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4 Seiten

Sepiafarbenes Erwachen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Waldkind
Sepiafarbenes Erwachen.


Waldmorgen, endlich einmal wieder.
Ich stelle mein Auto ab.
Lange bin ich nicht mehr hier gewesen, ich lebe heute in der Stadt.
Stress, Hektik und das blinde stürmen durch belebte Straßenzüge bestimmen meinen Alltag, ich bin rastlos.
Ständig renne ich irgendwelchen Terminen hinterher und frage mich, wo der Sinn steckt.
Welcher Sinn?
Ganze einfach, der Sinn des Lebens.
Ich renne ihm hinterher, doch er, er versteckt sich ständig in der nächsten Kneipe um die Ecke.
Zuviel Bier, zuviel Wein, zu viele Zigaretten.
Morgens schütte ich mir dann zuviel Koffein in die Birne um die zu lange Nacht aus meinem zu beschäftigten Tag zu vertreiben.
Zuviel Arbeit. Zuviel Neid. Zuviel Krieg.
Jetzt habe ich einen Burn Out.
Alles war zuviel.
Ich habe also Zeit.
Viel Zeit, und zu wenig zu tun.
Das erste Mal seit Jahren zu wenig.

Es müssen etwa sieben Jahre her sein, dass ich hier war.
Warum ich heute hier bin, ich weiß es nicht.
Langsam ziehe ich den Schlüssel aus dem Schloss und lehne mich zurück. Ich werde keine Luft bekommen denn gelaufen bin ich ewig nicht mehr.

Bedächtig, so als könnte der Schotterboden mir von unten lange Klingen durch den Schuh stoßen und wenn ich es gleich spüre kann ich den Fuß zurück ins sichere Auto ziehen setze ich langsam den ersten Fuß nach draußen.
Es tut nicht weh.
Der zweite klappt auch.
Einfach so.
Nun wuchte ich meinen steifen Rücken aus dem Coupe´.
So ein Auto ist für hier schlecht geeignet und dummerweise nur meinem zu großen Wunsch nach Annerkennung und stummer Erfurcht geschuldet, nicht meiner körperlichen Belange.
Aber egal, ich krampfe zwar noch die Finger in den Türrahmen fest aber ich stehe in der
Natur.

Und nachdem ich meine Suchtlungen mit etwas Sauerstoff gefüllt habe,
werde ich ihr gewahr.
Und zwar so sehr, dass es mich zu Tränen rührt.
Raben höre ich krächzen und ein golden gefärbtes Blätterdach raschelt über meinem schon von Silberfäden und einer kahlen Stelle gezeichnetem Haupt.
Warum habe ich das in all den Jahren nicht gemacht?
Ich habe es immer geliebt früher, habe mich im Wald mit neuer Energie gefüllt, bin Rad gefahren und habe gejoggt.
Verdammt, ich war echt fit damals.
Und ich habe nicht nur die Natur geliebt, sondern auch mich.
Ich war schon ein toller Hecht damals, und so herrlich selbstzufrieden.
Ja gut, irgendwann habe ich mich verloren.
Die Wurzeln waren weg.
Ausgerissen im Stress und verkümmert bei jedem missglücktem Versuch ständig der hübschesten meiner Mitarbeiterinnen hinterher zu hechten.
Ich hatte über all den Äußerlichkeiten das Herz vergessen.

Schritt.
Atmen.
Schritt.
Atmen.
Noch ein Schritt.

Komischerweise bin ich mir hier der Suchtlunge nicht bewusst.
Na ja, Gunther Hagens Körperwelten hatte ich vor langer Zeit einmal besucht und dort waren mir sofort die silbrig glänzenden und in flüssiges Kunstharz getauchten Lungen eines woran auch immer verstorbenen Rauchers aufgefallen.
Zuerst bin ich fürchterlich erschrocken und dachte schon angewiedert daran, das Rauchen sofort aufzugeben um meiner Nachwelt keinen teergefüllten Leichnam zu hinterlassen, doch zwei Gänge weiter las ich auf einem Schild, dass die Lungen sich nach einer gewissen Zeit ohne blauen Dunst wieder vollständig regeneriern würden und so rauchte ich gleich nach dem Verlassen der Ausstellung zwei Zigaretten innerhalb von fünf Minuten und habe nie wirklich den Versuch unternommen, aufzuhören.

Die Bäume rücken mit jedem Schritt näher an den Weg heran und ich komme mir alleine vor. Es ist ruhig und der Wind kitzelt mein Gesicht.
Berührungen hatte ich schon lange nicht mehr auf meiner immer mehr an Spannkraft verlierenden Haut fühlen dürfen und so genoss ich die leckenden Zungen des Windes.

Erste Aufgabe fürs Leben nach BO: Freundin finden, die mich anfasst.

Der Weg zieht sich vor mir in die Länge und ich, ich weiß schon genau wo ich heute hinlaufen werde sofern mich meine Füße soweit tragen.
Lustigerweise läuft es, das laufen und so werde ich sie heute auch erreichen.
Dort kann ich Rast machen.
Tief im Wald an einem alten Grasweg liegt sie.
Die Passion meiner Kindheit.
Försters Hütte, mit Jägerzaun außenherum, verschlossenen Fensterläden und schweres Vorhängeschloss an der Türe. Auf dem Außengelände unzählige Methoden zum Verstecken, Krieg spielen, Granaten aus Holz werfen, in Deckung springen und was so acht jährigen Jungs sonst noch so einfällt.
Försters Hütte.
Wie direkt aus der Nachkriegszeit imporitert und in Sepiaeffekt.
Sepiaeffekt?
Ja. Alle meine Kindheitserinnerungen sehe ich so, Sepiaeffekt,
bearbeiten sie doch mal ein Bild auf ihrem neuen Hightechsmartphone damit,
und sie werden mit meinen Abenteuern aus der Vergangenheit verwebt.

Zweite Aufgabe fürs Leben nach BO: Farbe in die Erinnerungen pinseln.

Die Hütte.
Ihr Dach sehe ich schon von weitem.
Es hebt sich kalt blechern vom umgebenden warmen, lebendigen Wald ab.
Ich bin ergriffen.
Sie ist farbig, nicht in Sepiaschleier getaucht.
Nie konnte ich als Kind hineinblicken, kein Stück ihres Innenraumes kennenlernen.
Der Raum in ihrem Inneren war das bestgehütetste Geheimnis direkt nach den Schlafzimmern unserer Eltern gewesen. Er war tabu. Wenn der Förster uns gelegentlich erwischte, setzte es Gürtelschläge auf blanke Hintern.
Es hinderte uns nicht. Wir waren tapfere Indianer gewesen.


Dritte Aufgabe fürs Leben nach BO: Karl May Filme schauen. In Farbe und mit Freundin von Aufgabe 1.


Sie sieht kleiner aus als damals.
Ich bin vielleicht auch nur gewachsen.
Sicher sogar. Das habe ich gelernt auf einem der vielen Seminare,
der Blickwinkel ändert sich und die Erinnerung lässt alles verherrlicht erstrahlen.
Erinnerung verherrlicht und macht Gegenstände groß.
Ob ich die Hütte nun entzaubern werde?
Langsam gehe ich um die Hütte herum in Richtung Tür.


Dunkel hebt sich der vorgezogene Giebel über meinem Haupt von der Fassade ab, es ist, wie ein Schattenspeicher, dem ein extremes Gewicht innewohnt, so schwer über dem Rest des Gebäudes.
Dunkel zeichnet sich ein Loch inmitten der Glasscheibe direkt neben der Türe ab.
Der Fensterschlag liegt auf dem Boden.
Das lange, rostige Metallscharnier hängt verbogen herunter und klappert wie in einem klischeehaften Wildwestfilm.
(Karl May schauen, Freundin haben, Farbe wachsen lassen. Ich werde ihr einen roten Lippenstift kaufen, und Rosen gelbe, rote, weiße, alle die ich finden kann)
Das dunkle Loch in der Scheibe zieht mich wie magisch an.
Keine Macht der Welt könnte mich jetzt fernhalten.
Diese geheimnisumwitterte Trutzburg inmitten des Waldes hat einen verdammt großen Riss in der Festungsmauer.

Verwitterte Stufen steige ich bedächtig hinauf, vor meinem inneren Auge fest das Bild eines sepiafarbenen Jungen, der mit heruntergelassener Hose über dem Schoß des Försters liegt, und mit dem schweren braunen Ledergürtel verdroschen wird. Damals hatte ich mir geschworen, mich nicht brechen zu lassen. Der Förster hatte es nie geschafft, die Erwachsenenwelt hingegen schon.


Vierte Aufgabe fürs Leben nach BO: Einen alten braunen Ledergürtel auf dem Flohmarkt finden und zusammen mit meiner Freundin, die ein Kleid trägt, auf dem unzählige Rosen in allen Farben gedruckt sind verbrennen.Sie sieht hübsch aus und trägt roten Lippenstift. Ich trage seine Spuren verwischt auf Mund und Hals.



Die verwitterten Stufen hinter mir gelassen, befindet sich das dunkle Loch direkt vor mir.
Der Schattenspeicher des Giebels hängt drohend ´darüber.
Meine Hand greift etwas zögernd nach den noch im Rahmen steckenden Splittern.
Ich ziehe sie heraus, einzeln, vorsichtig aber schneide mich trotzdem.
Mein Blut tropft vor dem Fenster herunter und mir wird schwindelig.
So rot wie blut, Fensterrahmen aus Holz, das gab es ein Märchen, oder?
Ich kann mich nicht erinnern.
Dieses dunkle Loch scheint mich zu verschlingen und ich falle hinein,
das Fenster saugt mich auf.




Sepia.
Ich size an einem Tisch.
Ich sitze auf einer Eckbank.
Was zur Hölle….
An einem emailierten Herd steht meine Frau.
Meine Frau?
Sie trägt ein Kleid mit Blumen darauf.
Frau? Kleid?
Sie singt Johann Sebastians Ave Maria und ist schön.
Musik?
Sie ist ein Engel.
Die Hütte,
die Hütte, ich bin in ihr und stehe nun auf.
Ich genieße für einen kurzen Moment die perfekte Atmosphäre und blicke meiner Frau
-welcher Frau?-
über die Schulter und sehe sie in einem Topf rühren während sie singt.
Ihr Hals duftet nach Rosen.
Rosen?
Sie dreht sich um und legt eine sepiafarbene Hand auf meine Wange,
blickt mich aus tiefen Augen an und lächelt.
Berührung, so fein und schön.
Ich erliege ihr und setzte mich ruhig zurück auf die Eckbank und warte auf mein Essen.

Ich habe jetzt Zeit,
viel Zeit.
Unendlich Zeit.





Waldkind
 
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