Wir schreiben das Jahr 1945
Episode 20
Der Hitlerjunge und die weißen Bettlaken
Seit einigen Tagen steht am Ende des Brühls eine Flak. Genau neben Stadelmanns Haus. Das ist doch was. Noch nie haben wir so ein Geschoss aus der Nähe gesehen. Nun weckt es unsere unbezwingbare Neugier. Immer wieder betrachten wir die Flak von allen Seiten. Wir klettern sogar darauf herum. Aber nur ganz unten. Toll ist, dass nirgends ein Soldat zu sehen ist. Der würde uns doch gleich wieder verjagen.
„Damit werden Flugzeuge abgeschossen“, sagt Trude. „Meine Schwester weiß das ganz genau“, freut sie sich. "Wir werden die Feinde besiegen."
„Ich will auch schießen“, verlangt Karlchen.
„Nur das nicht.“ Jutta macht ganz große ängstliche Augen. „Da sind die Menschen doch tot.“
Jutta versucht, Karlchen, der schon zum dritten Mal im Begriff ist, auf die Kanone zu klettern, festzuhalten.
„Lass mich!“, brüllt Karlchen. „Die Flugzeuge schmeißen doch sonst die Bomben. Und dann sind die Menschen auch tot.“
„Genau“, stimmt Trude zu. Sie hilft Karlchen wieder beim Klettern, „und dann bricht der Feuersturm los. Wie in Dresden. Und dann müssen wir alle sterben. So.“
„Und das wollen wir nicht“, sage ich, „da wäre Mami bestimmt sehr traurig. Wollt ihr das etwa?“
Jutta und Karlchen schütteln schuldbewusst ihre Köpfe.
„Gut. Und deswegen gehen wir jetzt nach Hause. Es gibt bestimmt gleich Abendessen. Und danach ins Bett mit euch“, bestimme ich.
„Man Rosi“, wehrt sich Jutta, „doch nicht gleich. Ich will nur noch schnell das lange Rohr anfassen.“
„Nichts da“, sage ich, „vielleicht ist da ja eine Kugel drin, die dann losgeht.“
„Und die fliegt dann irgendwohin. Auf ein Dach oder so“, freut sich Trude.
Widerwillig klettert Jutta von der Kanone. „Na dann morgen“, sagt sie.
Ich nehme Karlchen und Jutta an die Hand und wir trotten zu Brühl 18. Trude trottet missmutig hinterher. Bei ihr gibt es kein Abendessen. Ihre Mutter ist nie zuhause. Ihre große Schwester auch nicht. Jedenfalls nicht am Abend. Und Trude weiß nie, wo sie sind. Manchmal darf sie bei uns mit zu Abend essen. Aber heute nicht.
Wenn ich heute alleine gewesen wäre, wäre ich bestimmt auch ganz hoch auf die Kanone geklettert und hätte sie genau untersucht. Aber ich musste ja Jutta und Karlchen mitnehmen und aufpassen, dass die keine Dummheiten machen. Sonst bekomme ich wieder die Mecker.
Zum Glück durfte Bertraud Johanna zu Hause bleiben. Sie hat gerade so schön geschlafen. Dafür kam Trude. Und meistens gibt es mit ihr Streit.
Seit Kurzem ist Bärbel meine Freundin. Sie ist in meiner Klasse und sitzt neben mir. Sie hat zwei Geschwister. Monika und Peter. Der ist der Älteste. Die Firmes wohnen in dem ersten Haus ganz oben am Brühl. Der Vater ist Schneidermeister. Und die Mutter ganz dick. Else sagt, sie sei krank. Mit Bärbel gibt es nie Streit.
*
„Weiß du was Rosi“, Else schaut sinnend vor sich hin. Dann rafft sie ihr Häkelzeug zusammen. Also die weiße und rosa Wolle. Und natürlich die Häkelnadel.
Else legt die Wolle in den Korb neben den Korb mit den Groschenromanen. Der Schundliteratur. Wie Richi sagt. Else nennt den traurigen Richard jetzt Richi. Doch das hilft auch nichts. Richi sieht trotzdem aus, wie der traurige Richard. Und er kämmt immer noch seine dünnen, schwarzen Haare von links nach rechts über seine Vorderglatze. Schade ist nur, dass er nicht mehr so oft seine schönen Lieder singt. Das liegt vielleicht auch daran, dass ihn Else nicht mehr dazu auffordert. Auch sie hat nur noch selten Lust, zu singen und auf dem Harmonium zu spielen.
„Ich bin zu traurig“, sagt sie oft. „Und Richis Lieder machen mich noch trauriger.“
Also lassen wir es lieber. Was allerdings auch traurig ist.
Ich nehme Else sowieso übel, dass Richard jetzt hier bei uns im Haus wohnt. Er passt nicht. Kein Vergleich mit Karl. Meinem schönen Vater. Der gehört hier her. Wenn er da ist, wird alles gleich viel schöner. Glanzvoller. Vertrauter. Wo steckt er nur. Else scheint ihn ja schon vergessen zu haben.
„Weißt du was Rosi“, wiederholt Else.
„Nein“, sage ich mürrisch, „ich weiß nichts.“
„Als ich ein Jahr alt war“, ignoriert Else meine Antwort, „begann der Erste Weltkrieg.“
„Na und“, erwidere ich. Mit meinen Gedanken noch bei meinem Vater.
„Und als du ein Jahr alt warst“, lässt Else sich nicht beirren, „begann der Zweite Weltkrieg.“
„Und dann kommt der dritte.“
„Aber Rosi“, sagt Else erschrocken, „wie kannst du nur so reden. Das hört sich ja an, als ob du denkst, dass Kriege normal sind.“
„Sind sie auch“, trumpfe ich auf. „Der Schmids hat doch selbst gesagt, dass wir das Kriegsgen haben. Und es schon immer Kriege gegeben hat. Es kommt nur darauf an, wer siegt. Denn der hat die Macht.“
„Das kann schon sein“, stimmt Else zu. „Aber viel schlimmer ist das Leid der Menschen. Das wird immer wieder vergessen.“
„Und du hast unseren Vater vergessen“, schreie ich Else an. „Und dafür den blöden Richard genommen! Den Richi.“ Wütend springe ich vom Sofa. Else wollte mir eigentlich zeigen, wie man häkelt. Aber das hat sie wohl auch vergessen. „Und der schläft sogar in deinem Bett. Das habe ich genau gesehen“, setze ich noch eins drauf. „Und er hat immer weiße Nachthemden an. Und er hat am ganzen Körper schwarze Haare. Wie ein Affe! Echt ekelig.“
„Aber Rosi.“
„Und das petze ich alles Papa“, weine ich los. „Wenn er nach Hause kommt.“
Else starrt mich mit großen Augen und offenem Mund fassungslos an.
Ich lache hysterisch und knalle die Tür zu.
So. Das war‘s mit gemütlich erzählen. Und besonders häkeln lernen. Wenn wir schon mal Zeit haben. Und die Kleinen alle schlafen. Ich darf ja neuerdings eine Stunde länger aufbleiben. Weil ich schon ein Schulkind bin. Doch das nützt gar nichts. Denn seit der Richi bei uns eingezogen ist, streiten Else und ich noch öfter als vorher. Klar hat Else jetzt weniger Arbeit. Und auch mehr Geld. Richi arbeitet jetzt bei Vetter. In der Landmaschinenfabrik. Gleich neben dem Bahnhof. Als Dreher. Obwohl er eigentlich Schlosser ist. Und ein Illegaler. Ein Kommunist. Kommunisten und Juden sind verboten. Die gehören nicht zum Volk. Die will der Führer nicht in seinem Reich. Die werden eingesperrt und müssen für wenig Geld und wenig Essen arbeiten.
Trotzdem muss der Richi nicht in Elses Bett schlafen. Wir haben ja noch die Kammer. Die steht leer. Seit Helga weg ist.
Schnell laufe ich über den Flur die Treppe hinauf. Im Verschlag hocke ich mich unter das Dürerbild mit dem braunen Feldhasen und schluchze traurig vor mich hin. Da muss ich wohl eingeschlafen sein. Mitten in der Nacht wache ich auf und schleiche in die Kammer. Jutta und Karlchen schlafen friedlich. Ich ziehe die Bettwäsche ab und lege mich in das Inlett.
*
Am nächsten Abend bringt Richi zwei Genossen mit. Sie setzen sich an den ovalen braunen Tisch. Else bringt auf einem silbernen Tablett eine große Kanne Tee und vier Gläser. Dann verschwindet sie in die Küche und kommt mit einer Schüssel Plätzchen zurück. Sie zieht die blaue Lampe mit den gelben Blumen näher zum Tisch und sagt: „Greift zu. Lasst es euch schmecken. Und trinkt ein Glas Kräutertee.“ Sie lacht. „Mit Kräuterschnaps kann ich leider nicht dienen.“
Richi und die zwei Genossen lachen auch. Sie trinken den Tee. Essen die Plätzchen und lassen es sich schmecken. Dafür ist Geld da. Für Schuhe, Baumwollstrümpfe und unkratzige Bettwäsche vom Schwarzmarkt nicht.
Ich mache mich in der dunkelsten Ecke auf dem Sofa ganz klein. Keiner hat gemerkt, dass ich noch da bin. Und jetzt will ich auch nicht mehr gehen. Obwohl es schon fast dunkel ist und ich längst im Bett sein sollte.
Die Genossen holen aus ihren Aktentaschen einige Bücher und Zettel hervor. Auch zwei Zeitungen sind dabei. Sie breiten alles feierlich auf dem Tisch aus. Dann lesen sie sich gegenseitig vor, was auf den Blättern steht. Allerdings sprechen sie so leise, dass ich kein Wort verstehen kann.
Nach einiger Zeit stehen alle drei auf. Sie packen die Hefte wieder in ihre Aktentaschen und verabschieden sich von Else.
„Ihr seht“, sagt der eine Genosse, „der Krieg ist zu Ende. Er ist verloren. Wie voraus gesagt. Die Alliierten stehen vor Buchenwald. Die Tore sind geöffnet. Die Häftlinge haben sich selbst befreit. Der Aufstand ist gelungen. Und zwar ohne dass ein Schuss gefallen ist. Und an vorderster Stelle stehen die Kommunisten und Sozialdemokraten. Dank der Hilfe der Sowjetunion. Der Roten Armee. Die Naziverbrecher verlassen scharenweise das sinkende Schiff.“
„Und die Häftlinge?“, fragt Else. „Die könnten doch jetzt auch raus.“
„Ja. Könnten“, erwidert der andere Genosse. „Aber wohin. Es sind doch Russen, Polen und Juden aus aller Welt. Und die vielen Flüchtlinge. Die haben kein Zuhause mehr. Nein, nein, das muss alles neu organisiert werden.“
„Die Amerikaner sind also schon ganz nah“, flüstert Else. Es klingt, als hätte sie große Angst davor. „Was wird dann mit den Nazis, mit der Regierung, die dieses schreckliche Leid zu verantworten haben.“
„Jetzt warten wir erstmal einmal ab“, will Richard Else beruhigen. „Dann werden wir sehen, ob sich Hitler und sein Gefolge der Verantwortung stellt.“
Else und Richi begleiten die Genossen zur Tür. Ich husche schnell aus meinem Versteck. Ich muss ja vor Else und Richi in der Kammer sein. Sonst müsste ich durch das Schlafzimmer. Und das will ich natürlich nicht riskieren.
*
Drei Tage später ertönt schreckliches Sirenengeheul. Es will gar nicht mehr aufhören. Beginnt immer von Neuem.
„Aufstehen!“, schreit Fräulein Roth. Sie steht stramm und streckt ihren Hitlerarm aus.
Die Klasse steht auf. Wir strecken auch unseren Arm aus.
„Heil Hitler!“, brüllt Fräulein Roth.
„Heil Hitler“, antworten wir im Chor.
„Es ist Alarmstufe eins“, sagt Fräulein Roth etwas ruhiger. „Verlasst sofort den Klassenraum.“
Gehorsam stürmen wir Kinder aus dem Klassenraum. Sofort. Ohne Mappe und Jacke. Jedes Kind in seine Richtung. Bärbel nimmt mich an die Hand. Sie ist einen Kopf größer als ich. „Los, schneller“, schreit sie. „Über uns sind die Bomber.“
Für einen Luftschutzkeller ist keine Zeit mehr. Bärbel ist in ihrem Haus verschwunden. Das ist die Nummer 1. Ganz oben am Brühl.
Else steht in Brühl 18 in der Haustür. Erleichtert zieht sie mich in den Flur. Nach fünf Minuten gibt es Entwarnung. Gleich nach dem Abendessen heulen die Sirenen erneut auf. Diesmal noch länger und bedrohlicher.
Wir können nicht sprechen. Die Luft ist noch stickiger geworden. Beizender Qualm nimmt uns den Atem.
Jutta und Karlchen hocken ängstlich in der Stube auf dem Sofa. Betraud Johanna spielt im Laufgitter mit ihren Bausteinen. Richard ist immer noch auf Arbeit. Unter uns wackelt der Fußboden. Die Türen scheppern. Die Fensterscheiben klirren wie verrückt. Im oberen Stock scheinen sie aus dem Kitt gefallen zu sein. Es dauert eine Weile, bevor Else und ich begreifen, dass die Flak unten am Brühl ihre Geschosse abfeuert.
„Schrecklich, schrecklich“, bringt Else mühsam heraus. „Gott beschütze uns.“
Nach einer halben Stunde wird es ruhiger. Allmählich verzieht sich auch der Qualm etwas. Wir können wieder ruhiger atmen.
"Es ist vorbei", sagt Else erleichtert und nimmt uns in die Arme."Gott sei Dank." Da klopft es wie wild an die Tür.
„Mach auf“, sagt Else. "Es ist bestimmt Frau Schmids."
Vor der Tür steht wirklich Frau Schmids. Sie ist leichenblass und zittert am ganzen Körper. Ich wage mich kurz vor die Tür. Himmel und Erde haben eine Farbe. Alles grau. Rußgrau. Und es stinkt nach Ruß.
Frau Schmids torkelt in die Stube. Ich schließe schnell die Haustür und folge ihr.
„Die haben ein Flugzeug abgeschossen“, stammelt Frau Schmids. „Oben am Loh. Das hat die Stadelmann gerade gesagt.“
Else sagt nichts. Sie zieht die blaue Lampe mit den gelben Blumen herunter. Doch es bleibt dunkel. Gespenstig dunkel. Es gibt natürlich keinen Strom. Bei Fliegeralarm gibt es nie Strom. Da wird das Heizwerk abgeschaltet.
Bertraud Johanna fängt an zu weinen.
„Ich hol das Fläschchen aus der Grude“, sagt Else.
Frau Schmids zupft an ihren Löckchen unter dem bunten Kopftuch und nickt zustimmend.
„Und für uns mach ich einen Muckefuck“, sagt Else zu Frau Schmids. Und zu uns gewand, „und für euch hab ich noch Milch.“
*
Am nächsten Tag hallt es durch alle Lautsprecher der Stadt: „Hier spricht der Bürgermeister. Hier spricht der Bürgermeister! An alle Buttstädter. Der Krieg ist zu Ende. Die Amerikaner sind auf der Durchreise nach Buttstädt. Ergebt euch. Lauft den Amis mit weißen Betttüchern entgegen. Leistet keinen Widerstand. Das ist die einzige Chance für einen Neubeginn. Nazideutschland ist zerschlagen! Ergebt euch.“
Plötzlich ist die Stadt voller Menschen. Besonders der Marktplatz. Alte und Kinder. Und natürlich die jungen Frauen. Mit ihren kleinen Kindern an den Händen oder auf dem Rücken. Die vielen Arbeiter von Vetterling und Lotholz stehen in Grüppchen etwas abseits eng beieinander. Auch die Arbeiter von Vetter sind da. Und Richi ist mitten unter ihnen. Die zwei Genossen, die ich bei uns gesehen habe, stehen in der Nähe des Bürgermeisters. Es sieht aus, als wollten sie ihn beschützen. Alle sind still. Viele weinen. Kein Jubel ist zu hören.
Vor der Rathaustür steht der Bürgermeister auf einem Podest. Er ist schon alt und hat einen krummen Rücken.
„Wer in der Lage ist“, bittet er fast durch sein Megafon, „laufe den Amis entgegen. Schwenkt die weißen Fahnen. Die Bettlaken, meine ich. Ergebt euch. Ihr wollt doch wohl nicht, dass unsere schöne mittelalterliche Stadt zerschossen wird.“
Nein, das will niemand. In die Menge kommt Bewegung. Zuerst laufen die Kinder los.
„Beeilt euch“, sage ich zu Jutta und Karlchen. „Wir holen die Bettlaken aus Mamas Bett. Die sind weiß.“
Plötzlich steht neben dem Bürgermeister ein Junge in SA-Uniform. In seinen Händen hält er eine Maschinenpistole. „Rührt euch nicht vom Fleck“, schreit er über den Marktplatz. Wütend zielt er in die entsetzte Menge. „Der Führer hat befohlen, bis zum letzten Mann zu kämpfen“, schreit er weiter. „Wir müssen unser Vaterland verteidigen. Wer das nicht tut, ist ein Volksverräter!“
Jetzt wird es noch stiller auf dem Marktplatz. Es scheint, als sei die ganze Welt erstarrt. Alle Menschen sehen zu dem Jungen, der bedrohlich die Maschinenpistole auf die Menge richtet. „Heil Hitler!“, brüllt der jetzt. „Nieder mit den Volksverrätern!“
Ganz langsam dreht sich der Bürgermeister zu dem Jungen. „Ruhig, mein Jung“, spricht er den Jungen an. „Das werden wir tun. Aber gib das Ding da her.“ Blitzschnell nimmt er die Maschinenpistole in Besitz. Der Junge lässt es widerstandslos geschehen. Ihm laufen die Tränen übers Gesicht. „Aber der Führer hat es befohlen“, schluchzt er. „Bis zum letzten Mann.“
*
Die Menschen atmen erleichtert auf. Ein Raunen geht durch die Menge. Das ist ja noch einmal gut gegangen.
Erleichtert sausen wir in Brühl 18. Wir ziehen die Bettlaken von Elses Bett und rennen den langen Weg bis zur Weimarer Straße. Hier verharren wir. Kein Militär ist zu sehen. Inzwischen haben sich immer mehr Kinder zu uns gesellt. Auch einige alte Männer.
„In der ganzen Stadt sind die weißen Fahnen gehisst“, sagt ein ganz Alter. „Los Kinder, gehen wir weiter. Begrüßen wir die Amis. Ob wir wollen oder nicht. Wichtig ist, dass der verdammte Krieg zuende ist.“
"Er ist ja noch nicht zuende", widerspricht ein Mann, der hinter ihm geht. "Heute ist der 12. April. Berlin ist noch nicht eingenommen. Die Rote Armee steht aber schon vor den Toren. Und in Erfurt und Gera wird auch noch gekämpft. Alle ergeben sich nicht sofort. Wie wir."
Ein großer Junge stimmt dem Mann zu. "Die eingekesselten Truppen bei Halbe", sagt er, "das ist südlich von Berlin, sollen sich noch immer erbitterte Kämpfe mit der Roten Armee liefern."
"Du bist ja ein ganzer Schlauberger", lächelt der Mann, "woher hast du denn diese Weisheiten."
"Das sagen die Kommunisten", erwidert der Junge. "Aber das ist geheim. Und bei den Kämpfen sollen schon fast sechzigtausend Menschen ums Leben gekommen sein."
"Kämpfen macht keinen Sinn mehr." Der Alte wischt sich mit einer Hand über sein ausgemergeltes Gesicht. "Wo der Krieg doch schon lange verloren ist. Wir machen es richtig. Unser Bürgermeister ist ein sehr weiser Mann." Der Alte humpelt weiter. "Die Jugend kann nichts dafür", murmelt er. "Sie ist so erzogen. Die Treue zum Führer geht ihr über alles."
Wir rennen mutig weiter und schwenken unsere weißen „Fahnen“. Am Weitesten Hügel, dort, wo die Abzweigung rechts nach Kölleda und links nach Weimar ist, sehen wir die Panzer anrollen. Meine uralte Linde steht wie ehedem unbeweglich auf dem Hügel. Unter sich ihre jahrhundertealten Geheimnisse.
Die Panzer kommen immer näher. Wie auf Kommando drehen wir plötzlich um. Laufen den Weg zurück nach Buttstädt. Immer die Panzer im Rücken. Am Ende des Brühls bleiben wir stehen. Übermütig, aber auch etwas ängstlich, schwenken wir noch immer unsere weißen Ergebungsbettlaken.
***
Fortsetzung in Episode 21