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Unsichtbar/Kapitel 5/Der Penner träumt von der Weißen Frau, den Zauberweibern und dem Mörder Hayder

Romane/Serien · Schauriges · Experimentelles
© rosmarin
Kapitel 5

Der Penner träumt von der Weißen Frau, den Zauberweibern und dem Mörder Hayder

Die Frau starrt noch immer auf die Fotokinder der Jill Greenberg. Die Kleinen. Weinenden. Misshandelten. Der Schmerz rührt Lollo. Sie weint auch. Setzt sich auf den Brunnenrand. Neben den Penner. Der schläft.
Lollo weint.
„Schuld und Sühne.“

Der Penner schläft. Schäft seinen Drogenrausch. Träumt von der Schönheit des Brunnens. Den Hunderttausend kleinen Sonnenbällchen. Taucht seine Finger ins klare Wasser, schnippt die winzigen Wellen, wäscht sein scheißschweißverschmiertes Scheißgesicht in dem klaren Wasser. Seine Scheißklamotten schaukeln wie dunkle Boote. Auf den Sonnenwellen. Im klaren Wasser.
„Scheiß.“
Der Penner pennt. Der Penner spricht im Traum. Der Penner träumt.
„Scheiß.“
Der Penner träumt von den Zauberweibern.
„Scheiß.“
Die konnten Eis, Schnee, Hagel machen. Einfach so. Die Früchte am Baume verfaulen lassen. Oh, Mann. Scheiß.

- Zeig mir die Frucht, die fault, eh man sie bricht. Und ich werd' im Augenblicke sagen- verweile doch du bist so schön. -

Der Penner verweilt. Lacht. Weint. Er, der Penner, war nicht immer der Penner. Ein Studierter war er. Ein angesehener Mann. Ein Dichter. Ein Philosoph. Seiner Zeit weit voraus. Scheißgesellschaft. Frisst sich selbst auf.

- Naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? -

Der Penner träumt.
Es war im Jahre 1553. Irgendwo hier in Berlin. Da lebten zwei arge Zauberinnen. Die stahlen der Nachbarin ein Kind. Ein Kleines. Fast noch ein Baby. Töteten es. Zerstückelten es. Kochten es. In ihrem Hexenkessel. Verflucht. Verflucht.
Die Mutter suchte ihr Kind. Besuchte die Nachbarin. Warf einen Blick in den Hexenkessel. Zufällig. Und was sah sie dort?
Gliederlein.
Kindergliederlein.
Die schwammen in der Brühe. Der Hexenbrühe. KindesGliederlein. Die Mutter entwich. Entsetzt. Schweigend. Zeigte die Untat an dem Rate. Der sandte alsbald seine Männer. Die ergriffen die Weiber. Die Hexenweiber. Befragten sie.
„Welche Absicht verfolgtet ihr mit dem Geköch?“
„Ein Unwetter wollten wir brauen“, kreischten die Weiber. Die Hexenweiber. „Einen Frost.“
„Und alle zukünftige Blüte sollte verderben“, kicherte die eine Hexe.
„Die Frucht auch“, heulte die andere.
„Euch soll nach Verdienst gelohnet werden.“
Die Schergen ergriffen die Weiber. Die Hexenweiber. Packten sie an den Haaren. Schleiften sie zum Tore hinaus. Mit glühenden Zangen wurden sie gezwickt. Mussten sich ihren Scheiterhaufen selbst schichten. Riesig hoch. Draußen. Auf dem Anger. Lebendigen Leibes wurden sie dann verbrannt. Und als nur noch Asche übrig war, stiegen zwei schwarze Gestalten daraus empor, hoch in den Himmel hinein. Und in der Luft ertönte ein Kichern. Lachen. Rumsen.
„Wir kommen wieder!“, schallte es grausig durch die Lüfte. Und ein unheimliches Lachen erfüllte Himmel und Erde.

„Feuer! Feuer!“ Der Penner schreckt erschreckt auf. „Feuer!“
„Penn weiter.“ Lollo nimmt die schmutzige Hand des Penners in ihre zarte, weiche.
„Bist du das Zauberweib?“ Der Penner starrt Lollo an. „Her mit den Gliederchen“, schreit er. „Verdammtes Hexenweib.“
Lollo starrt den Penner an.
„Penn weiter. Depp. Du.“
Lollo stöckelt beleidigt Richtung Kaufhof.
Ich stoße den Penner auf den Brunnenrand.
„Feuer! Feuer!“, heult der Penner.
Niemand rührt sich.

Lisa strömt aus dem Kaufhof. Zusammen mit Lollo. In einem schwarzen Kostüm. Hackenschuhen. Handtasche. Sehr elegant. Ohne rosa Neglige.
Türsteher und Detektiv nicken ihr zu. Charmant. Zuvorkommend.
„Besuchen Sie uns bald wieder.“

*

Lisa und Lollo setzen sich auf den Brunnenrand. Starren zu der Frau. Den weinenden Kindern. Dem Penner.
„Der hat se nich alle.“ Lollo tipptsich an die Stirn. „Der ist hin. Hinüber. Lebendig tot. Zombie.“
„Mein Freund hat sich totgefickt.“ Über Lisas Gesicht laufen die Tränen. Sie öffnet ihre neue Tasche. „Hier. Zieh das über.“
„Danke.“ Lollo zieht das schwarze Kleid an. „Trägst du nur Schwarz?“, fragt sie Lisa.
„Nur bei Trauer.“
„Wo ist er. Der, der … Totgefickte?“
„Der Tot - Gefickte?“
„Ja. Der.“
„In der Wohnung.“
„Ich habe Jan umgebracht. Erstochen. Mit dem Steakmesser.“
„Bist du verrückt?“
„Der hat mich von vier Kerlen ficken lassen. Bei so einem Mittelalterspiel. Und gefilmt.“
„Schweine. Das.“
„Hab überall blaue Flecken.“
Lollo zeigt Lisa die Flecken an den Armen. Den Beinen.
„Hier, schau mal. Da auch. Möchte meine Möse nicht von innen sehen.“
„Möse?“
„Haben die gesagt. Schweinekerle.“
„Schweine. Monster. Und nun?“
„Wir müssen hier weg. Die suchen uns.“ Lollo steht auf. „Untertauchen.“

Lisa und Lollo tauchen unter. Strömen mit den Menschen. Polizeisirenen tönen den Platz. Die Menschenmenge macht Platz.

„He. Du.“ Der Polizist rüttelt den Penner an der Schulter. „Hast du eine Verrückte gesehen?“
„Selber verrückt. Scheiß.“ Der Penner spuckt dem Bullen vor die Füße. „Feuer!“
Der Bulle zerrt den Penner an den Haaren. Den langen. Schmutzigen.
„He. Alter. Penne nicht. Die saß doch vorhin neben dir. Los. Raus damit. Oder wir nehmen dich mit aufs Revier.“
Der Penner steht auf. Torkelt. Fällt dem Bullen an die Brust. Lallt:
„Ick komme mit. Freiweillig.“
„Lass den Arsch. Der is breet.“ Der andere Bulle nickt dem Bullen zu. „Weiter. Der weeß nischte.“
Die Bullen laufen in Richtung Kaufhof.
Der Penner knallt auf den Brunnenrand.
„Feuer!“

*

Falsche Fährte. Ich lache schadenfroh. Setze mich zu dem Penner. Auf den Brunnenrand. Streiche ihm die Haare aus dem Gesicht. Die verfilzten. Schmutzigen. Langen.
Der Penner träumt weiter. Lächelt. Träumt. Träumt von der weißen Frau im Schloss. Der Gräfin von Orlamünde. Auf der Plassenburg saß sie.
Entbrannte einst in heißer Liebe zu Albrecht, dem Schönen. Burggraf von Nürnberg seines Zeichens. Aus dem Hause der Hohenzollern. Verwitwet war sie. Die Gräfin Orlamünde. Hatte zwei Kinder. Einen Knaben und ein Mädchen.
Albrecht, der Schöne, entbrannte auch. Wollte sie heiraten. Hätte er auch. Wenn da nur nicht die Augen gewesen wären. Die vier Augen. Die vier Kinderaugen.
„Bring die Kinder um“, hatte die Gräfin Orlamünde zu Hayder, dem Dienstmann, gesagt. „Ich werde dich reich beschenken.“
Da ging der Hayder, die Tat zu vollführen. Hörte nicht auf das Flehen der unschuldigen Kinder.

„Lieber Hayder, lass mich leben
Ich will Dir Orlamünden geben
Auch Plassenburg des neuen
Es soll Dich nicht gereuen.“
Sprach der Junge.

„Lieber Hayder lass mich leben
Ich will Dir alle meine Docken (Puppen) geben!“
Sprach die Tochter.

Den Hayder, dem Mörder, rührte es nicht. Er vollbrachte die Tat. Die schreckliche. Und noch viele andere mehr. Gerichtet lag er eines Tages auf der Folterbank. Bereute die Tat. Dachte an die Worte. Die Worte der unschuldigen Kinder. Doch es war zu spät. Der Tod war wohlverdient.

„Lieber Hayder lass mich leben
Ich will Dir Orlamünden geben
Auch Plassenburg des neuen
Es soll Dich nicht gereuen.“
Sprach der Junge.

„Lieber Hayder lass mich leben
Ich will Dir alle meine Docken (Puppen) geben!“
Sprach die Tochter.

„Scheiße!“ Der Penner springt auf. „Scheiße! Die Schlampe hat ihre Kinder selbst getötet! Hat Nadeln in die zarten Hirnschalen gesteckt! Scheiße!“
Ich streichle den Arm des Penners. Lege seinen Kopf an meine Schulter.

„Die vier Augen waren die Augen seiner Eltern“, murmele ich. „Die Gräfin konnte nie mehr Ruhe finden. Ihr Gewissen marterte sie tödlich. In Schuhe, die außen und innen mit Nägeln bestückt waren, wanderte sie die anderthalb Meilen von Plassenburg nach Himmelskron. Als Sühne sozusagen. Im Portal der Kirche angekommen, fiel sie tot nieder. Doch ihr Geist sollte von nun an im Schloss umhergehen. Immer auf der Suche nach ihren ermordeten Kindern.“

Der Penner schluchzt.
„Und der Burggraf hat die Gräfin nicht geheiratet.“ Der Penner lacht kreischend. „Dieses Miststück!“
„Ruhig, ruhig.“ Ich spreche leise weiter. „Die Gräfin muss ihre Schuld sühnen.“
„Das muss sie.“ Der Penner wackelt zufrieden mit dem Kopf.
„ Als weiße Frau umgehen.“
„Nein! Nein!“ Der Penner fuchtelt wild mit den Armen. Stößt mich zur Seite. „Nein! Im Jahre 1709 beim Schlossbau“, schreit er, „fand man in der Mauer ein weibliches Skelett. Die weiße Frau. Auf dem Domkirchhof wurde sie begraben. Aber sie kam wieder. Sie kommt immer wieder. Sie ist noch da! Ich habe sie gesehen! Ein Unglück geschieht. Ein Unglück geschieht.“
Der Penner sackt zusammen.
„Ein Unglück.“
„Nichts geschieht“, versuche ich ihn zu beruhigen.
Der Penner kuschelt sich an mich, flüstert:
„Ich habe Angst.“
Sieht er mich? Hört er mich? Ist er der Einzige, der mich wahrnimmt?
„Brauchst du nicht“, sage ich, „Im Jahre 1713 ist sie zum letzten Mal aufgetaucht.“
„Wer?“
„Die weiße Frau.“
„Die weiße Frau?“
„Ja. Die. Beim Tode König Friedrichs I.. Friedrich der II. hat dann mit ihr kurzen Prozess gemacht. Die Wache fasste das Gespenst und nahm es öffentlich in die Fiedel.“ (stellte sie an den Pranger)
„Es nutzte nichts“, flüstert der Penner. „Sie tauchte immer wieder auf. Sie hatte noch nicht genug gebüßt. Sie tauchte immer wieder auf. Sie kündete die Tode an. Die Tode der Hohenzollern. Die Tode der Fürsten.“

Hach. Die gibt es ja nicht mehr. Und das Schloss zu Berlin auch nicht. Soll aber wieder aufgebaut werden. Dort, wo jetzt der Palast steht. Verrottet. Verkommen. Verschmäht. Und doch einst so geliebt. Das Lampengeschäft. An der Spree. Das Volk ist schon vor ihm untergegangen. Und neu auferstanden. In einer überholten, unmoralischen Form. Hoch lebe der neue Geist! Der Genius. Hoch.
Der Genius Geld. Macht. Sex.

„Scheiße.“
„Ruhig.“ Ich fahre dem Penner mit der Hand über sein Scheißgesicht. „Ruhig. Die weiße Frau ist tot. Ist Legende. Sage.“
„Sie ist da.“ Der Penner flüstert. Die Augen aufgerissen. „Sie geht um im Schloss. Als unheimlicher Rachegeist. In einem langen, weißen Gewand. Mit gleicher Haube. Den langen Witwenschleier hinten zurückgeschlagen. Des Nachts wandelt sie durch die Gänge. Türen springen auf. Türen fallen zu. Schlüssel rasseln. Überall ist ein großer Lärm. Ein unheimlicher Lärm. Ein Kommen. Ein Gehen. Alle Gemächer erstrahlen im hellsten Glanz. Bereit zum Empfang der Gäste. Doch am nächsten Morgen ist alles an seinem Platz. Keine Menschenhand hatte je daran gerührt.“
Der Penner springt auf. Fuchtelt wieder wild mit den Armen. Schreit plötzlich:
„Ich sehe sie! Ich sehe sie! Sie trägt schwarze Handschuhe! Es passiert ein Unglück!“
Der Penner drückt seinen Kopf an meine Brust. Flüstert kaum hörbar:
„Sie hat immer schwarze Handschuhe getragen, bevor ein Unglück geschah.“
„Ruhig“, sage ich, „ruhig. Alles ist gut.“
„Miststück“, murmelt der Penner, „Miststück.“

Der Mann in Weiß beugt sich über mich. Mit Augen, die lächeln. Mit weißen Augen. Alles ist weiß. Blendend weiß. Verschwunden das Dunkel. Der Mann ist ein Engel. Kein Müllmannengel. Ein Himmelsengel. Er hat die Flügel eingezogen, streift mir das weiße Hemd vom Körper, wäscht mich zärtlich. Es ist angenehm. Seine Hände sind weich und warm. Der Engel lächelt mit weißen Augen. Dann verschwindet er. Mit ihm das Lächeln. Das blendende Weiß. Ich bin allein.



***


Fortsetzung folgt
 
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