Episode 16
Der Sündenpfuhl und die kurze Lehre
Nachdem Else Walti und Gitti in die Kammer zum Schlafen gebracht und auch Jutta, Heinzi und Bertraud Gute Nacht gesagt hatten, wartete Rosi geduldig auf Elses Wörtchen. Also eine Standpauke. Für ein Vergehen, dass für sie kein Vergehen war.
Normalerweise hätte Rosi nach dem Abendessen den Abwasch gemacht. Heute allerdings nicht. Heute war sie sauer. Aber echt.
Wenn Rosi an die zwei Ohrfeigen dachte, die Else Max verabreicht hatte, kroch ganz langsam, so von den Zehen aufwärts, die Wut in ihr hoch. Bestimmt hatten die Nachbarn im Brühl Elses Ausraster mitbekommen. Sie konnte sich ja nicht mehr blicken lassen. Und Max unter die Augen treten schon gar nicht.
Rosi fand es ganz toll, dass Max ihr so geschmeichelt und gesagt hatte, dass sie das schönste Mädchen in ganz Buttstädt sei. Natürlich glaubte sie ihm kein Wort. Denn sie selbst fand sich überhaupt nicht schön. Mit ihren zotteligen rotblonden Haaren. Den grünen Augen und den Sommersprossen auf der Nase und den Wangen. Außerdem war sie ziemlich klein und dünn. Und von einer schönen Brust war auch noch nicht zu erkennen. Wie bei den meisten anderen Mädchen in ihrer Klasse. Und deshalb fand sie die Schmeichelei ganz süß von Max. Egal ob er es so gemeint hat oder nicht. Und die Überreaktion von Else war sehr ärgerlich.
"Mach nicht so ein dummes Gesicht", riss Else Rosi aus ihren Gedanken. "Was hast du dir dabei gedacht, dich mit Max in Haustürecken herumzuknutschen?" Noch immer verärgert, setzte sich Else Rosi, die noch auf ihrem Platz am Tisch saß, gegenüber. "Was sollen nur die Leute denken?", sagte sie vorwurfsvoll. "Das geht doch rum, wie ein Leuchtfeuer. Du bist doch noch ein Kind."
"Wir haben uns nicht geknutscht", sagte Rosi kleinlaut.
"Nicht?"
"Nein."
"Es sah aber so aus. Was habt ihr dann gemacht?"
"Nichts."
"Was nichts?"
"Na, nichts."
"Und warum standet ihr dann in der Tür?"
"Weil Max mich da rein gezogen hat."
"Einfach so?"
"Nein. Nicht einfach so."
"Warum dann?", wurde Else noch ärgerlicher. "Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen."
"Max wollte", brachte Rosi mühsam heraus, "dass ich heute Abend zum Kleffer komme."
"Das fehlte noch", sagte Else aufgebracht. "Das wird ja immer schöner. Und dann wundern sich die Leute, wenn Kinder Kinder kriegen. Und zwar uneheliche." Empört zog Else eine Haarnadel aus ihrem dicken Haarknoten im Nacken. Und sofort umhüllten ihre dunklen Haare ihr leicht gerötetes Gesicht. "Ich jedenfalls will nicht, dass du in so eine Gefahr gerätst", sagte Else.
Else sah Rosi mit ihren großen, graugrünen Augen streng an. "Hast du das verstanden Rosi?", fragte sie dann. Und es klang wie ein Befehl. Ein Befehl. Den man um jeden Preis befolgen musste.
"Ja, aber .. . ", stotterte Rosi, "bekommt man denn vom Kribbeln im Bauch ein Kind?", fragte Rosi unsicher. "Oder vom Knutschen in der Haustür?"
"Nun mach aber mal halblang", erwiderte Else. "Das nicht. Aber so fängt es an."
"Na also", sagte Rosi. "Wir haben nicht geknutscht. Max hat nur gesagt, dass ich das schönste Mädchen in ganz Buttstädt sei."
"Hahaha", lachte Else laut los und steckte ihre Haare wieder auf. "Das hat er gesagt? Der Max."
"Genau."
"Der Schmeichler", lachte Else noch immer. "Der ist doch kaum älter als du? Und du glaubst ihm?"
"Natürlich nicht", sagte Rosi. "Wir haben ja einen Spiegel."
"Na also", beruhigte sich Else langsam. "Lass dich nicht betören. Wenn die Zeit reif ist, kommt der Richtige für dich. Und jetzt zu einem anderen Thema."
Also war die Standpauke zu Ende. War ja nicht so schlimm. Das andere Thema war, dass Else eine Lehrstelle für Rosi besorgt hatte. Und zwar in der Ziegelei in Kölleda. In der Töpferei.
"Das wird dir gefallen", war Elses Meinung. "Du hast doch schon immer gerne etwas aus Lehm geformt, gebrannt und bemalt. Und sogar Geld damit verdient. Mit den wunderschönen Murmeln", sagte sie anerkennend. "Die Töpferei ist bestimmt etwas für dich."
*
So kam es, dass Rosi Töpferlehrling wurde.
Gleich am Eingang, vor dem riesigen Gelände der Ziegelei in Kölleda, wehte fröhlich die Fahne der DDR neben der Fahne der Sowjetunion. Hinter dem schweren Eisentor.
Es gab zwei Ausbildungszweige. Eine Ausbildung zum Töpfer. Die andere zum Ziegeleifacharbeiter. Die Töpferei befand sich zwischen der Berufsschule für die Lehrlinge und den zwei Lehrlingswohnheimen. Eines für die Jungen. Eines für die Mädchen.
Für Rosi begann eine aufregende, fröhliche Zeit. Sie war weg von Brühl 18. Und das Gefühl von Freiheit überwältigte sie jedesmal aufs Neue. Schon in der zweiten Woche durfte sie an die Drehscheibe. "Du hast Talent Mädchen", lobte sie der Ausbilder. "Weiter so. Und du wirst eine gute Gestalterin."
Frühstück- Mittag- und Abendessen gab es in der Betriebskantine. Die Lehrlinge brauchten sich um nichts zu kümmern. Nach der Schule oder der praktischen Arbeit begann ein fröhliches Jugendleben. Die Jungen und Mädchen trafen sich dann im Kulturhaus der Ziegelei. Hier konnte man sich Filme anschauen. Basteln. Malen. Zeichnen. Im Chor mitsingen. Oder Sport treiben.
Für alle Interessen war gesorgt. Getränke gab es auch. Jedoch keine alkoholischen für die Lehrlinge. Die gab es erst ab achtzehn Jahren. Und die Lehrlinge waren zwischen vierzehn und sechzehn Jahren.
Rosi war erst dreizehn. Und weil sie die Jüngste war, hatte sie schnell ihren Spitznamen weg. Sie war das Püppchen. Das Püppchen, das man verwöhnen konnte. Und lieb hatte. Ohne etwas dafür tun zu müssen.
Das war eine ganz neue Erfahrung für Rosi. Sie war nicht mehr die Älteste. Diejenige, die für alles verantwortlich war. Besonders für ihre jüngeren Geschwister. Sie war einfach nur da. Sie war, wie sie war. Und fand schnell Freunde.
Am Abend saßen die Lehrlinge gemeinsam auf der Terrasse und sangen nach den Akkorden einer Gitarre, die ein Lehrling hervorzauberte, ihre Lieblingslieder. Zum Beispiel das Lied vom kleinen Trompeter. Oder
'Eines Morgens in aller Frühe Bella Ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao
Eines Morgens in aller Frühe trafen wir auf unseren Feind. Partisanen, kommt nehmt mich mit ... "
Rosis Lieblingslied war:
'Von den Bergen rauscht ein Wasser'
Von den Bergen rauscht ein Wasser
Wollt es wäre kühler Wein
Kühler Wein der soll es sein
Schatz mein Schatz ach könnt ich bei dir sein
In dem Wasser schwimmt ein Fischlein
Das ist glücklicher als ich
Glücklich ist wer das vergisst
Was nun einmal nicht zu ändern ist
Willst du mich noch einmal sehen
Sollst du nach dem Bahnhof gehn
In dem großen Wartesaal
Sehn wir sehn wir uns zum allerletzten Mal
Liebchen komm in meine Arme
Nimm den letzten Abschiedskuss
Nimm den letzten Abschiedskuss
Weil ich weil ich von dir scheiden muss
Scheiden ist ein hartes Wort
Du bleibst hier und ich muss fort.
Du bleibst hier und ich muss fort
Weiß noch weiß noch nicht an welchen Ort
Sollten wir uns nicht mehr sehen
So bleibt unsre Lieb bestehn
Liebst du mich so lieb ich dich
Nimmer nimmermehr vergess ich dich.
Und zu Hause angekommen
Fängt ein neues Leben an
Eine Frau wird sich genommen
Kleine Kinder bringt der Weihnachtsmann
*
Bei der letzten Strophe brachen alle in fröhliches Gelächter aus.
"So so", sagte Frieda, "die kleinen Kinder bringt uns dann der Weihnachtsmann."
"Abwarten und Tee trinken", sagte Fritz.
Rosi wurde bei dem Lied jedes Mal etwas schwermütig ums Herz. Sie musste an ihre Abschiede denken. Und jedes Mal verspürte sie eine tiefe Sehnsucht. So ganz tief drinnen. In ihrem Herzen. Sehnsucht. Und Wehmut. Besonders, wenn sie an ihren ersten Abschied dachte. An den Abschied auf dem Buttstädter Bahnhof. Von ihrem Vater. Dem Karl. Als er wieder in den Krieg gezogen ist und aus dem Zugfenster gerufen hat: "Wir werden siegen! Ich bin bald zurück!"
Elses und sie hatten damals dem abfahrenden Zug nachgewinkt. Mit Tränen in den Augen. Gesiegt hatten sie ja dann doch nicht. Und Herr Rau hatte gesagt, dass das ein Glück war. Womit er wohl Recht hatte. Sonst hätten die Nazis womöglich die ganze Welt in Asche und Trümmer gebombt.
Bei dieser schrecklichen Vorstellung kam Rosi der nächste Abschied in den Sinn. Der Abschied von dem Flüchtlingsjungen Walter. Der ihr zum Abschied das Kohlestückchen geschenkt hat. Und dann der Abschied von Pawel. Der ihr die Schokoladentafel vom Schwarzmarkt geschenkt und einen Abschiedskuss auf ihre Wange gehaucht hat.
"Vielleicht sehen wir uns mal wieder", hatte er gesagt.
'Ja, vielleicht', hatte Rosi gedacht. 'Nur wann. Und ob überhaupt.'
Das alles war schon so lange her. Doch die Sehnsucht ist geblieben. Sie würde wohl nie vergehen.
'Vielleicht tragen ja alle Menschen die Sehnsucht in ihren Herzen', dachte Rosi etwas wehmütig. 'Auch die anderen Lehrlinge. Und deshalb gefiel ihnen dieses Lied auch so gut.'
Vielleicht aber auch, weil es so romantisch und auch etwas traurig war. Und dann wieder lustig wurde.
*
So vergingen drei aufregende, unbeschwerte Wochen. Dann war Schluss mit lustig. Und das kam so:
In dem Lehrlingswohnheim wohnte Rosi zusammen mit Frieda in einem Zweibettzimmer. Außer den Betten gab es noch zwei Stühle und einen Tisch. Außerdem zwei schmale Spinde. Und eine Stehlampe. Die Duschen waren auf dem Gang und Rosi machte, so oft es möglich war, Gebrauch davon. In Brühl 18 gab es ja nur das winzige Waschbecken und die Zinkbadewanne. Den Wasserschlauch gab es allerdings auch. Aber nur für den Sommer.
*
Eines Nachts wachte Rosi von seltsamen Geräuschen auf. Die Geräusche kamen aus Friedas Bett. Ihrem Bett gegenüber.
Verwundert rieb sich Rosi die Augen. Es war ziemlich dunkel. Sie konnte kaum etwas erkennen. Unter Friedas Bettdecke schien es zu spuken.
Erschreckt setzte sich Rosi im Bett auf. Neugierig schaute sie zu Friedas Bett. Frieda hatte die Bettdecke bis über ihren Kopf gezogen. Nichts war von ihr zu erkennen. Doch unter der Bettdecke bewegte sich etwas. Bestimmt ein Gespenst. Ein Gespenst, das Frieda festhielt. Sie umklammerte. So dass sie sich nicht befreien konnte.
Rosis erster Impuls war, aus dem Bett zu springen und Frieda zu befreien. Doch sie war wie gelähmt. War nicht fähig, sich zu rühren. Unter Friedas Bettdecke ächzte und stöhnte es. Ab und zu war ein leises Kichern zu vernehmen. Plötzlich wurde die Bettdecke weggestoßen. Und zwei Gestalten tanzten auf dem Bett im Schatten der Nacht.
Rosi konnte genau die zwei Silhouetten erkennen. Die sich rhythmisch bewegten. Nach rechts und nach links bogen. Die Arme verlangend in die Luft reckten. Sich umarmten. Fallen ließen. Dieses Spiel wiederholte sich mehrmals. Bis die zwei Gestalten mit einem verhaltenen Laut unter Friedas Bettdecke verschwanden.
Was geschah hier? Wo war Frieda.
"Frieda. Frieda", krächzte Rosi. "Frieda. Wo bist du?"
"Frieda geht es gut", flüsterte da eine gruslige Stimme. "Schlaf weiter Rosi."
Erschreckt und völlig verwirrt, legte sich Rosi wieder hin. Sie zog die Bettdecke über ihren Kopf und muss wohl sofort wieder eingeschlafen sein.
Am nächsten Morgen war alles, wie immer. Frieda war wieder da. Lustig und munter. Wie immer.
Also war alles wohl nur ein Traum gewesen. Allerdings ein sehr seltsamer.
*
Jedes Wochenende fuhren die Lehrlinge nach drei Stunden Unterricht nach Hause in die umliegenden Dörfer und kleinen Städte.
Rosi freute sich jedes Mal auf Brühl 18. Den Gänsebach. Die Wiesen. Das Feld. Auf Else. Jutta und Karlchen. Bertraud, Gitti, und Walti. Alle waren neugierig, was sie berichten würde. Von der Welt da draußen. So auch diesmal.
Nach dem Gebet und dem Abendessen saß die ganze Familie am Tisch. Aufmerksam lauschten sie Rosis Bericht.
"Aber dann habe ich etwas erlebt", sagte Rosi., "Das war ganz schön gruslig."
"Was denn?", wollte Jutta wissen. "Ich liebe Gruselgeschichten."
"Und ich erst", sagte Karlchen.
"Ja, erzähl", freute sich auch Else.
"Das war bestimmt nur ein komischer Traum", sagte Rosi.
"Ja, ja", sagte Else, "Träume sind Schäume. Aber erzähl endlich."
"Ja", sagte Karlchen, "spann uns nicht so auf die Folter", grinste er.
Also erzählte Rosi von dem nächtlichen Tanz der zwei Gestalten auf Friedas Bett.
Rosi hatte die Geschichte noch nicht ganz zu Ende erzählt, als Else ganz rot im Gesicht wurde.
"Das darf doch wohl nicht war sein!", schrie Else plötzlich los und sprang von ihrem Stuhl. "Was sind denn das für Zustände. Los, ins Bett mit euch. Marsch. Marsch", wandte sie sich an die Kinder. "Rosi du bleibst hier. Du kommst mit", wütete sie.
Erschreckt huschten die Kinder zur Wohnzimmertür hinaus. Die weiße Treppe hoch. In ihre Betten.
Rosi verstand die Welt nicht mehr. Was war denn nun wieder in Else gefahren. Eben war alles noch so friedlich. Und nun das?
"Komm mit", befahl Else. Aufgeregt schob sie Rosi aus Brühl 18. "Wo wohnt diese Frieda?", fragte sie streng. "Los. Raus mit der Sprache."
Vor Friedas Haus blieben Else und Rosi stehen. Ungefähr zehn Minuten von Brühl 18 entfernt.
Frieda wohnte mit ihrer Mutter und Großmutter in dem Haus. Friedas Vater war im Krieg gefallen. Ihr Großvater vor kurzem gestorben. An TBC.
"Los. Klingle", sagte Else.
"Warum denn das?" weigerte sich Rosi. "Was wollen wir überhaupt hier?"
"Das wirst du gleich sehen", sagte Else und drückte auf den Klingelknopf.
"Ich komme nicht mit", sagte Rosi. "Das ist mir zu dumm. Ich warte hier."
"Dann nicht", sagte Else und eilte in Friedas Haus.
Nach einer Weile kam Else wieder heraus. Etwas entspannter als vorher.
"Was hast du denen denn gesagt", wollte Rosi wissen. "Warum sind wir überhaupt hier her gegangen?"
"Machst du Witze?", empörte sich Else. "Ich hab denen gesagt, was die Frieda für ein frühreifes Flittchen ist. Sich im Mädchenwohnheim mit einem Jungen aus dem Jungenwohnheim zu vergnügen. In dem Alter. Nein. Nein."
"Das war doch nur ein Traum", beharrte Rosi. "Frieda war doch gar nicht da."
"Entweder bist du so dumm oder du tust nur so", wunderte sich Else. "Jedenfalls ist Schluss mit der Ausbildung in der Ziegelei. Diesem Sündenpfuhl. Diesem Sodom und Gomorrha. Ich kündige sofort den Vertrag."
***
Fortsetzung folgt