Volk, steh auf! Und Sturm brich los!'.“
Richard lief einige Schritte wütend umher. Plötzlich blieb er neben Else stehen. Sie saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl an der Stirnseite des Tisches und sah Richard fassungslos an. „Soll doch die opferbereite Heimatfront Höchstleistungen bringen“, höhnte er. „Aber ohne mich. Ich arbeite lieber hier bei Vetterling. Da finden die mich nie.“ Er setzte sich Else gegenüber. „Und ich könnte auch nie weg von dir“, sagte er etwas ruhiger, während er Elses Hand streichelte. „Ich liebe dich.“
Erschreckt wich Rosi einen Schritt zurück.
Richard liebt Else? Das darf nicht sein! Karl liebt Else.
„Richard“, vernahm sie gedämpft Elses Stimme, „ich bin wieder schwanger.“
Schwanger? Hatten sie also doch an Papas Urlaub ein Baby gemacht. Wusste sie's doch. Was würde Richard nun sagen?
Neugierig guckte sie wieder durchs Schlüsselloch.
Richard stand jetzt hinter Else und streichelte ihren Nacken.
„Das kannst du mir nicht antun.“ Er legte Elses dunkle Haare zur Seite und küsste sie auf den Hals. „Ich, nur ich, liebe dich“, flehte er.
„Lass das Richard.“ Else stand auf. „Wir sind gute Bekannte. Freunde vielleicht. Weiter nichts.“
Ein Glück.
Rosi schlich die Holztreppe hinauf. Erleichtert legte sie sich auf den Strohsack und zog das Inlett bis zum Kinn.

Richard liebt Else. Schwachsinn. Das ist ein Illegaler. Jetzt wusste sie auch, warum sie ihn von Anfang an nie so richtig leiden mochte. Sie spürte wohl die Gefahr. Sie dachte daran, wie sie Richard kennengelernt hatten.
„Siehst du dort den kleinen Mann“, hatte Else gesagt, als sie im vorigen Winter die Eisblumen von den Scheiben in der Stube kratzten, um einen Durchblick auf die Straße zu haben, „der ist mir schon seit langem aufgefallen. Er ist immer so allein und sieht so traurig aus. Bestimmt arbeitet der bei Vetterling.“
Vetterling hatte seinen riesigen Hof auf der anderen Seite im Brühl und breitete sich bis an die Hauptstraße an der Ecke aus. Neben Lotholz war er der reichste und größte Bauer in der Stadt und beschäftigte allerlei Volks als billige Arbeitskräfte.
„Vielleicht laden wir ihn mal zum Essen ein?“ Else lachte unsicher.
„Warum denn? Du sagst doch immer, die Zeiten sind schlecht“, widersetzte sich Rosi. „Und wenn wir unsere Großeltern in Ziegelroda nicht hätten, müssten wir am Hungertuch nagen.“
„Das stimmt schon. Aber trotzdem.“ Else schaute nachdenklich aus dem Fensterloch dem kleinen Mann mit dem dünnen, schwarzen Haar nach, der gerade durch Vetterlings Tor verschwand.
Einige Tage später saß Richard mit ihnen am Tisch und aß Pellkartoffeln mit Quark und Schnittlauch von dem kleinen Gemüsebeet neben dem Mist.
Sie hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn Richard sie mit seinen großen dunkelblauen Augen in seinem Vollmondgesicht traurig anstarrte. Manchmal schenkte er ihr fünf deutsche Reichsmark, die sie in ihrem Strohsack versteckte.
„Das ist viel Geld“, sagte er jedes Mal wichtigtuerisch. „Vielleicht brauchst du es ja irgendwann einmal.“
Else sagte sie nichts davon. Kinder brauchen nicht alles zu wissen, war ja ihre unumstößliche Meinung. Also brauchten auch Erwachsene nicht alles zu wissen, was Kinder anging. Logo. Sie verstand Else sowieso nicht mehr. Was wollte sie von dem Mann? Sie war doch viel schöner als er. Sie passten einfach nicht zusammen. Else passte zu Karl. Der war auch viel schöner als Richard. Aber Richard hatte eine schöne Singstimme. In Saarbrücken war er im Männerchor gewesen und hatte Solo gesungen.
„Komm, sing uns was vor“, bat ihn Else immer wieder. Im schönsten Wiesengrunde.“
Das war Richards Lieblingslied. Er sang es so wunderschön traurig, dass Else die Tränen kamen.
Richard sang auch Am Brunnen vor dem Tore und Droben stehet die Kapelle.
Das war auch ihr Lieblingslied. Sie stellte sich vor, wie der fröhliche Hirtenjunge, der in dem Tal mit dem saftig grünen Gras die Ziegen weidet, auch eines Tages auf den Berg in die kleine Kapelle gebracht wird und aufgebahrt in einem schönen Sarg voller Blumen liegt. Um ihn herum stehen die kleinen Zicklein mit großen, dunkelblauen Augen, aus denen die Tränen tropfen. Sie sind furchtbar traurig, weil sie nun keinen Hirtenjungen mehr haben.
Hinter den Zicklein stehen die großen Ziegen mit ihren grauen Bärten, und dahinter die Menschen aus dem Tal, die jetzt sein Lieblingslied singen.
Bei dieser Vorstellung liefen ihr immer die Tränen die Wangen hinab.
„Ja, sing Droben stehet die Kapelle“, sagte sie dann zu Richard, der sich nicht lange bitten ließ und im schönsten Tenor sein Lieblingslied sang.

Als er geendet hatte, wischte sich auch Rosi die Tränen vom Gesicht. „Ein schönes Lied von Ludwig Uhland“, sagte sie.
„Stimmt“, wunderte sich Richard. „Du merkst dir aber auch alles.“
„Sie hat einen guten Merks“, spottete Else. „Stell dir vor, sie will sich sogar daran erinnern, wie sie sich in Altenburg in ein Schaufenster gesetzt und Puppe gespielt hat.“
„Ist aber wahr, das weiß ich noch ganz genau“, trotzte sie. Else glaubte ihr ja nie. Sie hatte mit dem Fuß auf den Boden gestampft und triumphierend gesagt: „Und ihr habt mich den ganzen Tag gesucht und erst am Abend gefunden. Da saß ich nämlich noch immer im Schaufenster und keiner hatte gemerkt, dass ich gar keine richtige Puppe bin. So.“
„Die Geschichte stimmt“, gab Else zu. „Aber an diese Begebenheit kannst du dich wohl kaum erinnern.“
„Kann ich doch!“
„Du warst doch erst zwei Jahre alt. Bestimmt hat Berta sie dir erzählt.“
„Hat sie nicht.“
Else hatte ihr nicht geglaubt. Dabei stimmte alles.

Else setzte sich lieber ans Harmonium und begleitete Richard. Schon bald sangen alle mit. Zum Abschluss gab es immer Gott ist die Liebe. Das sang Richard nicht. Er glaubte ja nicht an Gott.
Wie gern hätte sie auch Harmonium spielen gelernt. Doch das erlaubte Else nicht. Dafür war kein Geld da. So setzte sie sich, wenn keiner im Haus war, was selten genug vorkam, an das Harmonium auf den mit rotem, verblichenem Samt bezogenen Klavierhocker und klimperte vor sich hin.
Hänschen klein und Kommt ein Vogel geflogen konnte sie bald spielen. Natürlich ohne zweite Stimme und ohne Bässe.
„Und nun hat Richard gesagt, dass er Else liebt“, murmelte sie vor sich hin.
Sie legte sich auf den Bauch und zog das dünne Federbett ohne den kratzigen Bezug über ihren Kopf. Im Halbschlaf vernahm sie noch, dass die Kammertür klappte. Bestimmt war Helga nach Hause gekommen. Vielleicht hatte sie auch einen Freund und würde bald heiraten, damit sie auch ein Baby bekommen könnte.

*

„Der Sieg ist fern. Der Sieg ist fern“, trällerte Rosi vergnügt. Das hatte gestern ein Mann vor dem Ratskeller zu einer Frau gesagt. „Der Sieg ist fern. Der Sieg ist fern.“
Der Mann hatte es ganz leise gesagt. Sie hatte es aber genau gehört. Die Frau legte einen Finger auf den Mund und las die Losung über dem runden Torbogen. Dann zog sie ihr buntes Kopftuch in die Stirn. Mit schnellen Schritten überquerte sie den Marktplatz in Richtung Friedhof. Der Mann verschwand im Ratskeller.
Auf dem roten Band stand in schwarzer Schrift: „Wir werden siegen“. Else hatte es ihr vorgelesen. Über dem Schultor hing auch so ein Band.

Rechts und links neben dem Band über dem Ratskellertorbogen flatterten die roten Fahnen mit dem Hakenkreuz. Wie jedes Mal, wenn sie über den Marktplatz ging, hatte sie fasziniert auf den weißen Kreis mit dem schwarzen Hakenkreuz geschaut. Und wie immer hatte es sie magisch angezogen. Das Zeichen der Unbesiegbarkeit.
„Der Sieg ist fern. Der Sieg ist fern.“
„Hör auf damit!“ Trude stampfte wütend auf das Wiesenfleckchen im Hof. „Und doch werden wir siegen! Das hat meine große Schwester gesagt. Und die muss es ja wissen. Die ist nämlich im Jungmädelbund. Ätsch.“
„Nicht so laut“, piepste Jutta. „Sonst hört es der Schmids. Und der ist ein Spitzel.“
„Na, uund? Kann er doch. Ist doch nichts Schlechtes. Aber wenn man sagt, Krieg ist was Schlechtes und wir werden nicht siegen, das darf er nicht hören. So. Sonst wird man nämlich abgeholt. Wie dein Vater.“ Triumphierend sah Trude Rosi an. „Der wollte nicht mal ein paar lumpige Kröten bezahlen für den Sieg. So.“
„Und woher weißt du das?“ Rosi war puterrot im Gesicht vor Zorn und schupste Trude vor sich her. „Woher? Sag schon?“
„Von meiner Mutter“, stotterte Trude und drehte sich um. „Das weiß doch die ganze Stadt.“
Wie zwei Kampfhähne standen sich die Mädchen gegenüber. Jutta hatte Karlchen an die Hand genommen und verzog sich vorsichtshalber mit ihm zu dem alten Ziegenstall rechts neben dem Plumpsklo.
„Außerdem haben die meinen Vater nicht abgeholt“, wehrte sich Rosi. „Der ist nämlich jetzt in Frankreich und passt auf die Gefangenen auf. So.“ Sie streckte ihre Zunge raus. „Das hat der Schmids gesagt. Ätsch!“
„Stimmt ja gar nicht.“ Trude streckte ihre Arme in die Höhe. „Mein Gott! Wenn sie jemanden abholen, kommt er ins Gefängnis. Das hat meine Oma gesagt.“
„Und ich habe selbst gehört, dass die im Radio gesagt haben, dass die Engländer Hamburg in eine Flammenhölle verwandelt haben“, sagte Rosi trotzig. „So viele Bomben sind da gefallen. Und darum können wir nicht siegen.“
„Meine große Schwester ist aber im Jungmädelbund. Also muss sie es wissen“, beharrte Trude. „Und wenn ich groß bin, nehmen sie mich da auch rein. Und meine Schwester geht dann in Glaube und Schönheit.“
„Wir sind schon in Glaube und Schönheit“, sagte Rosi stolz. „Wir sind nämlich Adventisten.“
„Adventisten? Was ist denn das?“
„Na, glauben. An Gott glauben. Und an Jesus. Jesus erlöst nämlich alle Sünder. Und schießen ist Sünde. Weil in den Zehn Geboten steht - du sollst nicht töten - . Und schön ist es auch. Da kommt nämlich immer Tante und Onkel Metzner. Die sitzen dann bei uns am Tisch und beten. Und Mama liest aus der Bibel vor. Wie mein Opa. Und dann singen wir alle Lobet den Herren.“
„Es heißt aber ‚Lobet den Führer’.“ Trude stampfte wieder mit dem Fuß.
„Und wir beten auch, dass der Krieg schnell zuende geht. So.“
„Aber erst nach dem Siege.“
„Du bist aber blöd.“ Rosi war jetzt ernsthaft böse. „Mit dir spiele ich nicht mehr! Und zu meiner Vorstellung darfst du auch nicht kommen. Los, mach dich von unserem Hof!“
„Das ist doch gar kein richtiger Hof!“, schrie Trude. „Nur Großbauern haben einen richtigen Hof. Und ihr seid arm. Bäh!“ Trude streckte Rosi die Zunge raus und trabte schnell davon.

Rosi setzte sich auf die Bank. „Blöde Gans“, schimpfte sie. „Natürlich nach dem Siege. Und natürlich haben wir einen richtigen Hof. Blöde Gans. Die.“
Jutta und Karlchen kamen angetrottet. Setzten sich zu ihr.
„Die ist aber doof“, sagte Karlchen. „Die darf nicht mehr auf unseren Hof.“
Da kam Trude zurück.
„Darf ich zu deiner Vorführung kommen?“, bettelte sie. „Ich gebe dir auch zwei Pfennige.“
„Und woher willst du die haben?“
„Von meiner Schwester. Wenn ich meiner Mutter nicht verpetze, dass sie mit Erich vor der Haustür geknutscht hat.“
„Na, gut“, willigte Rosi ein, „Christen müssen verzeihen. Aber rede nicht mehr so dummen Blödsinn. Das dürfen wir auch nicht.“
„Na, gut.“ Trude machte einen Schmollmund und große Augen. „Wann ist denn deine Vorstellung?“
„Weiß ich noch nicht. Da muss ich erst meine Mutter fragen.“
„Warum denn?“
„Weil die immer sagt, ich versaue ihre schönen Kleider.“
Das stimmte ja auch. Da hatte sie schon manchmal ein schlechtes Gewissen. Aber die Vorstellung war ihr lieber. Und Jutta und Karlchen auch. Sie nutzen jede Gelegenheit, wenn Else mal ohne die Kinder unterwegs war. Sie liefen durch die Straßen und pfiffen. Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald. Das war das Zeichen für eine neue Vorführung. Die Kinder kamen in Schwärmen. Noch vor der Haustür sammelte sie die Pfennige ein. Danach durften sich die Kinder auf die Treppe mit dem weißen Geländer setzen. Alle waren mucksmäuschenstill, wenn sie und Jutta und Karlchen aus dem Schlafzimmer kamen. Gekleidet in die Sachen ihrer Eltern. Dann fingen sie an zu klatschen. Das war der schönste Moment. Stolz schritten sie die Treppe hinab. Unten angekommen, stellten sie sich nebeneinander. Die Vorstellung konnte beginnen. Und zwar immer mit der gleichen Frage.
„Seid ihr alle da?“
„Jaaaaa!“, jubelten die Kinder.
„Was wollt ihr sehen?“
„Egal.“
Dann fing es an. Sie spielten, was ihnen gerade einfiel. Am liebsten Vater, Mutter und Kind. Aber auch Doktor und Pastor. Soldat und Krieg spielten sie nie. Diese Tatsache verbannten sie unterbewusst aus ihrem Gedächtnis.

Jetzt holten die Kinder den bunten Ball aus dem Korb im Flur, gleich unter der Treppe neben der Waschküche.
Auf dem Kopfsteinpflaster spielten sie Treiben. Vergnügt sprangen sie den kleinen Hügel am Ende des Brühls zum Kleffer rauf und runter. Sie lachten und kreischten und vergaßen die Zeit.
„Kommt essen! Kinder!“, rief Else Punkt siebzehn Uhr aus der blau gestrichenen Holztür mit der schweren Klinke in Brühl 18.


***

Fortsetzung in Kapitel 4
 
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Kommentare  

Auch dieses Kapitel steht dem vorheringen in nichts nach. Rosis Mutter findet mit einem Male auch einen anderen Mann höchst interessant. Die Kleine ist mit Recht in Sorge und im Hintergrund können wir wieder ein Stück Geschichte miterleben.

doska (29.12.2012)

hallo ihr beiden, danke für eure kommis. ich denke auch, dass der unterschiedliche erzählgestus nicht stört, eher auflockernd wirkt. für die kinder der damaligen zeit war der krieg etwas ganz alltägliches, sie kannten ja nichts anderes, sie waren neugierig und plapperten nach, was sie von den erwachsenen hörten. aber sie machten sich natürlich auch ihre eigenen gedanken. die geschichte ist auch eine liebesgeschichte, die sich irgendwann einfügen wird, lieber michael. das vermutest du schon richtig, denn sie geht ja über einen ziemlich langen zeitraum. mir ist schon wieder ein anderer titel eingefallen, der auch passen könnte. na mal sehen.
gruß von


rosmarin (05.12.2012)

Auch diesen Teil deiner tollen Story hast du wieder sehr spannend erzählt.Über das Detail, als es um den totalen Krieg ging, kann man durchaus auch geteilter Meinung sein, zumal sich Rosi, obwohl sie noch Kind, schon berechtigte Sorgen macht, zumal die Zukunft ihres Vaters noch in den Sternen steht. Ich schätze Rosi als ein sehr kluges Kind ein, das auch in diesem jungen Alter schon großes Interesse für das allgemeine Kriegsgeschehen zeigt. Ansonsten hätte sie ja nicht durch das Schlüsselloch gelauscht.
Ein sehr gelungener Teil, der mich sehr in den Bann gezogen hat!
LG. Michael


Michael Brushwood (05.12.2012)

Hallo RosMarin,

Deine Erinnerungen an die Kriegszeit aus Kindersicht bleiben interessant, wohl auch deshalb, weil Du den kindlichen Blick auf den Lauf der Weltpolitik (des Krieges) mit anderen für Kinder wichtigen Tageserlebnissen verbindest.

Ein bisschen stört mich aber das Gespräch der Erwachsenen über den "Totalen Krieg", das Rosi da am Schlüsselloch beobachtet. Ich verstehe, dass Du die Zeitgeschichte mit einbinden musst - aber den sonstigen Erzählgestus aus Klein-Rosis Sicht scheint mir das zu stören.

Liebe Grüße von


Wolfgang Reuter (04.12.2012)

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