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5 Seiten

Gefangen in der Zeit

Spannendes · Kurzgeschichten
Sie wandelte durch die Zeit, fand nicht den Weg, sah die Schatten der Lebenden und spürte immer noch die unerträglichen Schmerzen, die so viele, viele Jahre zurücklagen…

Als sie aufwachte war sie schweißgebadet. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Augen leuchteten wie im Fieberwahn.
Ich drückte sie an mich und spürte die Beben, die sich durch ihren kleinen Körper zogen. Langsam wurden sie schwächer und das Schluchzen leiser.
Sie hob ihren roten Kopf und sah mich an. „Papa, wer ist Katharina?“
„Was sollen wir nur machen?“, fragte mich Anja abends. Ich wusste es selbst nicht.
Unsere kleine Silvie hatte schon immer Alpträume und Anjas Mutter sagte immer sie hätte diese Gabe oder den Blick für Dinge, die wir nicht sehen können, aber damit konnte ich nix anfangen.
Wir lebten in unserem renovierten Häuschen in einem dieser kleinen Dörfer nördlich von Kassel und südlich vom Habichtswald und es gab hier nichts Aufregendes. Einen Bäcker, einen kleinen Lebensmittelladen, eine Grundschule und die Kirche. Nichts was einem Angst machte oder auch nur mal ansatzweise stressen könnte.
„Sollen wir zum Psychologen mit ihr?“ Nach einer langen Pause sah Anja mich an und ich kannte die Antwort.
Von da an führten wir Buch über die Albträume und Geschichten unserer kleinen Maus. Wir gewöhnten uns an mit ihr über diese Dinge offen zu sprechen und das tat uns drei seltsamer Weise gut. Wir lernten besser mit ihrer Gabe umzugehen und leider musste ich mir in so mancher dunklen Nacht eingestehen, dass ich immer mehr davon glaubte, glauben wollte und doch nicht verstand.
An einem sonnigen Wochenende Ende Oktober picknickten wir gemeinsam an der Espe und sahen in der Ferne unsere kleine Kirche.
„Mama war da oben mal eine andere Kirche oder eine Kapelle?“, fragte Silvie und unsere Blicke wanderten in Richtung der Kirche. „Du, ich weiß es nicht wirklich aber ich denke so etwas kann man herausfinden oder David?“
„Klar wir fragen mal Google oder hören uns im Dorf um oder die allwissende Oma kann uns weiterhelfen“, sagte ich und erntete von meinen Mädels böse Blicke wegen dem Seitenhieb auf meine geliebte Schwiegermutter.
Die Träume blieben und der Name Katharina tauchte immer öfter auf. Aber nicht nur dieser Name, sondern auch ein weißer Turm und die Kapelle.
Der goldene Oktober ging vorbei und es wurde ruhig. Als Ende Januar der erste Schnee fiel, fingen die Träume wieder an!
Eines Nachts schrie sie so laut, dass mir fast das Herz stehen blieb.
Sie weinte die ganze Nacht und war kaum zu beruhigen. Das einzige was wir am nächsten Morgen für unsere Notizen aus ihr herausgebracht hatten, waren die Worte Schmerzen, Angst, nach Hause und Gott.
Diese schlimme Zeit hielt zwei Wochen an und wir waren kurz davor aufzugeben, als die Träume schlagartig wieder aufhörten.
Der Februar und März gingen ins Land. Dem Schnee folgte Hochwasser und dem Wasser der sonnige Mai und unser Ausflug nach Marburg.
Es war ein wunderschöner sonniger Tag. Wir amüsierten uns prächtig, schauten uns Marburg an, aßen in der Altstadt ein Eis und nach dem Spaziergang durch den botanischen Garten stand natürlich das Schloss an.
Schon auf dem Weg nach oben wurde Silvie immer ruhiger und in sich gekehrt.
Alle Scherze prallten von ihr ab und alle Fragen wurden nur noch mit einem knappen ja oder nein beantwortet. Aus der geschwätzigen, aufgeweckten Maus war auf einmal eine ängstliche kleine Maus geworden.
Sie nahm uns immer öfter an der Hand und alle Versuche sie zu begeistern scheiterten. Als ich gerade mal wieder versuchte sie aufzuziehen, wurde sie ganz bleich und fing an zu zittern. Ihre Augen starr nach vorne gerichtet blieb sie mitten auf dem Weg stehen. Ich folgte ihrem Blick und sah den Hexenturm. Auch mir wurde ganz kalt und etwas in meinem Kopf fügte sich zusammen. Die Rädchen rasteten ein. Der weiße Turm!
Ich sah wieder zu meinen Mädels. Anja kniete vor Silvia aber sie neigte ihren Kopf zur Seite und hatte nur Augen für den Turm. Ihr Gesicht war jetzt rot und nass von ihren Tränen. Langsam ging ich auf sie zu. Auch ich ging in die Hocke und fasste meine Tochter an den Schultern. „Was hast du Silvie? Erzähl es uns. Wir helfen dir!“
„Das ist der Ort!“, war ihre einzige Reaktion. „Welcher Ort? Was meinst du?“, fragte Anja mit zittriger Stimme und auch sie war kurz davor in Tränen auszubrechen.
„Rede mit uns. Erzähl uns was du siehst und fühlst“, versuchte ich es wieder.
„Katharina! Hier ist sie gestorben. Nein nicht gestorben. Nur die Schmerzen waren hier oder auch der Tod oder beides, ich weiß es nicht genau. Ich will hier weg…, es tut weh und sie ist nicht... nicht am richtigen Platz...“
Anja war noch bei Silvie im Schlafzimmer und ich saß mit meiner geliebten Schwiegermutter am Esstisch. Ihre gescheiten Augen sahen mich an und ich wusste es würde gleich was kommen.
„Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht ob es Geister gibt oder verirrte Seelen, die umherwandeln und keinen Weg zu Gott finden?“
„Ich hab mir in den letzten Monaten um sehr vieles Gedanken gemacht. Ich bin auch zu dem Schluss gekommen, dass unsere Tochter nicht verrückt ist, sondern eine spezielle Gabe hat. Wie diese Gabe funktioniert oder was genau sie ausmacht oder bewirkt, darüber kann ich dir nichts sagen!“
„Ich hab mit dem Pastor geredet. Es gab wirklich eine Kapelle hier. Sie wurde so um 1150 gebaut und darauf unsere jetzige Kirche. Was das Ganze zu bedeuten hat, weiß ich leider nicht. Es ist nur eine kleine weitere Bestätigung für Silvies Gabe. Der Name Katharina taucht hier nicht wirklich auf, oder nicht im Zusammenhang mit der Kapelle. Doch als Anja heute anrief und ich nach Katharina und Marburg suchte, da hab ich was gefunden.“
„Mach es nicht so spannend…“ „Es gab um 1670 einen Hexenprozess gegen eine Katharina Lips in Marburg.“
„Katharina Lips“, stammelte ich. „Ich weiß nicht ob du eine Vorstellung von Hexenprozessen hast, aber die gute Frau wurde auf das schlimmste gefoltert und das gleich in zwei Prozessen. Sie hat die Vorwürfe immer bestritten und selbst unter Folter immer an Gott geglaubt und nie aufgegeben. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff Hexenturm und im Volksmund unser weißer Turm der Marburg“
„Das ist ziemlich gruselig!“ mich schauderte. „Und du meinst es könnte diese Katharina sein?“ „Es wäre möglich.“
„Was ist aus ihr geworden?“ Das konnte mir niemand sagen. Sie wurde nach den Prozessen aus dem Fürstentum verwiesen und keiner weiß, was aus ihr geworden ist.“
„Schmerzen, Angst, Gott...“, stammelte ich. Aber was hat das alles mit unserer Kapelle oder Kirche zu tun und was mit Silvia?“
Ich recherchierte im Internet und meine Schwiegermutter zapfte ihre geheimen Quellen an. Wer oder was diese auch immer waren, darum machte ich mir keine Gedanken.
Katharine Lips hatte nicht wirklich einen Bezug zu unserem Dörfchen. Sie stammte wohl aus Betziesdorf aber das war auch ein gutes Stück weit entfernt von uns.
Es war eine Qual ihre Geschichte zu recherchieren. Die Anschuldigungen, Folter und dann auch noch eine zweite Verhaftung und zweite Folter. Und das schlimmste war für mich, dass auch ihre Enkelin Jahre später wegen Hexerei zum Tode verurteilt wurde. Wie grausam konnten Menschen sein?
Eine Woche später saßen Anja, Schwiegermutter und ich wieder an unserem Esstisch bei Apfelwein und tauschten uns aus.
Ich hatte nicht wirklich viel herausbekommen. Aber mein Schwiegermonster hatte sich wohl sehr viele Gedanken gemacht.
„Unsere Katharina war wohl eine sehr religiöse Frau und ich frage mich wirklich was aus ihr geworden ist.“
„Nun ja sie wurde zwei Mal auf das Schlimmste gefoltert. Es sind mit Sicherheit Schäden zurück geblieben und ich will mir gar nicht vorstellen, wie sie ausgesehen hat oder wie sehr sie gelitten hat“, sagte ich.
„Sie wurde doch in die Obhut ihres Mannes gegeben oder?“, fragte Anja.
„Ja damals nannte man das alimentieren aber das war nach dem ersten Prozess. Nach dem zweiten wurde sie aus dem Fürstentum verwiesen“, meinte ihre Mutter.
„Mal angenommen sie hat das ganze überlebt. Was hätte ihr Glaube bewirkt?
Oder wo ist sie hin, wo ist sie gestorben oder beerdigt worden?“
Wir kamen an dem Abend nicht wirklich weiter bis ein paar Tage später unsere kleine Maus mal wieder einen ihrer Alpträume hatte.
Nachdem wir sie beruhigt hatten und das Zittern aufhörte, legten wir die Kleine zwischen uns ins Bett. Als wir gerade dachten sie wäre eingeschlafen sagte sie: „Katharina ist hier. Sie ist in der Kapelle aber das ist nicht richtig. Es fehlt etwas. Sie wartet auf Gott. Sie sieht uns und doch nicht. Sie spürt uns und doch nicht. Sie hat Angst und diese Schmerzen…, sie wandelt durch die Zeit, durch die Welt und will nur Frieden.“
Anja griff meine Hand und ich sah die Tränen in ihren Augen. Wann hörte das endlich auf.
Ende Juni brach das Chaos in unserem Dörfchen aus. Bei Bauarbeiten an der Kirche waren Skelette gefunden worden. So um die vierzig Stück wurde erzählt. Was für ein Tara. Polizei, das ganze Dorf im Ausnahmezustand, Reporter, Vertreter der Kirche.
Wenn die Skelette nicht gewesen wären, hätte es fast lustig sein können, den ganzen Trubel zu beobachten.
Abends am Tisch sagte die Kleine dann: „Sie wurde endlich gefunden“. Mehr bekamen wir mal wieder nicht aus ihr heraus.
Und was wir für nicht möglich gehalten hatten und uns so gewünscht hatten, wurde endlich wahr. Das Thema Katharina ließ uns ein paar Wochen später für immer los.
Zwei Monate nach dem gruseligen Fund an unsere Kirche kam Silvie mittags aus der Schule, stellte sich vor uns, sah uns mit großen Augen an und verkündete: „Sie hat jetzt endlich ihren Frieden gefunden und ist bei Gott.“
Anja und ich knieten uns vor sie und wir hielten uns gegenseitig im Arm, bis sie meinte: „Jetzt ist wieder alles gut! Ihr müsst euch keine Gedanken mehr machen!“
Kurz darauf erschien auch mein Schwiegermonster und erzählte uns was passiert war. Die Skelette waren von unserem Pfarrer in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt worden und sie war der Meinung, dass auch die sterblichen Überreste Katharinas darunter waren.
Ob es so war? Ich kann es nicht sagen, nicht beweisen. Ich kann nur sagen es ging uns endlich mal wieder gut. Die Alpträume hatten aufgehört und wir waren eine kleine glückliche und ganz normale Familie, so wie es sein sollte. Sogar meine Schwiegermutter war mir richtig ans Herz gewachsen.

Alles war gut bis zu unserem Ausflug zur Hohenburg…
 
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Kommentare  

Hallo Francis,

wenn die Geschichte unterhaltsam war, freut mich das schon mal. Klar hätte man aus dem "Stoff" auch eine andere Geschichte machen können. Aber ein historischer Roman ist nicht wirklich mein Ding. Es gab einen Grund für den Bezug zu Marburg und Katharina Lips aber das würde jetzt zu weit führen...
Trotz allem hast auch du dich jetzt über das traurige Schicksal dieser Frau und die grausamen Hexenprozesse informiert und das ist doch auch schon mal was Gutes.

Liebe Grüße Daniel


Daniel Freedom (31.07.2017)

Hi Daniel,
es macht wirklich Sinn, zuerst etwas über Katharina Lips zu erfahren und anschließend deine KG zu lesen, denn das tragische Schicksal dieser Frau sowie ihrer Enkelin ist wohl nur direkt in Marburg und Umgebung bekannt. Es ist eine unterhaltsame Geschichte die mich dazu bewogen hat, zu recherchieren, um den Hintergrund zu erfahren. Ich finde, dass du deine KG etwas unglücklich gestaltet hast. Nur ein kleines Mädchen, mit scheinbar übersinnlichen Empfindungen, „erzählt“ von dem damaligen Hexenprozess. Für mich persönlich wäre es lesenswerter gewesen, wenn du hauptsächlich über Katharina Lips geschrieben hättest. Den Stoff hast du entdeckt und die vorhandenen Fakten sind recht spärlich, das schreit förmlich nach einer guten Story. Trotzdem, wie gesagt, deine Geschichte war unterhaltsam.

LGF


Francis Dille (30.07.2017)

Hallo Doska,

danke für den Kommentar und schön, dass dir die Geschichte gefallen hat. Vielleicht gibt es demnächst mehr...


Daniel Freedom (29.06.2017)

Hat mir gefallen. Spannend und macht neugierig auf mehr.

doska (26.06.2017)

Die Geschichte ist natürlich frei erfunden, wenn sie auch einen historischen und ortsgebundenen Bezug hat.
Wer mehr über die Geschichte von Katharina Lips erfahren will kann das über die beliebten Suchmaschinen gerne tun.


Daniel Freedom (23.06.2017)

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