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10 Seiten

Memoiren eines Schriftstellers - 2. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 2


Der achtzehnjährige William Carter saß im Schneidersitz am Strand, schaute auf das weite Meer hinaus und hörte dem Rauschen der Wellen zu. Eine Möwenschar hatte sich um ihn versammelt, nachdenklich warf er ihnen hin und wieder Brotkrümeln zu.
Die Schulzeit war vorbei doch eine Lehrstelle war für ihn immer noch nicht in Sicht, weil er sich bislang auch nicht darum bemüht hatte. In seinen Händen hielt er ein Notizblock und einen Bleistift, denn das Schreiben war seine Leidenschaft. Der James Dean und Shirley Temple Fan – Shirley Temple war derzeit 35 Jahre alt und verkörperte für ihn die absolute Traumfrau – mit den zarten Gesichtszügen und verträumtem Blick, zog täglich ziellos umher und verschwendete keinen ernsthaften Gedanken an seine eigene Zukunft. Warum auch, dachte er sich, das Leben ist lang genug und in dieser Zeit würde sich ganz bestimmt irgendwann eine Gelegenheit ergeben, etwas ganz Großes zu vollbringen. Er wollte berühmt werden, reich und berühmt. William träumte nämlich davon, eines Tages ein weltberühmter Schriftsteller zu werden, genauso wie sein Idol Howard Robinson. William vergötterte Mr. Robinson, der ausschließlich Horror und Psychothriller Romane schrieb, und besuchte regelmäßig den kleinen Buchladen seines Heimatstädtchens um herauszufinden, wann wiedermal ein neues Werk seines Lieblingsautors erscheinen würde. Und sobald ein neuer Robinson Roman veröffentlicht wurde, tingelte William durch die Nachbarschaft und mähte ihre Rasen, somit verdiente er sich das Geld, um das neuste, heißbegehrte Buch zu ergattern.
William war ein typischer Außenseiter, der von Gleichaltrigen entweder völlig gemieden oder gehänselt wurde, weil er sich anstatt für schnelle Autos, Motorräder und hübsche Mädels, sich eher für Bücher und das Schreiben interessierte. Freunde hatte er demnach keine und auf Frauen seines Alters wirkte er eher geheimnisvoll und mystisch, anstatt attraktiv, obwohl er durchaus ein hübscher Bengel und außergewöhnlich einfühlsam war. William bevorzugte es nachts zum Strand zu gehen, in den Sommermonaten im Meer zu baden und dabei den Sternenhimmel zu betrachten, anstatt einen Tanzball zu besuchen um sich dort zu amüsieren. Vielleicht war sein romantisches Verhalten sogar der wahre Grund dafür, weshalb ihn die meisten Mädchen seines Alters mieden, denn ein richtiger Kerl sollte doch ein Rebell sein, der raucht und Alkohol trinkt und sich mit anderen Jungs in gefährlichen Autorennen misst.
Einige junge Frauen seines Alters empfanden seine Freizeitbeschäftigung vielleicht sehr reizvoll, doch bei anderen wiederum, ausgerechnet bei den Mädels, zu denen er sich hingezogen fühlte, stieß er wegen seiner geheimnisvollen Art öfters auf Ablehnung. Die Freundinnen, mit denen er zusammen war, verließen ihn meistens schon nach kurzer Zeit. Vielleich sehnten sich die Fräuleins aus der Nachbarschaft in ihren Träumen jemanden herbei, dass dieser jemand die Leidenschaft das Geheimnisvolle zu ergründen mit ihnen teilen würde, aber im Alltag wünschten sie sich doch eher das Bodenständige, wovon William so weit entfernt war, wie die Erde zur Venus.
Seine Gedanken schweiften beim Anblick des brausenden Meeres ab, denn diesmal dachte er über seine Eltern nach. Dieser Gedanke störte ihn sehr, nicht nur weil er kurz vor der Fertigstellung seiner neusten Geschichte stand sondern auch, weil es wiedermal Schwierigkeiten gab. Es ergab sich abermals Ärger mit seiner Mutter und diesmal zog er es ernsthaft in Erwägung, das Elternhaus zu verlassen und als Rucksacktourist durch die Welt zu reisen. Der Junge aus Provincetown wollte Abenteuer erleben und New York wäre dafür das geeignete Sprungbrett, meinte er. New York war wie ein Magnet für ihn, dort war er zuvor nie gewesen. Die einzige Großstadt die er bisher überhaupt besucht hatte, war Boston.
Sein Vater war für ihn noch erträglich und eigentlich begleitete er ihn sehr gerne mit dem Fischkutter aufs Meer hinaus. Aber seine Mutter war furchtbar. Tagtäglich machte sie ihm Vorwürfe und schrie den ganzen Tag, kommandierte ihn und auch seinen Vater nur herum, wenn sie mal nicht betete. Die streng katholisch gläubige Frau war kaum auszuhalten. Ständig platzte sie einfach ohne anzuklopfen in sein Zimmer herein und schimpfte über sein Aussehen, über die Unordnung und vor allem über die Musik, die er gerne hörte. Die Musik dieser verrückten Langhaarigen wäre nicht zum Aushalten, schrie sie daraufhin – damit meinte sie Chuck Berry, Johnny Cash, The Animals und neuerdings hörte er sogar The Beatles –, und der Herr würde ihn eines Tages dafür strafen, wenn er weiterhin Sünder zuhören würde.

Chapter 1-5 aus meinen Memoiren: Die frühen Jahre

Cape Cod, Massachusetts 1963

Meine allzu fromme Mutter war es, die dafür gründlich gesorgt hatte, dass ich ein gestörtes Verhältnis zu Gott bekam. Der Herr würde mich bestrafen wenn ich dies weiterhin tue, der Herr würde mich bestrafen wenn ich jenes weiterhin mache. Gott wird mich für meine Müßigkeit bestrafen; Gott bestraft, bestraft, bestraft. „Räum jetzt dein Zimmer auf! Hände weg von den Frauenzimmern und hör endlich mit dieser sinnlosen Schreiberei auf! Nutze deine Zeit gefälligst sinnvoll, indem du dir endlich mal eine anständige Arbeit suchst!“, brüllte sie immer.
Ich konnte es nicht mehr hören. In jedem Zimmer unseres Zuhauses hingen Kruzifixe, das konnte einem schon Angst einflößen, und ständig murmelte meine Mutter mit geschlossenen Augen irgendwelche Gebete. Eine ihrer beliebteste Strafe für mich war, das Vater Unser bis zu hundert Mal aufzuschreiben. (Es kam darauf an, welches Vergehen ich wieder vollbracht hatte).
Einmal, da war ich fünfzehn Jahre alt, stand sie wiedermal plötzlich in meinem Zimmer und erwischte mich doch in der Tat beim Onanieren. Junge, Junge, da war was los. Zuerst versuchte sie mich zu verprügeln aber ich konnte aus dem Fenster über das Dach flüchten. Dann verlangte sie von mir, dass ich hundert Mal das Vater Unser aufschreibe und danach schleppte sie mich zur Beichte. Komisch, der Pater meinte nur, falls ich selbst der Ansicht wäre gesündigt zu haben, sollten zehn Mal das Vater Unser aufzuschreiben, ausreichend sein. Aber egal. Meine Mutter jedenfalls meinte, dass daran nur die Musik der Langhaarigen schuld wäre. Manchmal fragte ich mich wie es möglich war, dass ich geboren wurde und es wunderte mich überhaupt nicht, dass ich keine Geschwister hatte. Wenn ich meinen Vater anschaute, tat er mir nur leid und ich konnte manchmal nicht verstehen, was ihn noch bei dieser Furie hielt.
Na ja, ich will nicht ungerecht sein, denn meine Mutter war nicht immer so gewesen. Sie hatte sich irgendwann mal gewandelt, seit dem Tag als der Pater uns besuchte und meine Mutter überzeugt hatte, dass wir jeden Sonntag zur Kirchenmesse kommen müssten, weil es unsere Pflicht wäre, da wir ja eine katholische Familie wären. Wie dem auch sei …
Wenn ich mir die alten Schwarz-weißen Fotos meiner Eltern betrachte, wird mir schon klar weshalb mein Vater sie geheiratet hatte. Sie war wirklich sehr hübsch gewesen und ihr Lächeln war einfach hinreißend. Ihr Wesen strahlte das pure Lebensglück heraus, aber nun wirkte sie mit ihren 38 Jahren wie eine alte Oma, trug ihr ergrautes Haar zu einer Zopfschnecke und sie war äußerst verbittert. Ausgesprochen verbittert sogar. Ich kann mich ehrlich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal herzhaft gelacht hatte. Meine Güte; meine Traumfrau, Shirley Temple, war gerade mal drei Jahre jünger als sie, doch zwischen ihnen lagen einfach Welten. Shirley Temple wirkte total jugendlich und war bezaubernd, meine Mutter dagegen war eine verbohrte Frau, die alt wirkte. Und technische Erfindungen waren ihrer Meinung nach das Werk des Teufels, weshalb wir nicht einmal einen Fernseher besaßen. Wenn ich also fernsehen wollte, musste ich mich zwangsweise mit dem Nachbarsburschen Odd Johnson abgeben.
Oddie, wie ihn alle immer nannten, war ein dämlicher Trottel, ein absoluter Vollidiot, mit dem ich mich normalerweise niemals abgeben würde. Jedoch besaßen seine Eltern einen Fernseher und er durfte schauen, wann immer er wollte. Oddie hatte eine Vorliebe für alberne Bubenstreiche und Soldat spielen (obwohl er bloß ein Jahr jünger als ich war), wobei ich ständig mitmachen musste. Und am Strand musste ich dann mit ihm den Kampf um die Normandie nachspielen, damit er mich später mit nach Hause nahm, seine Eltern mich dann freundlich zum Abendessen einluden und ich dabei wenigstens zwanzig Minuten endlich fernsehen konnte. Schwarzweiß, wohlbemerkt, aber so war das damals und das allein war für mich schon eine große Sache gewesen, überhaupt fernsehen zu können.

Mein Vater war für mich wesentlich angenehmer gewesen, obwohl er mich nie ausreden ließ und mir selten zuhörte, trotzdem nervte mich auch seine Anwesenheit nach einer gewissen Zeit. Er erhob zwar niemals die Stimme gegen mich sondern redete stets im ruhigen Ton, jedoch plapperte er meiner Mutter ständig nach dem Mund. Besonders in ihrer Gegenwart.
Eines Tages begleitete ich meinen Vater wiedermal auf die See hinaus. Er war ein selbständiger Fischer und belieferte die kleineren Restaurants in unserem Städtchen Provincetown mit seiner Beute. Dabei ließ er mich des Öfteren seinen Kutter steuern, was mir jedes Mal einen Heidenspaß bescherte. Zudem wusste er immer ganz genau wo die Wale waren. Das Meer war sein Territorium, und in dieser Beziehung vermochte er mich stets zu faszinieren. Einen Schiffkutter zu steuern, war allerdings auch das Einzige was ich von meinem Vater sinnvoll lernte.
Obwohl ich das Meer ebenfalls liebte, war ich dennoch kein geborener Seemann und der Beruf Fischer kam für mich absolut nicht in Frage. An diesem Tag hatte ich meine Ledermappe dabei, darin ich stets meinen Schreibkram aufbewahrte, ohne genau zu wissen, weshalb ich die Mappe diesmal mitgenommen hatte. Die See war ruhig und die Wellen schwappten sachte gegen den Bootsrumpf.
Mein Vater interessierte sich doch sowieso nicht dafür, was ich in meiner Freizeit tat. Aber wahrscheinlich wünschte ich mir insgeheim, dass er mich danach fragen würde, was ich ständig da mit mir herumtrage, damit ich ihm meine neuste Kurzgeschichte vorlesen könnte, was er dann auch nach einer Weile sogar tat. Mein Herz pochte in dem Moment wahrscheinlich schneller, als ein fickeriges Karnickel rammeln konnte, als er sich tatsächlich für meine Texte zu interessieren schien. Doch ich spielte den Coolen, so als ob dies für mich nur alles nebensächlich wäre.
„Wie bitte, so etwas kannst du? Du kannst richtige, echte Geschichten schreiben, genauso wie Hemingway? Du, mein eigener Sohn?“
Daraufhin brach ein hüstelndes Gelächter aus ihm heraus, was aber sogleich wieder verstummte. Er wirkte äußerst überrascht und machte dabei einen ungläubigen, misstrauischen Gesichtsausdruck, genauso wie ich, weil ich überrascht war, dass er Ernest Hemingway überhaupt kannte. Nichtsdestotrotz zweifelte ich erheblich daran, dass er jemals ein Buch von Hemingway gelesen hatte. Ich vermutete, weil er ihn überhaupt kannte war, weil Mr. Hemingway vor zwei Jahren gestorben war und dies groß in der Zeitung gestanden hatte. Legenden vergisst man eben nicht, selbst mein alter Herr scheinbar nicht.
Ich antwortete ihm also nicht sondern schüttelte nur leicht schnaubend mit dem Kopf. Dann schnappte ich mir das erste Blattpapier aus der Mappe, rutschte an der Reling zur Hocke hinunter und setzte mich schließlich im Schneidersitz hin. Mein Vater setzte sich erhöht auf die Kühlbox nieder, in der wir die gefangenen Fische lagerten.
„Also gut Dad, hör mir einfach nur zu, ohne Kommentare. Versprochen?“
Er nickte hastig und ich sah es ihm an, dass er sehr gespannt war. Allein diese Tatsache machte mich schon stolz.
„Na schön, Hör zu … Da gab es einmal diesen Mann, er war ein Fischer und segelte tagtäglich aufs offene Meer hinaus um Fische …“
„Oh ja, das ist bestimmt eine sehr gute Geschichte“, fiel er mir sogleich ins Wort und zappelte dabei freudig herum.
„Bitte, Dad!“, ermahnte ich ihn und fuhr fort, nachdem er sich einen strengen Blick von mir kassierte.
„Bereits früh am Morgen warf der Fischer die Netze ins Wasser und bereitete auf dem Deck alles dafür vor, um die Fische nach einem hoffentlich erfolgreichen Fang zu köpfen und auszunehmen. Die Zeit, bis sich die Netze mit zappelnden Fischen füllen sollten, nutzte er dafür, den wunderschönen Sonnenaufgang zu beobachten, wie die Sonne im Osten aus dem endlosen Meer emporstieg. Ein frisch gebrühter Kaffee …“
„Genau, William“, unterbrach er mich abermals, „genauso mache ich das auch jeden Morgen wenn ich …“
„Dad … Bitte!“, schaute ich ihn genervt an.
„Schon gut mein Junge, lese weiter vor. Sehr schön, erzähl weiter.“

Ich konnte meinen Vater also tatsächlich mit meiner selbst geschriebenen Geschichte begeistern, ihn fesseln, sodass er mir endlich mal zuhörte. Das machte mich unheimlich stolz und bestärkte mein Wille, eines Tages Bücher zu schreiben und ein Schriftsteller zu werden. Ich konnte ihn wirklich begeistern, bis ich ihm das Ende vorlas, das gefiel ihm nämlich absolut gar nicht. Es war nebenbei gesagt eine Horrorgeschichte, die folgendermaßen endete:
Der Fischer bekam von einem geheimnisvollen alten Mann eine Trillerpfeife geschenkt, dessen schriller Ton Fische anlockte, die daraufhin massenweise aus dem Wasser in sein Boot sprangen. Vom Verkauf der Fische wurde der Mann steinreich und raffgierig obendrein, denn er trällerte so lange auf dieser Pfeife, bis der komplette Fischbestand im Ozean sich erschöpfte. Als er aber auf dem Amazonas segelte und die Pfeife trällern ließ, sprangen hunderte Piranhas in sein Boot und nagten ihn am lebendigen Leib bis auf die Knochen ab. Selbstverständlich schilderte ich diesen Todeskampf bis ins kleinste Detail, wobei sehr viel Blut spritzte und Fleischbrocken nur so umherflogen. Trotzdem sollte die Geschichte auch zum Schmunzeln sein. Die Pointe des schockierenden Endes schilderte ich folgendermaßen:
Als ein der Piranhas hochsprang und das letzte Stück Fleisch von seiner Wange biss, hockte nur noch ein Skelett auf der Sitzbank mit der Trillerpfeife zwischen seinen Zähnen. Die Raubfische sprangen daraufhin gesättigt über Bord in den Amazonas zurück, bis auf ein kleines Piranha Baby. Es zappelte noch eine Weile auf dem Bootsdeck herum und sprang wie ein kleiner Gummiball auf und ab, bis es die Trillerpfeife mit seinen messerscharfen Zähnen ergatterte, wobei der Unterkiefer des Skeletts abgerissen wurde und vor seine knochigen Füße fiel. Dann hüpfte es mit der Trillerpfeife zwischen seinen Zähnen wieder zurück in den Fluss und zeigte den anderen Piranhas stolz seine Errungenschaft, woraufhin diese nur lachten und blubbernde Rülpser von sich gaben.
Nein, im Grunde war es eigentlich keine gruselige Horrorgeschichte, sondern einfach nur schwarzer Humor. Aber mein Vater verstand nur den Humor von Stan Laurel und Oliver Hardy, wenn sie sich gegenseitig Torten ins Gesicht drückten, und der eine den anderen ohrfeigte und sie sich gegenseitig in den Hintern traten.
Mein Dad saß nur stumm da und schaute mich an. Ich wusste nicht genau, ob er nun in diesem Moment traurig oder enttäuscht war. Ich denke mal, er war beides zugleich.
„Warum nur musst du solch ein blutrünstiges Zeugs schreiben? Es war so eine schöne Geschichte und dann auf einmal geschah nur noch Gemetzel. Schreib doch Mal etwas Lustiges oder schreib eine Liebesgeschichte. Die Leute wollen doch lachen, sie wollen weinen, vor Freude, aber du, du machst ihnen Angst mit deinen Geschichten. Du willst in der Tat ein Schriftsteller wie Hemingway werden? – Er schüttelte mit dem Kopf – Mit solchen abscheulichen Geschichten: Niemals!“
„Liebesgeschichten …“, murmelte ich abfällig vor mich her und rümpfte dabei die Nase. „Du irrst dich Dad, die Leute wollen Angst haben! Angst zieht die Menschen magisch an und schmunzeln können sie auch dabei, wenn sie es mit Gänsehaut lesen und dabei die Gewissheit haben, dass es so etwas zum Glück nie geben wird!“, rechtfertigte ich mich.
„Ich weiß nicht recht, mein Sohn, aber tu mir bitte einen Gefallen. Zeige das bloß nicht deiner Mutter.“ Mein Vater verzog sein Gesicht, ähnlich als wenn ihn ein Schmerz plagen würde. „Du weißt doch, wie sie ist“, fügte er wie immer hinzu.

Doch dafür war es leider zu spät. Als ich diesen Abend das Wohnzimmer betrat, saß meine Mutter steif, wie immer, auf ihrem Stuhl und schaute mich dabei mit einem ausdruckslosen Blick aus ihrer Hornbrille an. Es war totenstill, nur das Ticken unserer Standuhr war zu hören. Vor ihr auf dem Tisch lagen alle meine Manuskripte, die sie offensichtlich versteckt unter meinem Bett entdeckt hatte, und jetzt tippte sie mit dem Zeigefinger darauf.
„Was-ist-das?!“, fragte sie bestimmend.
Noch klang ihre Stimme verhältnismäßig ruhig, aber mein Vater verließ trotzdem nach diesen Worten sicherheitshalber das Wohnzimmer. Er war schließlich nicht nur ein Seemann, der einen anbahnenden Hurrikan erkennen konnte, sondern zudem auch ein Ehemann, der ein Donnerwetter im eigenen Haus vorhersehen vermochte.
„Mom“, redete ich sachte auf sie ein und lächelte dabei gezwungen, „du-du kannst doch nicht einfach in meinen Sachen herumstöbern. Das ist … Ich habe eine Privatsphäre“, stammelte ich und versuchte mich bloß nicht klugscheißerisch auszudrücken, wie sie es stets auszudrücken pflegte, denn das hasste meine Mutter am meisten und machte sie rasend.
Ich ging sachte auf sie zu und versuchte meine Werke vom Tisch an mich zu nehmen. Doch sie war schneller. Hektisch rollte sie die Papiere wie eine alte Zeitung zusammen, sprang von ihrem Stuhl auf und schlug mir wie eine wild gewordene Furie damit auf den Kopf. Duckend versuchte ich mich mit meinen Händen vor dieser Attacke zu schützen.
Sie schrie: „Bist du des Wahnsinns, so etwas niederzuschreiben? Du wagst es in meinem Haus über Satan, Gewalt und schmutzigen Sex zu schreiben? Willst du uns alle ins Verderben bringen mit deinen widerlichen Gedanken?“
Einige Blätter flogen durch die Wucht, mit der sie auf mich einschlug, im Wohnzimmer herum. Sie hörte auf zu schlagen, senkte ihren Kopf, zog ihre Hornbrille ab und hielt sich ihre Hand schützend vor die Augen. Dann schluchzte sie bitterlich.
Es schockierte mich, meine Mutter weinen zu sehen, und sie tat mir in diesem Augenblick sehr leid. Ich hob die zerknäulten Papiere auf und versuchte meine Mutter in den Arm zu nehmen, um sie zu trösten, da stieß sie mich weg und schlug mit ihren bloßen Händen auf mich ein.
„Wir sind eine gottesfürchtende Familie und du, du lockst den Teufel und das Unheil mit deiner blutrünstigen … (verzweifelt rang sie nach Worten) … Schmutzigen … Perversen Fantasien zu uns!“
„Aber Mutter, das sind doch bloß Geschichten. Nichts davon ist wahr; es ist doch alles nur von mir erfunden worden. Ich glaube doch an Gott … Genauso wie du!“, flunkerte ich.
Sie fasste sich wieder, setzte ihre Hornbrille wieder auf, starrte mich mit erhobenem Kinn an und sprach nun mit ihrem gewohnten, kaltherzigen Ton zu mir, wie eine strenge Lehrerin.
„Ich verbiete dir den Namen des Herrn hier in meinem Haus in den Mund zu nehmen. Ich will von dir bis morgen früh, zweihundert Mal das Vater Unser geschrieben vor mir liegen haben! Diesmal zweihundert Mal!“, betonte sie.
„Schon gut, Mom, schon gut. Ich werde es schreiben. Könnte ich jetzt bitte meine Geschichten wiederhaben?“, fragte ich äußerst kompromissbereit, aus Angst, was vermutlich geschehen würde. Daraufhin zerriss sie nämlich die zusammengeknüllten Manuskripte, wobei sie mir scharf in die Augen blickte und entriss auch die von mir vom Boden geretteten Werke aus meiner Hand, die sie ebenfalls vernichtete.
„Bist du verrückt geworden!?“, brüllte ich wütend. „Weißt du eigentlich, wie lange ich daran gearbeitet habe?“
„Du wagst es, dein widerliches Geschmier als arbeiten zu betiteln? Du wagst es, mich in meinem Haus anzuschreien? Gott wird dich für das hier … STRAFEN!“, brüllte sie und warf mir die zerfetzten Schnipsel entgegen. „Verlasse dieses Haus, auf der Stelle. Ich will dich nie wiedersehen. Du bist nicht mehr mein Sohn … VERSCHWINDE!“

William Carter ging am selben Abend noch einmal hinunter zum Strand und sagte dem Meer goodbye, bevor er Cape Cod verließ. Er zog als Landstreicher umher, arbeitete hin und wieder auf Farmen für eine warme Mahlzeit und einen trockenen Unterschlupf. Meistens gewährte man ihm einen Schlafplatz in der Scheune, wo er dann bei Kerzenschein neue Ideen in seinen Notizblock schrieb. Sein Weg führte per Anhalter immer weiter New York entgegen, in die Stadt von der er immer träumte. Die Stadt, die das Sprungbrett für sein neues Leben als berühmter Schriftsteller werden sollte.
Seit ein paar Tagen spukte eine Idee für eine sehr lange Story in seinen Gedanke herum, die er zuerst nur stichpunktartig aufschrieb. Dieser Roman sollte von einem begnadeten Opernsänger, trotz alledem von einen Psychopathen handeln, der sich monatelang mit Observation und Planung vorbereitet, bestimmte Frauentypen zu entführen, um sie in einem Versteck gefangen zu halten. Dieses äußerst gefährliche Monster interessiert sich dabei ausschließlich für Frauen, die seiner eigenen Mutter ähnelten oder geähnelt hatten. In seinem Versteck hielt er also mehrere Frauen unterschiedlichsten Alters fest, die er stets nachts mit seinem wundervollen Gesang anlockte, um auf diese Weise ihre Freundschaft zu gewinnen. Selbst junge Mädchen sollten sich von dieser goldenen Stimme hinreißen lassen. Spontan fiel ihm folgender Arbeitstitel ein: Die Nachtigall.
William war nun fest entschlossen ein berühmter Schriftsteller zu werden, wie sein Vorbild, Howard Robinson. Vielleicht, so dachte er, wäre es eine Möglichkeit berühmt zu werden, wenn er Mr. Robinson in New York aufsuchen würde. Bestimmt würde Howard Robinson sein Talent erkennen und ihn schließlich unterstützen, davon war William überzeugt.
 
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