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Memoiren eines Schriftstellers - 28. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 28

41 Jahre später …

Es war früh am Abend an einem Oktobertag. Die knallrote Sonne leuchtete knapp über dem Wüstengebirge und ließ den wolkenlosen Himmel allmählich violett erscheinen. Eine angenehme Stille umgab die steinige Landschaft von Nevada, doch plötzlich hörte man in der Ferne ein knatterndes Motorengeräusch. Der zwanzigjährige Edward Scott und sein Freund Max Coleman brausten jubelnd mit dem Motorrad durch die entlegene Wüstenprärie, wobei sie einen Staubschweif hinter sich herzogen. Die zwei Studenten aus einem Vorort von Chicago erfüllten sich während der Semesterferien einen lang gehegten Traum, einmal quer durch die USA, von der Ostküste bis hinüber zur Westküste nach Kalifornien zu reisen. Dazu benutzten sie die Route 66, den wohl bekanntesten Highway von Nordamerika. Vom Bundestaat Illinois durchquerten sie Missouri, Kansas, dann durch Oklahoma sowie Texas und New Mexico. Beide waren bereits seit einer Woche unterwegs, nächtigten entweder in einem Motel oder zelteten irgendwo auf einem Campingplatz. Sie waren jung, sie wollten Abenteuer erleben und ihr Land kennen lernen. Als die beiden Freunde die Bundesgrenze von Arizona erreichten und es von dort aus eigentlich nicht mehr weit bis nach Los Angeles war, überredete Edward Scott seinen Freund dazu, die nördliche Route über Utah und dann durch Nevada zu fahren. Edward, der begeisterte Wilden Westen Fan, wollte unbedingt durch das Monument Valley düsen, um die Landschaft mit ihren charakteristischen Tafelbergen während der Fahrt zu bestaunen. Sie waren bereits in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, als es noch dunkel und erfrischend kühl war, und brausten gerade durch Nevada, mittendurch die menschenleere Mojave Wüste. Es würden noch einige Stunden vergehen und wieder schon längst dunkel sein, bis sie endlich die nächstliegende Kleinstadt erreichten, um sich dort von den Strapazen des langen Tages zu erholen.

Max war ein bodenständiger Kerl aus gutem Hause, der genau wusste, was er zukünftig im Leben erreichen wollte und studierte Jura, um später die Kanzlei seines Vaters zu übernehmen. Edwards schulische Leistungen dagegen waren im vergangenen Jahr dermaßen miserabel gewesen, sodass er sogar vom College verwiesen wurde, dies er aber weder seinen Eltern noch seinem Freund bisher gebeichtet hatte. Seine schulischen Leistungen hatten insbesondre im vergangenen Jahr rapide abgenommen, weil er von einem Buchverlag, dieser hauptsächlich sogenannte Dreigroschenromane publizierte, unter Vertrag genommen wurde. Mit diesem Arrangement konnte er seinen Lebensunterhalt zukünftig zwar unmöglich bestreiten, trotzdem war Edward deswegen keineswegs betrübt, als ihm diese fatale Nachricht persönlich vom Universitätsrektor übermittelt wurde. Im Gegenteil, es kümmerte ihm nicht und er war gar erleichtert. Denn nun konnte Edward sich völlig auf seinen Traum konzentrieren, auf seinen Traum, eines Tages ein weltberühmter Schriftsteller zu werden.
Grölend und laut lachend brausten die jungen Männer auf dem Motorrad durch die endlose Wüstenlandschaft. Rechts wie links neben dem verstaubten Highway türmten sich meterhohe Kakteen. Trotz dass es langsam Abend wurde, herrschte immer noch eine unerträgliche Hitze, doch der Fahrtwind war eine angenehme Abkühlung und weil weit und breit keine Cops in Sicht waren, hatten die Freunde sogar ihre Motorradhelme abgenommen. Plötzlich stotterte der Motor, die Geschwindigkeit verlangsamte sich und obwohl Edward den Gashebel kräftig durchdrehte, schaltete der Vierzylindermotor einfach ab. Langsam rollte die Kawasaki am Straßenrand aus, bis das Motorrad stehen blieb.
„Was ist los, Scotty?“, fragte Max.
Edward zuckte mit seinen Schultern, während er ständig den elektrischen Anlasser seines Motorrads betätigte.
„Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, was mit dem Bock los ist.“
Max stieg von der Sitzbank herunter.
„So eine Kacke aber auch. Und jetzt?“
Max zog seinen Rucksack ab und trat frustriert einen Stein über die sandige Straße. Zwischen den unzähligen, riesigen Kakteen funkelte zwar immer noch die Sonne hindurch, aber schon sehr bald würde sie hinter dem Horizont verschwinden. Während Edward verzweifelt versuchte sein Motorrad wieder zu starten, wanderte Max unruhig im Kreis herum und schaute sich blinzelnd um. Weit und breit war nichts anderes zu sehen als heller Sand, Gestein, vereinzelnde Gebirgsformationen und beeindruckend große Kakteen.
„Verdammt, ausgerechnet hier, irgendwo im Nirgendwo, muss der blöde Bock jetzt seinen Geist aufgeben“, moserte Edward griesgrämig, während er mit seinen Daumen pausenlos den Schalter des elektrischen Anlassers betätigte. Es nützte nichts, der Motor wollte einfach nicht mehr anspringen. Nachdem Edward die Zündkerzenstecker und Benzinschläuche kontrolliert hatte, schraubte er schlussendlich den Tankdeckel auf, um sich zu vergewissern, wovon er eigentlich überzeugt gewesen war. Das Ergebnis jedoch war ernüchternd, ja, gar erschreckend.
„Fuck, kein Sprit mehr. Nicht ein einziger Tropfen ist im Tank. Das gibt’s doch gar nicht!“
„Was soll das heißen, kein Sprit mehr? Willst du mich jetzt verarschen?“, fragte Max gereizt. „Ich dachte du hättest vollgetankt!“
„Hab ich ja auch!“, erwiderte Edward ebenso entnervt. „Du warst doch dabei und hast es selbst gesehen!“
„Hey, das war erst vor Zweihundertzwanzig Meilen, da kann der Tank jetzt unmöglich leer sein. Kein Motorrad auf der Welt schluckt in kürzester Zeit so viel Benzin!“
„Weiß ich doch selber. Wir hätten es normalerweise sogar bis nach Carson City geschafft!“
Max wankte mit dem Kopf. „Okay, Scotty. Du Trottel hast beim Tanken also irgendwie Scheiße gebaut. Na schön. Dann schalte eben auf Elektrobetrieb um und lass uns endlich weiterfahren. In Ordnung?“
Edward verzog seine Miene, während er sein langes Haar zu einem Zopf zusammenband.
„Tja, also … das geht nicht.“
„Wie, was … das geht nicht?“, fragte Max verärgert. „Erzähl doch kein Mist. Jedes benzinbetriebene Fahrzeug besitzt mittlerweile zusätzlich einen Elektromotor, um im Notfall wenigstens zur nächsten Tankstelle zu gelangen.“
Edward seufzte.
„Nicht mein Moped. Hey Kumpel, das ist eine alte Kawasaki, Baujahr 2025, also ein Oldtimer. Dieses Baby hatte ich im originalen Zustand gekauft und es nie umgerüstet. Es gibt keinen Elektromotor, wir fahren ausschließlich mit Benzin. Wir müssen also tanken, kapiert?“
Daraufhin blickte ihn Max verdutzt an.
„Das kann nicht dein Ernst sein. Du unternimmst mit mir einen Trip quer durch Amerika, sogar durch die verdammten Wüsten, mit einem Motorrad das ausschließlich mit Benzin fährt? Sag mal, bist du total bescheuert oder was? Amerika steckt seit zwei Jahren in einer Ölkrise. Sprit ist limitiert und man darf insbesondre hier, am Arsch der Welt, ausschließlich gegen Gutscheine tanken. Und es ist sowieso fraglich, ob die nächstgelegene Tanke in dieser gottverlassenen Gegend überhaupt über genügend Reserven verfügt!“, motzte er.
Edward griff in seine Lederjacke und zeigte ihm grinsend einen Ausweis.
„Bleib cool, Alter. Reg dich nicht immer gleich auf. Ich habe genügend Gutscheine parat und selbst wenn uns diese ausgehen, wird mir jede Behörde anstandslos neue genehmigen, weil mein Motorrad eben ein Oldtimer ist. Verstanden? Also, alles easy, alles kein Problem.“
„Was? Du denkst also, wir haben kein Problem?“, fuhr ihn Max zornig an und stellte sich provokant vor ihm. „Wir sind hier mitten in der Mojave Wüste, weit und breit ist kein Schwanz zu sehen und die nächste Tankstelle ist mindestens dreihundert Meilen weit entfernt. Da würde es sich sogar eher lohnen, wieder umzukehren. Fragt sich nur, wie! Sollen wir etwa laufen? Wären wir nur auf der Route 66 geblieben, so wie wir es von Anfang an geplant hatten. Du und deine dämlichen Sehenswürdigkeiten immer. Scheiße, Mann. Das haben wir jetzt davon!“, schnauzte er. „Es kann Tage, Wochen, ja, vielleicht sogar Monate dauern, bis jemand hier vorbei kommt. Und außerdem …“ – Max kramte hektisch in seiner Motorradjacke rum, holte eine quadratische Brille heraus und setze diese auf – „Ja, wie ich es mir dachte. Nothing, null Empfang, absolut gar nichts. Weder TV oder Radio, erst recht kein Internet und sogar der Notruf funktioniert nicht. Ganz toll, großartig … einsame Spitze. Und was machen wir jetzt? Das ist eine riesengroße Scheiße, sage ich dir!“

Nun zog auch Edward sein Smartglasses auf und versuchte ebenfalls eine Verbindung herzustellen. Aber es war vergebens. In dieser einsamen, abgelegenen Landschaft war ein GPS-Signal unmöglich zu empfangen.
„So ein Mist“, murmelte Edward vor sich her. „Kriege auch kein Signal rein. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass der Highway durch die Mojave Wüste von den Fernfahrern bevorzugt wird, weil hier selten Cops anzutreffen sind. Bestimmt wird bald ein Truck vorbei fahren, wirst schon sehen.“
Max zog seine Motorradjacke aus und feuerte sie auf den Boden. Sein T-Shirt war bereits nassgeschwitzt.
„Und was ist, wenn nicht? Wie du schon sagst, nicht einmal die Bullen machen hier rum. Wir haben nur noch eine Flasche Wasser, Kollege, und nichts zu essen. Das ist alles nur deine Schuld. Du hattest diese saublöde Idee, einen Abstecher durch Nevada zu machen, nur weil du dich wie John Brain fühlen wolltest. Und ich Depp habe wiedermal zugestimmt.“
„John Wayne, heißt der Kerl“, stellte Edward klar. „John Wayne, kapiert?!“
„Was?“, erwiderte Max genervt. „Ach, leck mich doch! Wenn wir aus dieser Sache wieder heile rauskommen, werde ich dafür sorgen, dass mein Vater dich auf Schadenersatz verklagt. Und diesmal meine ich es ernst!“, brüllte er.
Edward zeigte ihm den Mittelfinger.
„Ja, ja, du immer mit deiner lächerlichen Drohung mich zu verklagen, wenn uns ein Missgeschick passiert. Lass dir endlich mal was Neues einfallen.“
„Ach, fick dich doch!“, fauchte Max.
„Fick dich selbst“, konterte Edward gelassen.
Jetzt zog auch Edward seine Motorradjacke aus, legte sie ordentlich auf die Sitzbank und wischte sich mit seinem weißen T-Shirt, darauf die Fratze mit Hut des Daryl Barnes gedruckt war, der Psychopath aus der Nachtigall Serie von William Carter, den Schweiß aus seinem Gesicht. Er pustete, denn es wehte nicht das geringste Lüftchen. Selbst in dieser frühen Abendstunde herrschten immer noch Temperaturen von über vierzig Grad Celsius. Schließlich zählt der Oktober immerhin noch zum Spätsommer, und weil das Weltklima die Menschheit ohnehin seit über zwanzig Jahren mit extremen Temperaturen heimsuchte, wurde unter anderem darauf hingewiesen, die Mojave Wüste und Umgebung von Mai bis Oktober unbedingt zu meiden. – Durchfahrt auf eigene Gefahr! – wies ein Warnschild hin, welches unübersehbar am Anfang des Wüstenterritoriums aufgestellt wurde.
„Tja Max, wie es aussieht, werden wir hier wohl oder übel übernachten müssen“, bekundete Edward seufzend, nachdem er sich einen winzigen Schluck aus ihrer brühwarmen Wasserration gegönnt hatte. Dann setzte er erneut seine Multifunktionsbrille auf, aktivierte die Zoomfunktion und beobachtete die Landschaft. Insbesondre war er von dem weit entfernten Wüstengebirge fasziniert, weil ihn dieses beeindruckende Panorama an die Zeit des Wilden Westens erinnerte.
„Was für eine wundervolle Aussicht, welch eine faszinierende, unberührte Landschaft“, raunte er. Wieder zog er sich das T-Shirt über seinen mageren Bauch und tupfte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Stell dir nur vor, Max. Damals, im achtzehnten Jahrhundert, als die ersten Siedler mit ihren Planwägen und Gäulen nach Kalifornien reisten, hatten sie denselben Ausblick genossen.“
„Sag mal Scotty, tickt deine Matrix nicht mehr richtig, oder was? Wir sitzen hier ganz schön im Schlamassel und du, du denkst wiedermal nur an deinen Cowboy und Indianer Kram. Wir können hier draußen nicht übernachten … das-das geht nicht! Verstehst du?! Kannst du dir überhaupt vorstellen, was hier für gottverdammte Viecher nachts rausgekrabbelt kommen? Damit meine ich Skorpione, Taranteln, allmögliche Giftschlangen und weiß der Herrgott, was hier noch so kreucht und fleucht. Schon mal darüber nachgedacht?“, fragte Max zynisch. „Und selbst wenn wir die Nacht überstehen, wird uns spätestens morgen Mittag dasselbe Problem einholen, dass wir nämlich gar nichts mehr zum Saufen haben, Kollege!“

Minütlich wurde es düsterer, wenigstens sanken somit gleichzeitig auch die Temperaturen etwas. Edward und Max hatten sich mittlerweile mental darauf eingestellt, die Nacht irgendwo mitten in der Prärie zu übernachten und schlugen ihr Zelt auf. Es war für beide unerklärlich, weshalb ihnen das Benzin ausgegangen war. Es war weder ein Loch im Tank, noch ein sichtlicher Defekt am Benzinschlauch zu erkennen, als wäre das Benzin während der Fahrt einfach verdunstet. Aber ihre momentane Situation bescherte ihnen ein ganz anderes, ein viel schlimmeres Kopfzerbrechen als ihr magerer Wasservorrat. Sie besaßen zwar ein Feuerzeug, aber sie hatten in der Umgebung bislang nichts finden können, um ein Lagerfeuer zu entfachen. Die Sonne war bereits völlig hinter dem Wüstengebirge untergegangen, zum Glück schien aber der Vollmond recht hell und spendeten den jungen Männern ausreichend Licht. Beide hatten beschlossen, diese Nacht auf gar keinen Fall zu schlafen, denn sie besaßen nicht einmal einen Stock, um sich vor Wildtieren zu schützen.
Plötzlich hörten sie in der Dunkelheit das Heulen von Kojoten, dies immer lauter wurde und es anzunehmen war, dass sich ihnen unzählige Präriewölfe näherten. Edward und Max standen Rücken an Rücken und beobachteten angestrengt die dunkle Gegend. Es hörte sich wie eine Invasion an, als hätten sich mehrere Rudel zu einer Herde zusammengeschlossen. Die Kojoten hatten die wehrlosen Jungs längst aufgespürt und bereiteten sich systematisch vor, ihre Beute im Dunkeln zu attackieren. Die riesigen Kakteen warfen ihre dunklen Schatten auf den Highway und dazwischen erblickten beide bereits funkelnde Augen. Ängstlich vernahmen die Freunde rundherum bedrohliches Knurren und Gebelle – jetzt waren sie umzingelt. Max und Edward bangten um ihr Leben und bewaffneten sich mit Steine.
„Scotty, wir sitzen ganz schön in der Patsche. Wenn jetzt kein Wunder geschieht dann … dann weiß ich auch nicht“, sagte Max mit zittriger Stimme.
Doch plötzlich ertönten laute Kampfschreie, woraufhin die funkelnden Augen zwischen den Kakteen sofort verschwanden, und drei Pferde kamen wild wiehernd auf dem Highway angaloppiert, darauf bewaffnete Indianer mit ihrem Federschmuck hockten. Die Kojoten wurden verscheucht, jedoch nur vorerst.
Edward und Max blickten die Indianer erschrocken an und waren sich augenblicklich nicht sicher, ob dies nun ihre Rettung oder etwa eine neue, eine noch viel schlimmere Bedrohung für sie war. Der Vollmond leuchtete in dieser Nacht besonders hell, sodass die Indianer genau zu erkennen waren. Sie hatten lange schwarze Haare, ein Stirnband war um ihre Köpfe gebunden, daran Federn eines Weißkopfseeadlers steckten. Ein Weißkopfseeadler, das Symbol der USA.
Ihre Gesichter waren weiß geschminkt. Ihre Augenhöhlen, Nasen und Münder dagegen waren mit schwarzer Farbe bemalt. Ihre Gesichter sahen wie Totenköpfe aus und sie fuchtelten mit ihren Tomahawks und Speeren bedrohlich herum, während sie immer wieder laute Kampfschreie von sich gaben. Der Mutigste, zugleich auch der jüngste Krieger unter ihnen – dieser war ungefähr in ihrem Alter und sein langes, schwarzes Haar war zu dünnen Zöpfchen geflochten –, führte sein Pferd trabend auf sie zu. Er sah die Freunde mit seinen dunklen Augen gefährlich an und sprach etwas mit einer Sprache, dies sie nicht verstanden. Aber freundlich hörte es sich nicht an. Daraufhin geriet Max in Panik.
„Ach du Schreck, aus welchem Reservat sind die denn ausgebüxt? Scotty, was sollen wir jetzt bloß machen? Los, sag was, verdammt nochmal!“
„Was fragst du mich? Ich hab doch selber keine Ahnung!“, erwiderte Edward ebenso aufgebracht. Beide blickten völlig verängstigt auf die Indianer, die sie mit ihren nervösen Pferden umrundeten und dabei gefährlich drein schauten. Immer wieder hielten sie ihre Tomahawks in die Höhe und kreischten dabei. Der junge Indianer versuchte die jungen Männer einzuschüchtern, indem er die Zügeln seines Pferdes straff anzog, sodass sein Gaul auf die Hinterbeine stieg und direkt vor ihnen mit den Vorderhufen strampelte. Edward und Max zuckten zusammen, schützten mit den Händen ihre Gesichter und wichen einige Schritte zurück.
„Scotty, um Himmels Willen, tu irgendwas! Du bist doch der Wilden Westen Experte von uns Zweien. Du schreibst doch ständig darüber und musst wissen, was man jetzt in solch einer Situation macht!“
„Das ähm … das weiß ich jetzt auch nicht so genau“, gestand er seinem Freund kleinlaut.
„Erzähl mir kein Quatsch, Alter! Willst du mir etwa weißmachen, dass du ständig Geschichten über Cowboys und Indianer schreibst, aber in Wahrheit überhaupt keinen blassen Schimmer von dieser Materie hast? Die sind bemalt, die befinden sich bestimmt auf dem Kriegspfad, oder sowas. Die werden uns skalpieren und uns umbringen! Sag jetzt verdammt nochmal, wer die sind!“, fordert ihn Max mit erweiterten Augen ängstlich auf. „Sind sie die Guten oder die Bösen. Was wollen die von uns? Die sehen ja wie Gespenster aus.“
„I-ich weiß es nicht genau. Ich schätze mal, sie sind Mohave Indianer. Diese Wüstenregion wird auch Mohave-Wüste genannt, weil dies damals, zur Zeit des Wilden Westens, ihr Territorium war. Aber die Mohaven sowie auch die Sioux, Cheyennen, die Apachen und all die anderen Indianerstämme sind längst zivilisiert. Ich verstehe das selbst alles nicht. Nur in ihren Reservaten, ausschließlich für Touristen, repräsentieren sie ihre Kultur und zeigen sich in ihrer damaligen Montur“, erklärte Edward, während er die Indianer abwechselnd musterte. „Das ist keine Kriegsbemalung, die wäre nämlich rot und gelb. Weiße und schwarze Bemalung bedeutet ausschließlich, dass sie sich auf einen religiösen Trip befinden. Schaue ihnen nicht in die Augen, dies könnte sie vielleicht provozieren, und verhalte dich ruhig. Überlass das alles mir. Wir müssen cool bleiben, dann werden sie uns schon nichts tun … Hoffe ich jedenfalls“, fügte er verunsichert hinzu.
Leicht schlotternd starrte Max apathisch vor sich her, während Edward mutig versuchte mit den Wilden einen freundschaftlichen Dialog herzustellen. Er nahm behutsam seine Motorradjacke von der Sitzbank seiner Kawasaki auf, wobei er den Indianern abwechselnd in die Augen schaute, griff vorsichtig in die Innentasche und holte sein Smartglasses heraus. Dann streckte er seine Multifunktionsbrille dem jungen Krieger entgegen und deutete ihm an, dass er diese untersuchen dürfte. Edward hoffte, dass sie es als eine freundliche Geste auffassen würden.
Schließlich blickte der jüngste Indianer, der mit den geflochtenen Zöpfen, Edward mit seinen schwarz geschminkten Augen furchterregend an, fletschte seine Zähne, ließ erneut einen Kampfschrei los und führte seinen ungestümen Hengst nahe an ihnen heran. Dann entriss er Edward die Brille aus seiner Hand, hielt sein Tomahawk triumphierend in die Höhe und trabte zu seinen Artgenossen. Der Älteste von ihnen trug einen imposanten Federschmuck auf seinem Kopf, weshalb Edward davon ausging, dass dieser Indianer der Häuptling war. Der junge Krieger überreichte ihm die Brille, wobei er sich verbeugte, diese der alte Mann emotionslos entgegen nahm und sie begutachtete. Schließlich setzte der Häuptling die quadratische Brille auf, schaute sein Gefolge an und fragte sie etwas, was Max und Edward nicht verstanden. Angespannt verfolgten beide die Diskussion dieser Ureinwohner Amerikas.
„Ich glaube allmählich, diese Burschen sind echt“, flüsterte Edward seinem Freund zu. „Sie scheinen keinen blassen Schimmer zu haben, was sie da in ihren Händen halten. Heutzutage besitzt doch jeder ein Smartglasses, sogar die Indianer in ihren Reservaten. Lass mich das machen, ich regle das irgendwie.“

Die zwei jüngeren Indianer lachten den Häuptling plötzlich aus, als er die quadratische Brille aufgesetzt hatte, sie damit anschaute und etwas fragte. Doch der Alte blickte unbeirrbar, mit der Brille auf seiner Nase, nur grimmig drein, während er sich damit interessiert umschaute. Nun wurde Edward gegenüber den Indianern, aufgrund ihrer Heiterkeit, etwas mutiger. Er ging langsam auf den Häuptling zu und versuchte ihm zu erklären, wie der Zoommodus funktionierte. Daraufhin schleuderte der junge Krieger sofort einen Tomahawk meisterhaft gezielt vor seine Füße, sodass Edward sofort stehen blieb, und der andere Indianer spannte sein Kompositbogen und zielte mit ernster Miene auf ihn. Edward schluckte und ging langsam wieder einige Schritte zurück. Das Indianeroberhaupt aber grinste zaghaft und sagte etwas bestimmend, daraufhin galoppierten sie mit lautem Indianergeschrei in einer Staubwolke einfach davon.
Nachdem Edward und Max sich eine Weile verwundert angeblickt hatten, eilten beide ihnen hinterher und beobachteten, wie sie zu einer weit entfernten Felsenformation ritten, dort ein riesiges Lagerfeuer brannte. Nur anhand des hellen Vollmondlichtes und der flackernden Brandstelle erkannten sie, dass mindestens ein Dutzend Tipis um das Feuer herum aufgestellt waren. Dort stand sogar ein Planwagen samt Pferdegespann, was sie vermuten ließen, dass sich unter den Prärieindianern eventuell sogar Zivilisten aufhielten. Edward nahm an, dass es möglicherweise amische Glaubensanhänger sind. Dies wäre die einzige Erklärung weshalb dort ein Planwagen stehen würde, denn auch die Amischen leben von der Zivilisation völlig abgeschottet. Sie lehnen sogar heute noch jegliche Technologie sowie modische Bekleidung strikt ab und führen seit Generationen ein Leben, wie damals die ersten amerikanischen Siedler. Jedoch waren die Amischen hauptsächlich in Massachusetts anzutreffen und nur selten in Nevada oder in einem anderen Bundesstaat der USA.
Max tätschelte freundschaftlich auf Edwards Schulter, seufzte und sprach sein Mitleid aus.
„Oh Alter, das tut mir jetzt echt verdammt leid. Die haben deine Brille geklaut, die wirst du wohl nie wiedersehen. Scheiße, Mann. Kein Fernsehen mehr, keine Musik wirst du in der nächsten Zeit hören und was das Schlimmste ist, kein Internet und trotzdem wirst du monatlich bezahlen müssen. Ich hoffe für dich, dass du wenigstens deine Daten abgespeichert hast.“
„Macht nix, kein Problem“, antwortete Edward gelassen. „Auf meinem Smartglasses waren nur E-Books gespeichert, davon ich genügend Kopien habe. Und mein Vertrag läuft nächsten Monat sowieso aus.“
Mittlerweile waren die Temperaturen rapide abgesunken, sodass es den Freunden sogar trotz ihrer Motorradjacken etwas fröstelte. Edward schlug seinem Freund vor, zum Indianerstamm hinüber zu laufen, aber Max weigerte sich und schüttelte energisch mit dem Kopf.
„Du hast sie wohl nicht mehr alle. Ich hab echt kein Bock, mich am Marterpfahl massakrieren zu lassen“, meinte er mürrisch. Aber als sie plötzlich wieder das Geheul von Kojoten vernahmen, musste Max zähneknirschend eingestehen, dass es tatsächlich die einzige und sicherste Option war, sich schnellstmöglich zu den Mohave Indianern am Lagerfeuer zu gesellen, um diese Nacht unbeschadet zu überstehen.

Langsam und vorsichtig schritten sie durch das Indianerlager und sahen sich um. Das gewaltige Lagerfeuer knisterte und loderte meterhoch in die Höhe, wobei es eine angenehme Wärme ausstrahlte. Fremdartige Gesänge und euphorisches Geschrei, mit Getrommel begleitet waren zu hören. Erstaunt blickten sie auf unzählige geschmückte Indianer, mit ebenfalls weiß und schwarz geschminkten Gesichtern, die im Trance um das Lagerfeuer tanzten. Alte Männer mit faltigen Gesichtern, sowie alte und junge Frauen und Kinder hockten im Schneidersitz auf dem Boden. Emotionslos schauten sie die beiden Zivilisten an, wie sie freundlich nickend an ihnen vorbei gingen.
„Guten Tag miteinander. Hugh, alles klar bei euch?“, fragte Max verlegen lächelnd.
„Halt die Schnauze, Mann, und zeige ja nicht, dass wir Angst haben“, wies Edward ihn sogleich zurecht.
Max und Edward fühlten sich, als hätten sie eine Zeitreise unternommen und würden sich nun im achtzehnten Jahrhundert befinden. Plötzlich kam der junge Krieger, der mit den geflochtenen Zöpfen, bestimmend auf sie zu, rammte einen Speer vor ihren Füßen in dem Boden und deutete mit ernster Miene hinüber zum Planwagen. Edward runzelte die Stirn. Dort, auf einem Campingstuhl, hockte ein dicklicher alter Mann und rauchte mit dem Häuptling eine lange Pfeife. Sein Rauschbart war ergraut, er trug einen abgetragenen Cowboyhut, ein verschmutztes weißes Hemd und eine labbrige Cowboyhose mit Hosenträger. Auf seiner Nase lag eine Nickelbrille und in seiner Hand hielt er ein Buch. Er sah genauso wie die Indianer aus, als wäre er ein waschechter Cowboy aus der Zeit des Wilden Westens. Der alte Cowboy grinste und winkte die zwei jungen Männer zu sich heran, als er sie entdeckte.
„Na los, ihr zwei jungen Burschen, kommt her zu mir und setzt euch. Hier seid ihr in Sicherheit. Was führt euch in diese entlegene Gegend?“, fragte er mit seiner knurrigen Stimme.
„Na ja, uns ist der Sprit meines Motorrades ausgegangen und nun sitzen wir hier fest“, erklärte Edward. „Die Indianer haben uns vor den Kojoten gerettet.“
Der dickliche Mann sah ihn nur freundlich an. Im flackernden Licht des Lagerfeuers erkannte Edward, dass der alte Cowboy mit dem ergrauten Rauschbart grinsend eine Indianerpfeife rauchte. Als der Häuptling, der neben ihm ebenfalls auf einem Campingstuhl hockte, etwas fragte, antwortete der alte Cowboy in seiner Sprache und nickte.
„Setzt euch zu uns, der Häuptling der Mohaven heißt euch willkommen.“
Edward stutzte.
„Sind Sie amisch?“, fragte er, woraufhin der alte Cowboy lachte.
„Nein, gewiss nicht. Ich lebe schon seitdem ich denken kann in der Wildnis.“ Er breitete seine Arme auseinander. „Diesem Volk der Mohaven ist es einzig gelungen, unentdeckt zu bleiben. Sie sind die letzten ihrer Art, die ihre Kultur seit Jahrhunderten weiterleben. Keiner von ihnen hatte sogar jemals ein Auto aus der Nähe betrachtet“, lächelte er. „Die Flugzeuge, die sie am Himmel sehen, sind für sie stählerne Weißkopfseeadler.“
Während sie sich unterhielten, bereitete ein ebenfalls geschminkter Indianer – ein Bisonfell umhüllte seinen Körper – irgendwelche Kräuter mithilfe eines Mörsers zu einem milchigen Brei zurecht, diesen er dann zu einem Tee aufkochte und es in zwei ausgehölten Büffelhörner abfüllte, diese er zuletzt gegen den aufleuchtenden Vollmond hielt und dabei geheimnisvolle Zauberformeln aussprach. Schließlich überreichte der Medizinmann Edward und Max diese heiligen Mixturen und deutete beiden energisch an, dass sie es austrinken sollten.
„Was ist das für ein komisches Zeugs?“, fragte Max skeptisch und roch daran, während Edward das Büffelhorn ansetzte und es bedenkenlos austrank. Aber sogleich verzog er sein Gesicht und schüttelte sich dabei.
„Pfui Teufel, ist das vielleicht bitter“, meinte er angewidert.
„Aus einem Kaktus gewonnenes Meskalin“, antwortete der alte Cowboy grinsend. Dann nahm er seine eigene Porzellantasse, ließ sich einschenken und trank es ebenfalls aus.
„Na los, mach es wie dein Kumpel und trink. Du siehst, auch ich habe es getrunken. Es wird dich schon nicht umbringen“, forderte er Max auf, der äußerst misstrauisch drein schaute. „Du musst es trinken, ansonsten werden sie dich und deinen Freund wohlmöglich umbringen. Das ist kein Scherz!“, fügte er ernst hinzu. „Die Mohaven befinden sich zurzeit in einer Geisterwelt, wie sie es bezeichnen, und sie könnten in dir einen bösen Dämon erkennen. Dann werden sie euch beiden die Kehle durchschneiden, euch ausbluten lassen, damit das Böse aus euren Körpern entweicht und eure Leichen werden sie danach verbrennen. Und was danach übrig bleibt, also eure Knochen, werden sie zu Werkzeugen verarbeiten. Selbst das FBI wird dann vor einem Rätsel stehen, wenn sie irgendwann die Vermisstenanzeige eurer Eltern ernstnehmen und nachforschen. Niemand wird jemals eure Leichen finden. Schließlich habt ihr eure geplante Route kurzfristig geändert.“
Der alte Mann mit dem Cowboyhut nahm die lange Pfeife, die ihm der Häuptling entgegen hielt, paffte und fuhr fort.
„Falls ihr denkt, dass die Mohaven barbarische Mörder sind, dann irrt ihr euch gewaltig. Die Indianer glauben an ein ewiges Leben nach dem Tod, und würden euch nur von den bösen Geistern befreien wollen. Sie beabsichtigen euch also, zu retten. Ihr müsst verstehen, eure zivilisierte Welt ist ihnen völlig fremd, ihr seid wie Marsmenschen für sie. Max, du musst nicht unbedingt trinken wenn du dich absolut weigerst, niemand zwingt dich dazu. Vielleicht sehen sie ja auch gute Geister in euch und werden euch sogar anbeten. Ich persönlich jedoch würde dieses Risiko nicht eingehen“, lächelte er augenzwinkernd.
Max schaute nervös umher und strich sich über sein rasiertes, stoppeliges Haupt. Da nun Edward dieses Gebräu bereits anstandslos runtergeschluckt hatte, trank er es ebenso. Zwar sichtlich widerwillig, aber als Max sich umgesehen und in all die ernsten Gesichter der Indianer geblickt hatte, hatte auch er schließlich die fremdartige Mixtur hinunter geschluckt. Und auch er hatte sich angewidert geschüttelt.
„Scheiße Mann, was für ein ekelhaftes, abscheuliches bitteres Zeug“, sagte Max sogleich während er sein Gesicht angewidert verzog. „Ich glaube, ich muss gleich kotzen. Die Wirkung von Meskalin ist mit LSD vergleichbar. Ganz toll, Scotty. Ich bedanke mich recht herzlich für diesen wundervollen Trip durch Amerika. Deinetwegen werde ich nach unserem Urlaub jetzt drogenabhängig sein, falls wir das hier überhaupt überleben werden!“
„Ach, mach dir keine Sorgen. Du siehst, mir geht es gut. Das war nicht einmal Marihuana oder sowas, was wir getrunken haben, sondern bloß ein harmloser Kaktus“, winkte Edward schmunzelnd ab und hielt ihm seine Faust entgegen. Max lächelte zögernd und boxte mit seiner Faust leicht gegen die Seine.

Unterdessen, nachdem mittlerweile über eineinhalb Stunden vergangen waren und währendem sie sich mit allen Anwesenden prächtig unterhielten, entfaltete sich bei beiden allmählich die Wirkung des Meskalins. Zuerst nur ganz sachte, völlig harmlos, nicht der Rede wert. Sie bemerkten zuerst nur ein leichtes Schummern im Kopf, dass ihnen etwas schwindelig wurde. Sonst nichts. Max war es schließlich, der als Erster von einer plötzlichen sowie heftigen Übelkeit überrascht wurde. Er fühlte sich, als würde er im Kettenkarussell mit unglaublicher Geschwindigkeit im Kreis fahren, und diese Fahrt schien immer rasanter zu werden. Er stand abrupt auf und torkelte völlig benommen ziellos durch die Dunkelheit, kniete irgendwann mit letzter Kraft direkt neben einem riesigen Kaktus und übergab sich fürchterlich. Dann legte er sich mit ausgebreiteten Armen erschöpft auf den sandigen Wüstenboden und schaute in den sternenklaren Himmel. Das Kotzen hatte ihm die äußerst unangenehme Achterbahnfahrt ein wohltuendes Ende bereitet. Er spürte weder Wärme noch Kälte, weder Angst noch Hunger. Er fühlte sich wie Luft, als wäre er nur noch ein Geist. All seine menschlichen Bedürfnisse waren entschwunden. Noch nie zuvor hatte Max die Sterne sowie den Mond derart klar und deutlich wahrgenommen, wie in diesem Augenblick. Er lächelte benommen und starrte fasziniert hinauf zum Nachthimmel. Er betrachtete die Krater des Mondes und als er sich vorstellte, wie er dort schwerelos im silbrigen Sand wanderte, konnte er seinen gewichtslosen Spaziergang sogar spüren.
Jetzt war die rasante Achterbahnfahrt vorbei und ein neues, ihm völlig unbekanntes Tor öffnete sich und zeigte ihm den Weg in ein anderes Bewusstsein. Es war wie eine Explosion in seinem Kopf, die ihm all seine Fragen bezüglich des Universums gleichzeitig beantwortete. Wie ein gewaltiger Tsunami strömte eine unaufhaltsame Flut übersinnlichen Wissens auf ihn ein, sodass er nur noch mit den Augenlidern zuckte und vor sich her lächelte. Kurz darauf eilte ihm Edward hinterher, der verzweifelt seine Hand vor dem Mund hielt, stürzte genauso auf seine Knie und übergab sich ebenfalls. Nun schlug die psychedelische Auswirkung des Meskalins, von einem Augenblick auf dem Anderen, mit gewaltiger Kraft gnadenlos und unaufhaltsam zu. Kein Medikament auf Erden könnte sie jetzt augenblicklich in das reale Bewusstsein zurückholen.

Die lästige Übelkeit war mit dem Erbrechen sogleich verschwunden, nun fühlten beide sich rundum wohl, wie sie es selbst bezeichneten. Sogar der quälende Hunger war einfach verschwunden, dafür aber verspürten sie einen unbändigen Durst.
Sie hockten wieder am Lagerfeuer und während Edward sich interessiert mit dem Cowboy unterhielt, saß Max nur leicht schunkelnd da und lachte ständig. Max behauptete, er würde die Indianer als grün schimmernde Gestalten sehen, mit übergroßen Augen und riesigen Hakennasen, als wären sie Comicfiguren. Max behauptete japsend, dass die Indianer gar nicht real, sondern Geister wären. Längst verstorbene Menschen, dessen Seelen keinen Frieden finden und alle hundert Jahre stets am Tage ihres Ablebens erscheinen. Er brabbelte unverständlich, dass genau hier an dieser Stelle, in der Wüstenprärie, ihr Indianerstamm vor dreihundert Jahren, also im Jahre anno 1745, von der US-Kavallerie niedergemetzelt wurde. Max krümmte sich und lachte und lachte und lachte, bis ihm Tränen über seinen Wangen liefen. Egal, was man ihn auch immer fragte, selbst wenn man ihn nur anblickte, fing er zu lachen an. Max war dem psychedelischen Impact des Meskalins nicht gewachsen, es gelang ihm einfach nicht mehr sich zu artikulieren. Die andauernden Lachattacken zerrten dermaßen an seinen Kräften, bis er schließlich irgendwann seitlich umkippte und eine halbe Stunde später vor Erschöpfung kichernd einschlief.
Edward dagegen war hellwach, war völlig konzentriert und fühlte sich großartig, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er glaubte im Moment gar unsterblich zu sein. Auch er hatte diese Vision wahrgenommen, auch er sah die Indianer nur noch als grün schimmernde Gestalten. Fasziniert beobachtete Edward, wie die Indianer ihr heiliges Ritual vollzogen. Er sah ihnen gespannt zu, wie sie um das Lagerfeuer tanzten, wie die bemalten Krieger sich mit dem Rauch von Kräutern einhüllten, diese in Tongefäßen angezündet wurden, und sich dabei mit exotischen Gesänge in Ekstase brachten. Zugleich übermannte ihn ein zwanghaftes Mitteilungsbedürfnis. Edward plauderte ununterbrochen und gestand dem Cowboy seine intimsten Geheimnisse, obwohl er nicht einmal seinen Namen wusste, glaubte er mit ihm seelenverwandt zu sein. Schließlich erwähnte er stolz, dass er von einem Verlag als Autor engagiert wurde und ernsthaft eine Schriftstellerkarriere anstrebte. Sein Lebensziel war, ein weltberühmter Schriftsteller zu werden. Aber zugleich zweifelte er auch daran und meinte niedergeschlagen, dass es vielleicht nur ein unerreichbarer Traum bleiben würde. Heutzutage war es beinahe unmöglich, als Autor hauptberuflich sein Geld zu verdienen, weil dieser Markt völlig übersättigt war. Der letzte herausragende Schriftsteller, der mit seinen Büchern tatsächlich weltberühmt und steinreich wurde, war William Carter gewesen. Nach dieser Erkenntnis übermannte ihn eine unkontrollierbare Traurigkeit, sodass er ungehemmt weinte. Das Meskalin verursachte in ihm massive Gefühlsschwankungen, diese er nicht mehr zu kontrollieren vermochte.
„Und William Carter ist schon seit einundvierzig Jahren tot! Er hatte sich damals im Drogenwahn erhängt. Die ganze Welt verurteilte ihn damals, weil er seine behinderte Tochter im Stich gelassen hatte. Ich persönlich empfinde sein Schicksal tragisch und bedauernswert. Er tut mir unendlich leid! Ich liebe diesen Mann, er ist ein Genie!“, äußerte er sich zornig. Aber sogleich klang er wieder sanftmütig. „Ich weiß eigentlich gar nicht, was mit seiner Tochter geschehen ist“, meinte Edward, blickte dem Cowboy schwankend in die Augen und schniefte. „Seitdem ist es jedenfalls nur vereinzelten Autoren und Schriftstellerinnen gelungen, hin und wieder mal einen Bestseller zu schreiben. Aber ihre Namen sind längst vergessen, weil niemand mehr gedruckte Bücher herausbringen will, sondern nur noch digitale E-Books“, sagte Edward verachtend. „Irgendjemand müsste wieder seine Werke ausschließlich als Taschenbücher verlegen. Ein Buch hat Charakter, es ist ein greifbarer Gegenstand und für die Ewigkeit geschaffen. Wenn ich einen Roman in meinen Händen halte und es mit dem Daumen durchblättere, dann bin ich von der geistigen Arbeit überwältigt. Ein Buch unterstützt beim Lesen die Atmosphäre der Geschichte und regt meine Fantasie an. Ein E-Book dagegen ist für mich nur eine leblose Computerdatei, die man per Knopfdruck wieder für immer verschwinden lassen kann. Es ist nicht dasselbe, verstehen Sie?“
Der alte Cowboy mit dem Rauschbart lächelte und nickte, während er ihm interessiert zuhörte.
„Du würdest gerne dieser jemand sein, der das Buch wieder salonfähig macht, stimmt’s? Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?“, fragte er.
Edward nickte.
„Selbstverständlich. Seit Mitternacht ist es der einunddreißigste Oktober. Heute ist Halloween“, grinste er, „die Nacht der Geister, und so. Das ist doch nur noch Kinderkram. Moment mal …“ Edward starrte ihn erschrocken an. „Heute wäre der hundertste Geburtstag von William Carter, zugleich ist heute auch sein einundvierzigster Todestag. Aber es gibt keine Geister, niemand kann nach seinem Tod wiederkehren.“

Plötzlich nahm der Cowboy seinen abgegriffenen Hut ab und setzte ihm diesen auf. Edward gähnte ausgiebig und blickte mit dem Cowboyhut auf dem Kopf belämmert drein. Nun fühlte er sich ziemlich durchzecht und war sehr müde geworden. Etliche Stunden waren vergangen, bald würde die Morgendämmerung eintreten und die dunkle Nacht verdrängen. Die Wirkung des Meskalins hatte sich ganz langsam und unbemerkt aus seinem Körper geschlichen, doch die fantastischen Eindrücke, welche der Kaktus ihm hinterlassen hatte, würden für immer, wie eine Erinnerung, in seinem Gedächtnis bleiben. Ganz anders als beim übermäßigen Alkoholkonsum, wo erhebliche Gedächtnislücken vorhersehbar sind.
„Rate mal, wem dieser Hut vor sehr, sehr langer Zeit gehörte. Du interessierst dich doch für den alten Wilden Westen, vielleicht weißt du es“, sagte der Cowboy, während er ihn geheimnisvoll anstarrte. Edward nahm den Hut ab und begutachtete diesen beidseitig mit hochgezogenen Augenbrauen. Er überlegte. Zweifelsohne war es ein sehr alter Cowboyhut, schon ziemlich abgenutzt, und dieser wurde aus echtem Rinderleder angefertigt, genauso wie damals im Wilden Westen. In der Innenseite des Cowboyhutes entdeckte er eine gestickte Signatur: CW.
Edward zuckte mit der Schulter. „Keine Ahnung. Sagen Sie es mir.“
„Dieser Hut gehörte einmal Chester Winstor“, antwortete der Alte geheimnisvoll, beinahe flüsternd. Seine grünen Augen starrten ihn durchdringlich an und erst jetzt fiel Edward auf, dass er zwar ebenfalls von dem Meskalin getrunken, aber er sich die ganze Nacht über völlig normal verhalten hatte.
„Chester Winstor? Meinen Sie etwa den Schriftsteller Chester Winstor?“, fragte Edward verwundert.
Der Alte kniff seine Augen zu und nickte. Er tippte auf seine Nickelbrille und meinte, diese gehörte einst Jacob L. Stanwick. Dann hielt er ihm seine Hand entgegen und behauptete stolz, dass dies der Brillantring von Howard Robinson wäre. Edward Scott staunte, starrte fasziniert auf seine Hand und begutachtete diesen wertvollen Ring.
„Dieser gehörte wirklich Howard Robinson?“, fuhr es aus ihm ungläubig heraus. „Und dieser Hut, diese Brille, all das sind tatsächlich die originalen Eigentümer der legendären Schriftsteller des Teufels? Woher haben Sie diese Sachen?“, fragte er verwundert. „Sind die echt?“
Der alte Cowboy nickte lächelnd.
„Ja, mein Sohn, ich schwöre es. Ich bin nämlich ein Sammler und besitze Artefakte von berühmten Persönlichkeiten.“
Dann stieg er in seinen Planwagen, woraufhin Edward einen kurzen Blick auf unzählige Bücher erhaschte. Er öffnete eine Holztruhe und stieg schnaufend mit einem übergroßen Buch herunter, dieses Format dermaßen groß sowie schwer war, dass er es mit seinen Händen umklammern musste. Nachdem der Alte das imposante Buch behutsam auf dem Wüstenboden gelegt hatte, überreichte er Edward ein silbernes Etui. Das Lagerfeuer flackerte.
Als Scotty das Etui öffnete, blickte er auf eine schneeweiße Feder. Vorsichtig entnahm er die Schreibfeder aus dem roten, samtweichen Gehäuse heraus und bestaunte sie.
„Das, mein junger Freund, ist das Sahnestück meiner außergewöhnlichen Sammlung. Heute ist der hundertste Geburtstag von William Carter, und weil du so ein würdiger Fan von ihm bist, will ich dir seine Schreibfeder vermachen. Mit dieser Schreibfeder hatte er all seine Manuskripte geschrieben“, behauptete er nachdrücklich.
„Wow, echt stark“, raunte Edward begeistert während er die Schreibfeder musterte. „Und die gehörte wirklich dem berühmten William Carter?“
„So ist es, mein Junge. Aber es ist keine gewöhnliche, sondern eine magische Feder. Wenn du damit schreibst, wird jedes Buch ein Bestseller werden. Hundertprozentig! Sie wird deine Kreativität immens fördern und ich garantiere dir, dass es dir damit gelingen wird, in nur wenigen Tagen einen kompletten Roman zu schreiben. Niemals würdest du eine Schreibblockade erleben, sogar um die Rechtschreibung und Grammatik müsstest du dich nicht sorgen. Selbst die intellektuellen, äußerst anspruchsvollen Leser werden von deinen Büchern begeistert sein. Ich schwöre dir, dass sogar ein Analphabet mit dieser Schreibfeder erfolgreich sein könnte, aber jemand mit dem gewissen Talent, so wie es dir in die Wiege gelegt wurde, würde eine bahnbrechende Schriftstellerkarriere gelingen.“ Er deutete mit dem Finger auf ihn. „Stell dir nur mal vor, du könntest das Buch wieder in Mode bringen. Das wäre eine Revolution in der heutigen digitalen Literaturwelt. Du würdest eine Legende werden, was sagst du dazu? Probiere sie aus und überreiche dein Manuskript deinem Verlag, und sie werden dich groß rausbringen. Was hast du schon zu verlieren? Deine Zukunft, wie du mir erzählt hast, sieht nach deinem Versagen auf dem College sowieso nicht rosig aus. Dein Schicksal liegt jetzt wortwörtlich in deiner Hand“, grinste er und deutete mit dem Finger auf das aufgeschlagene Buch. „Du musst nur noch unter dem Namen des Willam Carters unterzeichnen, dann gehört die äußerst wertvolle Schreibfeder dir.“
Edward gähnte erneut und blickte konfus auf das übergroße, aufgeschlagene Buch. Die Bedingungen des Vertrages, oder was auch immer es bedeutete, war mit einer fremden Schrift geschrieben worden. Mit einer Schrift, die angeblich nur Engel verwenden, behauptete der Cowboy. Edward war äußerst müde und wollte nur noch seine Ruhe. Neben ihm hockte der junge Krieger, der mit den geflochtenen Zöpfen, und quatschte die ganze Zeit intensiv auf ihn ein, obwohl Scotty ihn schon seit über einer Stunde ignorierte, weil er einfach keine Kraft mehr dazu aufbrachte, irgendwie mit Händen und Füßen einen verständlichen Dialog herzustellen. Zudem nahm er ihn sowieso nur als eine Lichtgestallt, als eine Halluzination wahr. Und weil die Schreibfeder scheinbar umsonst war und diese offenbar einst William Carter gehörte, unterzeichnete Edward Scott mit seinem Namen. Daraufhin ertönte ein mächtiges Indianergeschrei; die Indianer tanzten wild um das Lagerfeuer und der Häuptling überreichte ihm die sogenannte Friedenspfeife. Edward verzog sein Gesicht, als er an der langen Pfeife zog und den Rauch inhalierte. Dann hustete er fürchterlich.
„Das war eine sehr gute Entscheidung, Edward James Scott. Eine äußerst gute Entscheidung“, sagte der Cowboy. Er nahm ihm den Hut ab und setzte sich diesen selbst wieder auf. „Dir wird ab sofort kein Unheil geschehen und du wirst niemals krank werden. Schon morgen früh, sobald du erwachst, werdet ihr eure Abenteuerreise problemlos fortsetzen. Der Tank deines Motorrades wird gefüllt werden – garantiert. Denn ab sofort steht dir persönlich ein Schutzengel beiseite, der dich bis zu deinem Lebensende, wie ein unausweichlicher Schatten, begleiten wird“, grinste der alte Mann.

Irgendwann öffnete Edward, der bäuchlings auf dem steinigen Wüstenboden lag, blinzelnd seine Augen und schaute sich verwundert um. Dann spuckte er den Sand aus seinem ausgetrockneten Mund während er zusah, wie ein kleiner Skorpion über seine Hand krabbelte. Erschrocken sowie angewidert schüttelte er das Spinnentier weg.
„Zieh bloß Leine, du Mistviech“, murmelte er.
Die Sonne strahlte hell am wolkenlosen Himmel und sonderte bereits am Vormittag wiedermal eine unerträgliche Hitze ab. Wohin Scotty auch in die Ferne schaute sah er, dass die Luft förmlich flimmerte. Max war ebenso aufgewacht, hockte erschöpft im Schneidersitz und hielt sich seine Hände vor das Gesicht.
„Mann, geht’s mir beschissen dreckig. Ich habe Kopfschmerzen wie die Sau“, jammerte er.
Edward dagegen fühlte sich erstaunlich gut, wie neugeboren, so, als wäre er gerade aus einem Swimmingpool gestiegen. Das riesige Lagerfeuer war ausgebrannt. Die verkohlten Holzbalken qualmten nur noch sachte vor sich hin, aber die Indianer und ihre Tipis sowie der Planwagen des Cowboys waren spurlos verschwunden. Völlig verwundert stellten beide fest, dass weder Fußspuren noch die Radspuren des Planwagens auf dem Erdboden zu sehen waren. Alles deutete daraufhin, dass beide die letzte Nacht alleine am Lagerfeuer verbracht hatten. Max glaubte, weil er das Meskalin eingenommen hatte, dass das alles nur eine Halluzination gewesen war.
„Ich schwöre dir, Scotty, die Indianer habe ich nur als Lichtwesen wahrgenommen. Als wären sie Geister, Seelen aus der Vergangenheit gewesen, die mit uns eine Halloweenparty gefeiert haben. Aber Geister gibt es nicht. Oder … oder etwa doch?“, fragte er unsicher.
Edward öffnete seinen Zopf, wuschelte seine Haarmähne auseinander und überblickte wortlos die Landschaft. Sie sind momentan von der Zivilisation komplett abgeschottet, waren der Natur letzte Nacht völlig ausgeliefert gewesen. Die Natur sowie das Universum verbergen so manche Geheimnisse, welche nicht einmal die klügsten Wissenschaftler eindeutig aufzuklären vermögen. Das Spektrum der Hyperphysik ist gewaltig und bleibt höchstwahrscheinlich ein unerforschtes Terrain.
Plötzlich entdeckte Edward sein Smartglasses auf dem Boden. Er lächelte, setzte seine Multifunktionsbrille auf und aktivierte den Zoommodus. Weit entfernt entdeckte er ein Fahrzeug, dieses von einer Sandwolke umhüllt war und angebraust kam.
„Hey Max, da kommt ein Truck angefahren. Und weiß du was …“, Edward zog seine Brille ab und grinste ihn an. „Es ist ein Tanklaster.“
Max jubelte daraufhin und tanzte im Kreis, bevor er grölend zum Highway hinüber rannte. Edward atmete erleichtert auf. Wahrscheinlich waren die Erlebnisse tatsächlich nur Halluzinationen gewesen. Möglich, so dachte er, dass sie tatsächlich am gestrigen Abend aus einem Kaktus etwas Wasser entnommen und es getrunken hatten. Die letzte Nacht war demnach nur ein Spuk, ein Hirngespinst gewesen. Doch dann spürte Edward einen Gegenstand in seiner Jeanshose und holte diesen verwundert heraus. Es war ein silbernes Etui und als er dieses öffnete, blickte er auf eine schneeweiße Schreibfeder. Nun wird es ihm endlich möglich sein, in die Fußstapfen von William Carter zu treten und ein weltberühmter Schriftsteller zu werden.
 
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