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10 Seiten

Memoiren eines Schriftstellers - 21. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 21

Nach einer fast zweijährigen kreativen Pause durften sich weltweit die Fans wieder freuen. Der Erscheinungstag des neuen Carter Romans: Im Schatten der Angst, wurde auf Samstag den 8. September 2001 festgelegt, woraufhin William von sämtlichen Buch- und Geschäftsläden zum Vorlesen mit anschließender Autogrammstunde eingeladen wurde. Unter anderem hatte sich Amerikas größter Warenhausbetreiber Macy`s aus New York beworben, den weltberühmten Schriftsteller für eine Lesestunde zu gewinnen. William hatte gemeinsam mit Adam in dessen Büro sämtliche Bewerbungsunterlagen geprüft. Sie hatten bei einem Gläschen Champagner diskutiert und waren schließlich einstimmig gewesen, dass das Kaufhaus Macy`s die Zusage bekommen sollte. Adam hielt eine Zigarre zwischen seinen Zähnen, klatschte in die Hände und rieb sie.
„Sehr gute Entscheidung, William. Jeder weiß wo das berühmte Macy`s in New York ist und jeder der N.Y. besucht will auch dort einkaufen.“ Er paffte während William in einem Ledersessel lümmelte, seine Beine überkreuzt auf Adams Schreibtisch ablegte und mit einem bunten Zauberwürfel spielte.
„Das wird garantiert wieder ein riesiges Spektakel, wie damals im Januar 73, als wir das dritte Band der Nachtigall Serie herausbrachten und du in unserem Verlag eine Autogrammstunde gegeben hattest. Das Macy`s ist historisch, es existiert bereits seit 1858. Und die Leute wissen, dass du ein Obdachloser in New York warst. Deine Fans rechnen dir das hoch an, wenn du deine Wurzeln nicht vergisst und dort ein Event veranstaltest, wo du einst gelebt hast.“
Das Verhältnis zwischen beiden Freunden war seitdem Rennunfall, wobei William sein Leben riskiert hatte um Adams Sohn zu retten, unerschütterlich und besser als je zuvor. Überdies war Adam der einzige in seinem Freundeskreis, der Penélope nicht verurteilte und William diesbezüglich loyal beiseite stand. Manchmal besuchte auch er sie im Staatsgefängnis San Quentin, zwar hatte sie einen folgenschweren Fehler begangen, trotzdem wollte er seine Penny nicht fallen lassen.
William Carter beabsichtigte nach der Vorlesung seine alte Heimat Cape Cod zu besuchen. All die Jahre hatte er New York gemieden, weil er den berüchtigten Mafia Boss Salvatore Valenti fürchtete, weil er damals als junger unbekannter Mann Zeuge gewesen war, wie dieser zwei Männer erschossen hatte. Dieser Doppelmord wurde jedoch nie aufgeklärt, weil William Carter bislang geschwiegen hatte. Der gebürtige Sizilianer war aber mittlerweile vor einigen Jahren wegen eines anderen Deliktes inhaftiert worden und eine frühzeitige Entlassung war laut Zeitungsberichten ausgeschlossen, sodass William Carter sich entschloss, New York endlich nach über dreißig Jahren zu besuchen.

Chapter 113-118 aus meinen Memoiren: Eine gute Entscheidung

Shirley bereitete mir in letzter Zeit Sorgen. Wenn irgendetwas nicht nach ihrem Zeitplan verlief, so wie sie es gewohnt war, hauptsächlich dann wenn sie befürchtete ihre Fernsehsendungen zu verpassen, geriet sie in Panik, hyperventilierte und bekam beängstigende Anfälle. Thelma und ich vermuteten, dass sie unter Verlustängste litt, denn dieses Verhaltensmuster zeigte sie erst seitdem Penélope nicht mehr bei uns wohnte. Wir beide bewachten das Fernsehprogramm regelrecht und sobald Penélope in den Nachrichten erschien, allein nur ihr Name erwähnt wurde, schaltete einer von uns sofort um. Keinesfalls wollten wir, dass Shirley irgendetwas von der Bluttat ihrer Mutter aufschnappte.
Außerdem hatte sie plötzlich große Angst vor Ärzten, weil sie scheinbar befürchtete, dass sie nach der Behandlung nicht mehr nach Hause kommen dürfte, dass auch sie, wie ihre Mutter, eventuell nie wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird. Sobald Shirley es spitzbekam, dass wir nur zu unserem Hausarzt fuhren, den sie eigentlich seit ihrer Kindheit kannte, fing sie an zu schreien, klammerte sich an mich, weinte bitterlich und flehte mich herzzerreißend an, dass sie wieder nach Hause will.
Es nützte ebenso wenig wenn der Doktor zu uns kam; sobald es schellte und sie auf dem Monitor sein Auto die Einfahrt entlang fahren sah (Shirley war äußerst neugierig und immer die erste an der Haustüre oder am Telefon, außerdem konnte sie jedes Auto sofort zuordnen), weitete sie aufgeschreckt ihre Augen und fing an zu zittern. Dann versteckte sie sich irgendwo und selbst Thelma gelang es erst sie zu beruhigen, wenn der Doc verschwunden war. Und auch nur dann wenn wir sie gemeinsam zum Monitor schoben, ihr mehrmals versicherten, dass sie bei uns bleiben durfte und sie selber zusah, wie der Hausarzt unser Grundstück verließ.
Tja, nun hatten wir den Salat, weil es für mich einfacher gewesen war ihr irgendetwas aufzutischen. Irgendetwas, aber bloß nicht die Wahrheit. Eine große Lüge bewährt sich nun mal nicht, letztendlich schießt man sich damit nur ein Eigentor.

Damals, als ich sie noch alleine erzog und pflegte, hielt ich es nie für nötig Shirley über ihre Großeltern zu informieren. Sie waren bereits lange vor ihrer Geburt bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Was hätte ich ihr denn außerdem erzählen sollen? Dass insbesondre meine Mutter eine gute Frau war? Das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir war immer angespannt gewesen, außerdem wollte ich es unbedingt vermeiden, sie über das Sterben aufzuklären. Mit dieser Thematik sollte sie sich überhaupt nicht beschäftigen.
Mag ja sein, dass sie sehr viele Dinge sowieso nicht verstehen konnte, trotzdem grübelte sie ständig, und sie hätte mir wochenlang über den Tod unangenehme Fragen gestellt. Nun war dieses Thema aber für uns alle brandaktuell, denn Penélopes Hinrichtung stand uns in absehbarer Zukunft bevor.
Thelma hatte sie schließlich irgendwann über Gott aufgeklärt und damals auch dafür gesorgt, dass sie katholisch getauft wurde. Jeden Abend, nachdem sie Shirley ins Bett brachte und nachdem sie ihr eine Gutenachtgeschichte aus einem Kinderbuch vorlas, betete sie gemeinsam mit ihr. Thelma hatte überdies ein schwarz-weißes Foto mit Bilderrahmen im Keller gefunden, darauf mein Vater, meine Mutter und ich als Fünfjähriger zu sehen ist.
Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter noch liebevoll. Man sieht sie darauf neben mir kniend, fröhlich lachend, hält mich im Arm und zeigt auf die Kamera. Mein Vater trägt eine New York Yankees Kappe und lächelt ebenfalls – nur ich mache ein grimmiges Gesicht.
Wie dem auch sei …
Diese Fotografie entstand 1950, als wir wiedermal unseren Urlaub bei den Niagarafällen in Kanada verbrachten. An meinen Vater konnte ich mich wenigsten an einige schöne Stunden erinnern, wie wir beispielsweise immer mit dem Fischkutter auf hoher See waren, oder wie wir regelmäßig im Frühling unsere Hausfassade strichen, davon ich ihr immer erzählte.
Shirley kam hin und wieder zu mir, manchmal sogar überraschend ins Schlafzimmer während ich arbeitete, und wollte dann unbedingt Geschichten über ihre Großeltern hören. Vor allem über ihre Oma (möglicherweise weil auch sie anhand der Fotos eine gewisse Ähnlichkeit mit Thelma erkannte).
„Oma Opa Himmel“, sagte sie immer, und deutete dabei ihren Zeigefinger nach oben. Seitdem Thelma ihr dies verständlich gemacht hatte, glaubte sie felsenfest daran.
Die eingerahmte Fotografie stand, seit sie achtzehn Jahre alt war, stets auf ihrem Nachttisch. Für sie waren ihre Großeltern regelrechte Heilige, die nur Gutes taten und doch irgendwie noch präsent sind. Thelma hatte ihr erklärt, genauso wie man es einem Kind verständlich machte, dass ihre Großeltern nun neben dem lieben Gott im Himmel wohnen und immer auf sie aufpassen werden, bis auch sie irgendwann in den Himmel kommen würde.
„In den Himmel kommen wir alle irgendwann, und davor brauchst du dich nicht zu fürchten“, hatte Thelma ihr einfühlsam erklärt, woraufhin Shirley mit leicht geöffnetem Mund nickte.
Was ihre Nanny sagte, war für sie die absolute Wahrheit.

Der Termin für die Vorlesung mit anschließender Autogrammstunde im Kaufhaus Macy`s stand bereits fest. Am Samstag den 8. September 2001 sollte die Veranstaltung pünktlich um 13.00 Uhr beginnen, wobei eine limitierte Anzahl von Eintrittskarten zum Vorverkauf zur Verfügung stand, weil mindestens hunderttausend Fans erwartet wurden.
Ich persönlich konnte mir solch einen Andrang gar nicht mehr vorstellen, schließlich war ich kein Rockstar sondern nur ein gediegener Schriftsteller (jedenfalls hielt ich mich mittlerweile für so einen und war damit auch zufrieden), obwohl damals wegen mir ein gesamtes Viertel von Los Angeles gesperrt werden musste. Und nach der Vorlesung tingelten Penélope und ich durch die angesagtesten Diskotheken, wurden wie Könige gefeiert und ließen mit einer beachtlichen Menge Koks und reichlich Schampus zwei Nächte lang ununterbrochen mächtig die Sau raus.
Aber damals war ich auch jünger, sah noch knackig aus und Adam hatte mich geschickt als einen Superstar verkauft. Nun war ich älter und seriös geworden und wünschte mir ein ruhiges Ambiente im kleinsten Kreise, und anschließend sollte es Kaffee und Kuchen geben.
Mein Problem jedoch war, dass Shirley ausgerechnet am 9. September Geburtstag hatte und wir normalerweise immer in Florida, im Disney World Resort in Orlando feierten. Wir waren praktisch Stammkunden, weil wir jedes Jahr zweimal mehrere Tage dort verbrachten. Für Shirley wurde sogar jedes Jahr mittags eine Geburtstagsfeier organisiert, wobei alle anwesende behinderte und nichtbehinderte Menschen jeden Alters herzlich zum Kuchenessen eingeladen waren. Auch dort hatte Shirley seit ihrer Kindheit Freundschaften geschlossen, die ebenfalls jedes Jahr dabei waren. Für meine Tochter war es schon immer das größte Highlight des Jahres gewesen, ihren Geburtstag in Disney World zu verbringen. Das war sie gewohnt und darauf freute sie sich wochenlang.
Selbst jetzt, mit ihren fast achtundzwanzig Jahren waren Mickey und Minnie Maus für sie immer noch wahre Helden. Mittlerweile hatte sie zwar begriffen, dass es nur verkleidete Animateure sind, die sie stets am Eingang von Disney World begrüßten, trotzdem sah sie Mickey und Minnie Maus stets ehrfürchtig an. Genauso wie Erstklässler demütig den Weihnachtsmann anblickten, und sie freute sich stets ungemein wenn Mickey Maus ihr versprach, dass dieses Jahr wieder eine große Geburtstagsfeier für sie stattfinden würde. Ihren Geburtstag in Disneyland zu verbringen, war für sie sogar wichtiger als Weihnachten, Ostern und Thanksgiving zusammen.

Aber dieses kleine Problem hatte ich gelöst. Da nun Adam darauf gepocht hatte, dass ich den Termin in New York unbedingt wahrnehmen sollte und dies ohnehin in meinem Interesse lag, hatte er sich angeboten, gemeinsam mit seiner Familie Shirley nach Florida zu begleiten. Shirley hätte also auf ihre Geburtstagsfeier in Disneyland nicht verzichten müssen, zumal Thelma ohnehin dabei gewesen wäre. (Adam und seiner Familie hätte ich diese Verantwortung sowie Bürde niemals alleine zugemutet).
Aber ich wollte unbedingt gemeinsam mit meiner Tochter ein paar Tage alleine verbringen, wie damals, als sie noch ein Kind war und wir manchmal monatelang mit einem Kreuzfahrtschiff unterwegs gewesen waren, um uns die Welt anzuschauen.
Das war eine wunderschöne Zeit, die Shirley und ich gemeinsam verbrachten. Damals war sie noch ein kleines Mädchen und ich war für sie mehr als nur ein Vater. Sie war völlig auf mich fixiert und hätte ohne mich und meiner Liebe sicherlich nicht überlebt.
Jedoch wollte ich nicht einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden, schließlich war sie jetzt alt genug aber Entscheidungen zu treffen, fiel ihr mittlerweile noch schwerer als früher. Zudem müsste Shirley für ein paar Tage einige Gewohnheiten einbüßen, wie beispielsweise pünktlich um halb eins zu Mittag essen, oder müsste gar auf ihre Fernsehsendungen verzichten, weil sich dies möglicherweise zeitlich nicht einrichten ließ. Mag ja sein, dass sich dies für einen Außenstehenden banal anhört, aber wenn Shirley ihre Sesamstraße aus irgendeinen Grund nicht sehen konnte war sie vergleichbar verbittert, als wenn ein Topmanager einen äußerst wichtigen Termin seines Konzerns nicht pünktlich wahrnehmen konnte, weil er mit seiner Limousine irgendwo im Stau steckte.
Das schlimmste was man Shirley also antun konnte war, ihre Gewohnheiten abrupt zu ändern. Und genau deshalb wollte ich, dass sie selbst entscheidet, wo und mit wem sie ihren Geburtstag verbringen wollte.

Ich ging also ins Wohnzimmer um sie zu fragen, ob sie ihren Geburtstag mit mir alleine im langweiligen Cape Cod verbringen möchte. Ich war nicht unbedingt zuversichtlich und zuallererst verwundert, denn ich hörte sie nur schimpfen und das war eigentlich kein guter Zeitpunkt, versuchen sie für irgendetwas zu überzeugen. Denn wenn sie miesepetrig war, lehnte sie in ihrem Sturkopf generell erstmal alles ab und ließ ihren Zorn an mir aus.
Gestern Abend hatte Thelma ihr verkündet, dass Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land im Fernsehprogramm laufen würde, darauf sie sich ungemein gefreut hatte. Das musste sie also unbedingt sehen, obwohl sie es sich schon bestimmt zum hundertsten Male angesehen hatte.
Shirley wollte den Fernseher lauter stellen und hatte dabei ausversehen das Programm gewechselt. Sie wusste nicht mehr welcher Chanel es war, hatte daraufhin wild umhergeschaltet und schließlich die Fernbedienung auseinander genommen, um die Batterien zu wechseln, weil sie glaubte, somit diesen Fehler zu beheben.
„Pippi Taka-Tuka, Pippi Taka-Tuka“, murmelte sie ständig vor sich her, während sie mit der Fernbedienung hantierte.
Es lagen lauter Batterien, ein aufgeschlagener Katalog und ihr Sparschwein auf dem Wohnzimmertisch und Shirley versuchte verzweifelt sowie hektisch die Fernbedienung zu “reparieren“. Völlig aufgelöst erklärte sie mir, dass der Fernseher kaputt wäre. Ausgerechnet jetzt, jammerte sie, wo doch grad Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land lief.
Vor Aufregung zitterten ihre Hände wiedermal; sie sah mich mit erweiterten Augen keuchend an, fuhr nervös mit dem Rollstuhl vor dem 100 Zoll Fernseher hin und her und schimpfte mit wankendem Zeigefinger: „Apparat nicht gut, Apparat dumm!“
„Schatz, ganz ruhig. Daddy bringt das wieder in Ordnung.“
Blöd war nur, dass ich meine Lesebrille grad nicht dabei hatte, ich die Batterien nun zum zweiten Male falsch einfummelte und immer noch der Sportkanal an war. Selbst mit gekniffenen Augen gelang es mir nicht, diese verdammt kleinen Batterien richtig einzusetzen und Shirley wurde immer hektischer. Mit großen Augen sah sie mich verzweifelt an und flehte, als würde gleich die Welt untergehen: „Daddy, Pippi Taka-Tuka gucken. Pippi Taka-Tuka!“
Und sie keuchte beängstigend, dies mich äußerst nervös machte und ich leise fluchend die Batterien versuchte einzulegen. Im Grunde war ich verzweifelter und nervöser als sie, weil ich es ohne Lesebrille einfach nicht hinbekam und sie schon wieder hektisch atmete.
„Shirley, jetzt beruhige dich doch bitte. Was soll ich denn deiner Meinung nach auf die Schnelle dagegen tun? Habe doch etwas Geduld.“
Shirley schnappte sich den Katalog vom Tisch und legte mir diesen auf den Schoß. Dann reichte sie mir das Funktelefon und deutete auf den größten Fernseher, welcher der Katalog zu bieten hatte.
„Daddy bestellen machen“, sagte sie keuchend.
„Du spinnst wohl, Fräulein. Unseren Fernseher hast du dir erst letztes Jahr selbst ausgesucht, der ist also praktisch noch nagelneu! Und sieh mal, dieser im Katalog kostet fast fünfzehntausend Dollar. Das ist sehr, sehr viel Taschengeld!“
Daraufhin reichte sie mir ihr Sparschwein entgegen, darin sie immer ihr Wechselgeld reinsteckte und allerhöchstens fünf Dollar drin waren. Wenn nicht gar weniger. Sie brabbelte, dass sie den neuen Fernseher bezahlen würde und versprach mir – wenn ich sofort einen neuen Fernseher auf ihre Kosten bestellen würde, dann dürfte ich auch immer mitgucken. Aber nur wenn ich jetzt gleich bestelle, ansonsten dürften nur Thelma und sie fernsehen, ich jedoch nicht.
Schließlich gelang es Thelma die Batterien einzulegen, schaltete ihr Pippi Langstrumpf ein und Shirley war wieder zufrieden. Doch kurz darauf war sie einfach eingenickt, weil dieser Stress sie völlig eingenommen und erschöpft hatte.

Später, nachdem sie von ihrem Mittagsschläfchen erwachte, war sie wieder energiegeladen und gut drauf gewesen. Dies machte sich bemerkbar, weil sie Unfug trieb (eine Woche vor ihrem Geburtstag war sie generell aufgekratzt und übermütig).
Sie steuerte mit ihrem Rollstuhl in die Küche und blickte Thelma eulenartig an. Dann schnappte sie sich vor ihren Augen einen Kochlöffel und fuhr damit zur Gästetoilette, wobei sie freudige Laute von sich gab. Thelma seufzte und folgte ihr schmunzelnd.
Damals als kleines Mädchen hatte sie mir immer den Autoschlüssel geklaut und mich suchen gelassen. Spaßeshalber hatte ich daraufhin stets in der Kloschüssel geschaut, daraufhin sie jedes Mal äußerst amüsiert gewesen war.
Aber Shirley machte Ernst, steckte den Kochlöffel und alles andere, was sie in der Küche stibitzt hatte, tatsächlich in die Kloschüssel und drückte sogar die Spülung, woraufhin Thelma sofort hineilte und die Gegenstände wieder rausholte.
Selbstverständlich blieb ich ebenfalls von ihrem Schabernack nicht verschont.
„Daddy, Fische machen?“, fragte sie mich mit ihrem unschuldigen Blick, obwohl sie sonst nur mit Thelma gemeinsam die Fische im Aquarium fütterte. Auch ich seufzte, weil ich genau wusste, was mich wiedermal erwartete.
Als sie noch ein Kind war hatte sie des Öfteren den Löffel samt Futter ins Aquarium einfach fallen gelassen, statt ihre Hand umzudrehen, weil sie einfach zu zittrig und extrem aufgeregt war und die Bewegung verwechselte. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Shirley füttert die Fische mit dem Löffel normalerweise völlig entspannt (nur wenn fremde Leute anwesend waren oder gar Adam, passierte ihr dieses Missgeschick vor lauter Aufregung immer noch manchmal), doch diesmal machte sie es seit Tagen extra.
Kaum hatte ich das Fischfutter auf den Löffel gestreut, warf sie diesen ins Aquarium und ich wurde mit Wasser bespritzt. Dann gab sie freudige Laute von sich, fuhr in die Küche zu Thelma und berichtete ihr stolz, dass sie mich wiedermal reingelegt hätte.

Am Abend, als wir wiedermal am Küchentisch saßen und Mensch-ärgere-Dich-nicht spielten und sie fröhlich war, sie völlig gespannt den Spielablauf verfolgte, fasste ich nach ihrer Hand. Ich fragte sie, ob sie mich zuerst nach New York und dann nach Cape Cod begleiten möchte. Ich versuchte ihr auf die Sprünge zu helfen und fragte sie, ob sie wüsste wo New York wäre. Es lag schon einige Jahre zurück, als ich ihr einmal von New York erzählte, von der gigantischen Stadt am anderen Ende von Amerika. Sie nickte und brabbelte, dass wäre dort, wo die ganz großen Häuser wären. Noch viel größer als in Los Angeles. Ich lächelte und gab ihr zu verstehen, dass ich stolz auf sie war.
Shirley war zwar geistig behindert, aber ihr Erinnerungsvermögen war ausgezeichnet. Oftmals erzählte sie brabbelnd Geschichten aus ihrer Kindheit, an die ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, obwohl sie grad als Kind, bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag, täglich jede Stunde ausschließlich nur mit mir zusammen war. Sie aber wusste jedes Detail.
Dann erklärte ich ihr, dass wir anschließend nach Cape Cod fliegen und wir in meinem Elternhaus wohnen würden. Dort, wo ihre Oma und Opa gelebt hatten und ich erwähnte den Garten mit den vielen Blumen, dieser meiner Mutter einst gehörte. (Meine Mutter verehrte ihren Garten sowie ihre Blumen abgöttisch.) Außerdem erwähnte ich, dass wir dann auch das Grab ihrer Großeltern besuchen würden und sie dort die Blumen gießen dürfte.
Ihr eine Entscheidung zu entlocken konnte eine Weile dauern und ich war darauf vorbereitet, dass sie mir jetzt ständig ein und dieselbe Fragen stellen würde. Einen Augenblick dachte ich, sie würde sich sicherlich für Disneyland entscheiden, weil es einfach das Größte für sie war, weil wir ihren Geburtstag dort immer feierten.
Doch ich wurde überrascht.
Shirley traf ihre Entscheidung relativ rasch, indem sie mit dem Kopf schüttelte.
„Nicht Maus gehen. Oma gehen Opa.“
Verwundert zog ich die Augenbrauen hoch.
„Bist du dir auch wirklich absolut sicher, mein Schatz?“, hakte ich nach. „Du willst diesmal deinen Geburtstag nicht im Disneyland, sondern mit mir in Cape Cod verbringen?“
Shirley nickte.
„Oma gehen Opa. Oma Opa Himmel, gießen machen“, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger, wobei sie mich mit großen Augen ernst anblickte.
Ich lächelte.
„Das ist eine sehr gute Entscheidung, mein Schatz.“

Shirley hatte sich zwar entschieden, trotzdem fragte sie William bis sie ins Bett gebracht wurde, warum und weshalb ihre Nanny nicht mit nach New York und danach nach Cape Cod begleiten dürfte. Letztendlich war sie damit einverstanden, dass sie nur allein mit ihrem Vater in Cape Cod ihren Geburtstag verbringen würde. Mickey Maus war ihr nichtig geworden, denn den Garten ihrer geliebten Oma und das Grab ihrer Großeltern bewässern zu dürfen, darauf freute sie sich vergleichbar, wie ein Ehepaar auf ihre bevorstehenden Flitterwochen in der Karibik.
William Carter hatte daraufhin sofort die nötigen Flugtickets online bestellt. Selbstverständlich auch für den Rückflug. Nach dem Besuch in Cape Cod würden beide vom nächst gelegenen Flughafen in Boston nach Los Angeles fliegen. Und zwar schon morgens um Punkt 7.45 Uhr, am Dienstag den 11. September 2001. Mit der American Airlines, Flug AA11. First Class, selbstverständlich.
 
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