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9 Seiten

Norchas Mühlenkinder (Kapitel 64 und 65)

Romane/Serien · Spannendes
- LXIV -
Lange hatte er hinter seinem Felsen noch wach gelegen, hatte in Gedanken die unterschiedlichen Möglichkeiten durchgespielt, wie er Kontakt zu Calla aufnehmen konnte, ohne dass sie ihn abwehren würde. Ihm wurde keine Hoffnung geschenkt. Mit seinem heftigen, gar brutalen Auftreten der Küchenhilfe gegenüber hatte er sich jeden freundschaftlichen Zugang zu ihr verwehrt.
Niedergeschlagen hatte Doggâr der Wirklichkeit in ihr höhnendes Antlitz geblickt, sich traurig auf die Seite gedreht, in der erlernten Körperhaltung ein wenig Ruhe zu finden. Wie sehr sehnte er die Nacht herbei, in der er endlich wieder tief schlafen durfte!
Das kurzzeitige Verstummen des Morgenchorals frühaktiver Gebirgsvögel reichte Doggâr, aus seinem Soldatenschlaf zu erwachen, sich unter leisem Aufstöhnen ob der steifen Muskeln und der harten Schlafstätte aufzurichten und sich aufmerksam in seiner Umgebung umzusehen. Augenblicke später sah er Calla mit einem kleinen Topf durch die Dämmerung schreiten.
Leise verfolgte er sie, beobachtete, dass sie Wasser in den Topf fließen ließ, diesen beiseite stellte und sich ein wenig erfrischte.
Jetzt!
Mit wenigen schnellen Schritten, die die junge Frau, die ihr Gesicht gerade genussvoll der aufgehenden Sonne entgegen hielt, nicht hörte, erreichte er sie, legte ihr hart den linken Arm um die Leibmitte, verschloss mit der rechten Hand ihren Mund. Er vernahm ihren kehligen Schrei, der nicht mehr über ihre Lippen dringen konnte.
„Ich muss dir einiges erklären.“
Seine eigene Stimme, seit mehr als einem Tag nicht mehr verwendet, klang ihm selbst kalt, hart und rau in den Ohren. Hatte der Schreck Calla anfangs zu einem steifen Stock gefrieren lassen, so wand sie sich jetzt, nachdem sie seine Stimme wohl erkannt hatte, wie ein gefangenes Wildtier in seinem Arm. Er hätte niemals vermutet, dass diese kleine Person so viel Kampfkraft aufweisen sollte! Um den Stand nicht zu verlieren, hob er sie ein wenig an, trug und zerrte sie so mehr, als dass er sie gehen ließ, von der warmen Quelle fort. Sicherlich würden die Männer sich schon bald wundern, wo sie bliebe und zuerst hier nach ihr suchen.
„Hör auf dich so zu wehren, Calla! Du lässt uns beide noch abstürzen, wenn du so weiter machst!“
Leise und eindringlich, bestrebt, sie zu überzeugen, sollten die Worte klingen, doch drangen sie bedrohlich über seine trockenen Lippen, bewirkten, dass sie nach ihm trat und sich noch wilder in seinem Arm bewegte. Endlich hatte er einige Felsen zwischen sich und der Quelle gelegt, fand hinter einer Felswand sowohl Schutz vor Sicht als auch davor, gehört zu werden. Nach einem tiefen Atemzug der Erleichterung ließ er Calla wieder Boden unter den Füßen wahrnehmen. Langsam senkte er seinen Kopf, ihr die Worte genauso eindringlich zukommen zu lassen, wie er sie meinte.
„Calla, bitte. Ich muss mit dir reden. Ich muss dir einiges erzählen, damit du besser verstehst.“
Ob er es wagen konnte, den eisernen Griff um ihre Mitte zu lösen? Ob er es wagen konnte, die Hand von ihrem Mund zu nehmen?
Noch nicht. Ein weiterer Atemzug.
'Der Höchste steht mir bei! Niemals hätte ich gedacht, dass die Wahrheit so träge sein kann, nicht einmal über Lippen gleiten zu wollen.'
„Calla, ich bin nicht der oder das, den oder das du in mir erkennst. Ich bin …“
Plötzlich drehte sie sich aus seinem Arm, tauchte unter dem anderen Arm hinweg. Nur zwei Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen, wandte sich in einer schnellen Bewegung zu ihm um. Aus ihren Augen funkelte ihn die unbändige Wut, geboren aus Angst und dem Gefühl, erniedrigt worden zu sein, entgegen. Ihre Worte, viel zu laut ausgesprochen in dieser steinernen Welt und Heimlichkeit benötigender Lage, tropften von ihren Lippen wie das heiße Pech bleckender Fackeln.
„Oh ja, Ihr seid nicht der, für den Ihr Euch ausgebt. Diese Wahrheit hat der sterbende Ewelk mir bereits mit auf den Weg gegeben. Er nannte Euch eine Schlange. Ich nenne Euch ein Monster!“
Sie hat ja Recht!
Verzweiflung dehnte sich in ihm aus. Wie konnte er ihr in Ruhe die wahrhaftigen Tatsachen darlegen, nachdem er ihr so viel Leid zugefügt hatte?
„Calla, bitte, so lass dir erklären …“
Flehend trat er einen Schritt auf sie zu, hielt ihr seine offenen Hände entgegen als wollte er sie einladen, sich ihm ebenfalls zu nähern.
„Bleibt stehen, Hauptmann!“
Die männliche Stimme, befehlsgewohnt, ließ ihn einen Schritt vorwärts stolpern und sich in der gleichen Bewegung umwenden. Sollte Callas Fortbleiben den Auxell oder den Ferrud aufgescheucht haben?
Verwunderung dehnte sich aus, als er an der Felskante seinen Ersten Gardisten im Licht der Morgensonne erkannte. Im gleichen Moment blitze genau jenes Licht in der scharfen Klinge seines Dolches auf.

Als sie den ersten Schreck der Überraschung überwunden hatte, dehnte sich eine so übermächtige Sturmfront unbändiger Wut in Calla aus, wie sie sie in ihrem bisherigen Leben niemals zuvor erfahren hatte. Jede Faser ihres Seins begehrte gegen den Arm um ihren Leib, gegen die Hand auf ihren Lippen auf. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, sich derartig heftig gegen den körperlich wesentlich Größeren und Stärkeren zu behaupten, doch allein die Erinnerung, erneut von ihm misshandelt und erniedrigt zu werden, fachte den Sturm nach einer vermeintlichen Flaute noch mächtiger an. Sie vernahm seine Stimme an ihrem Ohr, doch wollte sie die Inhalte nicht wahrnehmen. Sie wollte ihren Weg gehen und der sah keine Konfrontation mit dem Hauptmann der gräfschen Garde vor.
Ja, sie hatte eingewilligt, den Rebellen als Köder für Doggâr zu dienen, doch dies war zu einer Zeit geschehen, als sie noch nicht von Träumen oder Visionen heimgesucht wurde. Dies war zu einer Zeit geschehen, als die Angst vor Doggâr ihr schier die Luft zum Atmen nahm. Heute, hier in den Höhen des Reldoc, hatte sie eine weitaus wichtigere Aufgabe zu erfüllen als die des Köders. Hier stellte Doggâr keine Bedrohung sondern die Lästigkeit eines störenden Insektes dar.
Was wollte er noch von ihr? Sie hatte ihm die Zusammenhänge des Sonnenfestes offenbart. Hier in der Nähe Xabêrs musste sie sich ihm nicht erneut ausliefern!
Das plötzliche Erscheinen einer dunklen Gestalt gegen das aufsteigende Sonnenlicht riss sie aus ihren Gedanken und der Abwehr gegenüber Doggâr.
„Uwlad?“

Callas kurzzeitige Verwirrung reichte Doggâr, mit einen paar schnellen Schritten erneut in ihren Rücken zu treten, den linken Arm wie die Zwinge eines Schmiedes um ihren Leib und die Spitze seines ebenfalls gezückten Dolches an den Hals zu legen.
„Uwlad, ich gab dir einen Befehl! Verschwinde von hier!“
Auch ihn hatte das plötzliche Auftauchen des Ersten Gardisten überrascht, doch mehr noch versetzte ihn gerade die Befehlsverweigerung in Rage.
„Die Zeiten der Befehle von dir zu mir sind vorbei, Doggâr.“
Die Ruhe, mit der Uwlad seine Worte wählte, die Sicherheit, mit der sie über seine Lippen drangen, versetzten der Wut Doggârs einen weiteren Tritt.
„Was fällt dir ein! Wie redest du mit deinem Hauptmann?!“
Sollte das Anlehnen des Gardisten gegen die Felswand, das tiefe Durchatmen und das entspannte Spiel mit dem Dolch ihn reizen?
„Auch die Zeiten eines Hauptmanns Doggâr sind vorbei.“
Egal, welches Ziel Uwlad mit seinen Gesten und Reden verfolgte, sie reichten, den Kessel in seinem Inneren zum Überkochen zu erhitzen. Bedrohlich leise glitten die Worte über seine Lippen, als er die unausgesprochene Kampfansage in seiner Frage versteckte.
„Demnach hast du beschlossen, hier und jetzt die Zeit des Hauptmanns Doggâr zu beenden, Uwlad, Erster Gardist des Grafen zu Fellsane?“
Aus den Augen seines Untergebenen traf ihn die Kälte, die seine Dolchklinge versprach.
„Beschlossen schon vor einigen Tagen, denn deinem Tun muss ein für allemal Einhalt geboten werden.“
Abwartend beobachtete er, dass Uwlad einen festen Stand suchte und fand.
„Verkündet gerade, denn du sollst wissen, was ich von dir halte und dass ich es bin, der deinem Kommando ein Ende setzt.“
Beobachtete, dass der Erste Gardist in der Vorbereitung zum Angriff ein wenig in die Knie ging, ohne die Anspannung in seinen Gesichtszügen erscheinen zu lassen.
'Ein wunderbarer Soldat und Kämpfer!'
Erfreut erkannte Doggâr in einer sarkastischen Facette seines Geistes die eigenen Schulungen im Tun des Gardisten.
„Und die Durchführung erfolgt jetzt.“
Damit sprang Uwlad in einem einzigen Satz die wenigen trennenden Schritte auf ihn zu. Während seine Augen dem Sprung des Gardisten folgten, riss sein linker Arm Calla aus der Bedrohung durch Uwlads und seiner eigenen Klinge. Die junge Frau weiterhin festhaltend, erwartete er den Angriff des anderen, stemmte er seine Beine fest auf den steinigen Grund. Er hielt seinen rechten Arm leicht erhoben. Auch sein Dolch blitzte im Morgenlicht leicht auf, wippte in der geschulten Soldatenhand und spiegelte das angespannte Warten wider. Dolchbewehrte Hand wartete, der ersten Attacke begegnen zu können.
Plötzlich zerriss ein brennender Schmerz all seine Gedanken, all seine tausendfach einstudierten Handlungsabfolgen. Sengende Hitze dehnte sich aus seiner Seite mit der Schnelligkeit eines Lidschlages über seinen gesamten Leib aus, brannte sich in ihm fort, verbrannte ihn. Unfähig, der Klinge Uwlads auszuweichen, unfähig, den Stoß abzuwehren, drang auch dessen Eisen, ebenso wie das des Messers Callas, tief in seinen Leib.
Die Überraschung raubte ihm die Achtsamkeit, der Schmerz die Erfahrung. Der harte Aufprall Uwlads nahm ihm den sicheren Stand. Schmerzgepeinigt taumelte er einige Schritte zurück, entließ zwei gehaltene Klingen aus seinem Leib, öffnete zwei stark blutende Wunden. Gemeinsam mit der rotlodernden Flamme des Schmerzes tanzte eine nagende Verzweiflung an seinem Selbst. Wenn dies das Ende sein sollte, hätte er das Ziel seines Lebens nicht erreicht!
Unaufhaltsam drangen Tränen in ihm auf. Er hatte versagt.
Er hatte der hehren Erwartungen, die er sich selber auferlegt hatte, nicht gerecht werden können.
'Du hast vor dem Höchsten und vor dir selber versagt, enttäuscht!'
Strauchelnd suchte er Halt. Unter seinen suchenden Stiefeln kullerten die ersten Steinchen in den Abgrund. Bevor sein Blick im Sturz nur noch das lichte Blau eines beginnenden Tages aufnehmen konnte, erkannte er im Tränen behinderten Blick den entsetzen Gesichtsausdruck einer jungen Küchenhilfe.

- LXV -
„Ich habe einen Menschen getötet. Ich habe einen Menschen getötet. Ich habe …“
Ohne das Messer wahrzunehmen, starrte sie auf die blutige Klinge, folgte ihr Blick dem Blut, das sich an der Spitze sammelte und als einzelne Tropfen zu Boden fiel. Immer noch hallte das scharfe Geräusch zerreißenden Stoffes in ihrem Ohr, spürte sie in ihrer Hand den Widerstand von Haut gegen die Schärfe einer Klinge. Hart hatte das einfahrende Eisen eine Umkehr erfahren, als die Spitze an den Rippen entlang glitt. Entsetzt über ihr Tun hatte sie die Klinge aus dem Leib Doggârs zurückziehen wollen, doch sein taumelnder Schritt zurück hatte ihr ohne Dazutun die Klinge übereignet. Damit hatte der Hauptmann dem Blut eine Schleuse geöffnet. Warm, klebrig und nach Kupfer und Leben riechend, war sein Lebenssaft über ihre Hand geronnen, ließ sie neuerlich zusammenfahren.
„Ich habe einen Menschen getötet.“
Selbst die warme Umarmung Uwlads, seine tröstenden Worte, ihr leise, eindringlich zugeflüstert, konnten die Nebel der Unfassbarkeit nicht heben. Verhaltene Rufe, ihren Namen tragend, drangen aus noch tiefen Regionen der Unwirklichkeit in ihren Geist. Erst die Nähe Andras’, der sie schützend in beide Arme schloss und liebevolle Worte in ihr Ohr flüsterte, erreichte die kleine Flamme in ihrem Inneren.
„Ich habe einen Menschen getötet.“
Das Entsetzen wollte sich in einem lauten Schrei aus ihrem viel zu engen Körper entlassen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich der Begebenheiten und schluckte den Klageton.Wie aus weiter Ferne vernahm sie Uwlads Stimme, der Andras und Baldur, die sich tatsächlich Sorgen gemacht hatten ob des langen Fortbleibens Callas, in Kenntnis setzte über das gerade Geschehene.
„Lasst uns in die Höhle gehen und dort alles besprechen. Ich fühle mich hier wie auf einem Aufwartteller.“
Calla spürte den Druck von Andras’ Hand auf ihrem Rücken, der sie von der Felskante, über die Doggâr gestürzt war, in Richtung Quelle schob.
„Er ist nicht tief gefallen. Vielleicht zwei Mannslängen unterhalb der Kante hat ihn ein Felsvorsprung aufgefangen.“
Die Worte Baldurs, der sich offensichtlich vorgeneigt hatte, den Körper des Verunglückten zu suchen, ließen einen Schauer des Schreckens über ihren Leib ziehen. Sie sehnte die Quelle herbei, ihre besudelte Hand reinigen zu können, sehnte Halt und Nähe herbei. Dankbar schmiegte sie sich an Andras, der sie immer noch im Arm hielt.
„Bis zum Abend werden ihn die Reldocadler entdeckt und zum Festmahl gerufen haben.“
Uwlads Äußerung, frei von Hass oder Wut eine Tatsache darstellend, regte Übelkeit in ihr. Ihr Innerstes verkrampfte sich schmerzhaft, Leere ließ keine Entspannung entstehen. Wie ein Schattenwesen erlebte Calla sich in der kommenden Zeit, die sie in der Höhle am Feuer saß, das nicht wärmte. In der sie an einem Becher kräftigen Kräutersuds nippte, dessen Wärme sie nicht erreichte. Nur die Nähe der drei Menschen zeigte ihr, dass nicht sie abgestürzt und sterbend den Wildvögeln zum Fraß überantwortet worden war. Nur die Stimmen der drei Menschen, die sich gegenseitig die Vorkommnisse der letzten Tage berichteten, erreichten, dass ihr Geist sich nicht endgültig in jene dunklen Verliese zurückzog, in denen sie ihre Erinnerungen über Jahre eingesperrt hatte. Mit einem Mal gewahr sie Ruhe in der Höhle. Die Männer schwiegen, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. An den angespannten Gesichtszügen Andras’ erkannte sie, dass er in Kontakt zu Phroner stand. Sicherlich berichtete er dem Vater und damit den anderen der Gruppe von den Vorfällen des frühen Morgens.

In den endlos erscheinenden Gängen der Felsenstadt Gnarphat hatte Melân bereits nach wenigen Schritten die Orientierung verloren. Sie spürte lediglich an den Schmerzen in ihren Beinen, dass sie sich neben oder hinter Tania gehend immer höher in die Welt des Reldocs begaben. Verärgert gestand sie sich bei einer längeren Rast ein, dass sie ihre körperlichen Kräfte nach dem Fieber und dem Überfall durch Doggâr falsch eingeschätzt hatte. Sie war kaum mehr in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen, dabei dürfte draußen die Sonne erst gerade den Zenit erreicht haben. Neben den körperlichen Strapazen spürte sie, wie die Felsen ihre Gemütsverfassung angriffen. Die Starre und Schwere des Gesteins nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie vermeinte gar, das Gewicht des Gebirges auf ihrer Brust zu verspüren. Die Enge der Gänge drückte spürbar wie eine zu eng geschlagene Decke, verwehrte ebenfalls das Atmen, beengte Denken und Fühlen. Jede Faser ihres Seins schrie nach Freiheit, nach dem Wind der Steppe, nach dem freien Blick, den sie in Auxell genoss und sehnlichst benötigte, sich als denkendes und fühlendes Wesen wahrzunehmen. Ihre Seele schrie danach, diese Welt der Gänge, Stollen und Höhlen schnellstens hinter sich zu lassen. Ihr Körper wollte der Seele geben, wonach sie verlangte, doch fühlte er sich dazu außer Stande. Und zwischen diesen Mühlsteinen zerrieb sich eine junge Steppenreiterin an der Seite einer besorgten Dwelg.

'Doggâr tot, niedergestreckt durch einen Gardisten und Calla während eines Überfalls bei Kredân!'
Radh versuchte, seit die Nachricht ihn erreicht hatte, die Tragweite zu erfassen. Neben dem alten Mann, den er aus einer gewissen Entfernung betrachten konnte, war mit dem Tod Doggârs der zweite diesem Kampf, seinem Kampf, zum Opfer gefallen. Hatte er tatsächlich gemeint, diesen Weg des Widerstandes und der Umwälzung ohne Opfer, ohne Tote gehen zu können?
Seine Gedanken drehten sich im Kreis, immer und immer wieder, erreichten die Markierung an der bleckenden Pechfackel und begannen einen neuerlichen Rundlauf.
'Einhundertundachtzig Schritte!'
Selbst die eine gewisse Heiterkeit hinterlassene Erwiderung Kelriks, mit der Tat des Gardisten seiner persönlichen Rache beraubt worden zu sein, reichte nicht, den Barden von seinem gedanklichen Einerlei abzulenken.
So in Gedanken vertieft trottete Radh mehr vor sich her als dass er bewusst einen Fuß vor den anderen setze und seiner Umgebung die vielleicht notwendige Aufmerksamkeit schenkte. Erst während einer kleinen Rast nahm er sich den Freiraum, seinen Blick über die Felsabfolge des Reldoc von dieser Seite her gleiten zu lassen. Wieder beschlich ihn das nicht fassbare Gefühl, dies alles bereits einmal gesehen zu haben.
'Du warst schließlich bereits kurz nach der Flucht aus der Mühlenanlage im Reldoc.'
Dieser Gedanke, immer wieder bestrebt, die aufkommende innere Unruhe zu besänftigen, erreichte nicht ein einziges Mal sein Ziel. Nein, etwas anderes nährte dieses seltsame Gefühl des Wiedererkennens und er wusste, die Antwort würde ihn finden. In einem unerwarteten Augenblick würde sie ihm zuwinken.

Immer wieder glitt im Laufe des Tages, im Laufe der Wanderung durch die engen Stollen Gnarphats, der Blick der Dwelg über das Gesicht der Begleiterin. Tania erkannte nicht nur in den Zügen der Auxell, dass Melân am Ende ihrer Kräfte angelangt war. Der Atem der anderen ging stoßweise, immer wieder strauchelte sie, so dass Tania stützend eingreifen musste. Sie vermutete, dass auf der anderen Seite des sie umarmenden Gesteins die Sonne gerade erst Anstalten machte, untergehen zu wollen. Bis zum Abend hätten sie noch einiges an Zeit. Doch konnte und wollte sie die junge Frau an ihrer Seite sich nicht über ihre Möglichkeiten mühen lassen. Sie hätten keinen Gewinn damit erzielen können. Leicht legte sie ihre Hand auf den Arm Melâns, hielt sie so in ihrem steten Trott des Gehens an.
„Lass uns hier länger verweilen. Ziehen wir die Nacht vor.“
Lächelnd zuckte Tania mit den Schultern.
„Ist doch egal. Sobald wir die Fackel löschen wird es für uns Nacht sein.“
Stahl sich gerade ein dankbares Lächeln ganz zaghaft in die Züge der Auxell?

Sie hätten längst wieder auf dem Weg sein müssen!
Der Gedanke schleuderte Andras von einer Wand der kleinen Höhle zur anderen. Die Ereignisse des frühen Morgens, der Überfall auf Calla, das Erscheinen Uwlads, der Tod Doggârs waren mit keiner Idee geplant gewesen. Geplant hatten sie, nach einem Frühmahl leise an Kredân vorbei zu ziehen, solange die Bewohner noch schliefen oder ihren frühmorgendlichen Geschäften nachgingen. Dieser Zeitpunkt, als auch die erhoffte Heimlichkeit waren mit dem Auftauchen der gräfschen Gardisten gemeinsam mit Doggâr in die Tiefen der Schlucht gestürzt.
Mit einem stummen Stöhnen schaute er in das Gesicht der jungen Frau an seiner Seite. Nein, es war Recht getan, Calla die Ruhe in der Höhle nach dem Überfall zu gewähren. Still saß sie am Feuer, aber das Schütteln, das immer wieder ihren Körper heimsuchte, zeigte Andras, dass sie keine Wärme durch die Flammen erhielt. Ihre Augen huschten wie getrieben von einem Winkel zum anderen, schienen aber nichts wirklich wahrzunehmen. Liebevoll und ein wenig Trost spendend legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel. Doch auch auf diese Geste reagierte die geliebte Frau nicht.
Der eisige Kristall der Verzweiflung bohrte sich in sein Herz. Sein Blick glitt über den jungen Gardisten, der sich nach dem Überfall gegen seinen Hauptmann ihnen angeschlossen hatte. Auch für jenen war die Entscheidung richtig, länger in der Höhle zu verweilen und ihm das notwendige Wissen angedeihen zu lassen. Zufrieden nickte Andras leise. Einen geschulten Kämpfer in den Reihen der Rebellen zu wissen, konnte das Verkehrteste nicht sein.
Schweigen dehnte sich in der Höhle aus. Was gesagt, berichtet werden musste, hatte die Lippen der einen verlassen und die Ohren der anderen erreicht.
Wenig später hob er behutsam die schweren Ranken, die den Höhleneingang verbargen, und wurde von einem eisigen Wind zurück in den Schutz des Felsens geweht. Mit bebenden Schultern erinnerte er sich der Worte Hodurs, dass gerade nach dem Sonnenfest das Wetter im Reldoc einige sehr wilde Tänze darbieten würde.
Wortlos wandte er sich an die Freunde in seinem Rücken, schaute in ihren Gesichtern nach einer Antwort. Indem Calla unter seinem ausgestreckten Arm hindurch tauchte und in den Eissturm trat, teilte sie ihm und den anderen ihre Meinung mit.
 
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Kommentare  

Vielen Dank für eure Rückmeldungen.
Ja, Doggâr ist schon eine Nummer für sich :)


Shannon O'Hara (17.12.2012)

Wie kannst du nur, diesen geheimnisvollen Mann sterben lassen? Der sollte uns doch alles verraten, Mensch! Ungewöhnliche und überraschende Idee, gerade den, über welchen der Leser sich am allermeisten den Kopf zerkeilt hat, dahinscheiden zu lassen. Aber du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben, du behältst die Eisen im Feuer. Kleine Anmerkung: Irgenwie bin ich skeptisch ob ein derart raffinierter Soldat, wie es Hauptmann Doggar nach deinen Darstellungen gewesen ist, so leicht in eine Falle laufen könnte, denn immerhin denkt er sich ja schon die ganze Zeit, dass besonders Uwlad hinter ihm her sein könnte. Aber wir werden ja sehen. Ansonsten ist dies hier ein ganz besonders schönes Kapitel, das einen von Anfang an fesselt.

Marco Polo (17.12.2012)

Schade, eigentlich war Doggar mein heimlicher Held, der irgendetwas (Gutes) geplant, schon lange vorbereitet hatte und nun doch an seinen eigenen schauspielerischen Leistungen gescheitert ist. Er hätte eben mehr mit offenen Karten spielen sollen oder doch nicht? War alles richtig, was er getan hatte? Komischerweise bin ich im Zweifel ob er wirklich tot ist. Vielleicht ist er ja in Wahrheit einer der Priester, ein Abtrünniger womöglich? Aber als Mensch ist er wohl dahin. Spannend und immer noch sehr mysteriös das Ganze. Ich mag deine Art wie du schreibst sehr.

Else08 (16.12.2012)

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