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14 Seiten

Horst

Fantastisches · Kurzgeschichten
Fraglich, ob das alles so weitergehen kann. Fraglich, ob es so bleiben wird. Alles verändert sich, unaufhörlich. Hat man sich an eine Sache gewöhnt; hat man sich gerade mit irgendwelchen Verhältnissen abgefunden; einen Umgang damit gefunden, verändert es sich auch schon wieder. Alles scheint im Fluss zu sein.

Horst ist noch ein Kind. Gerade erst 9 Jahre alt geworden. Er hat Sommerferien, und verbringt diese, wie so oft, bei seinen Großeltern. Sie haben einen Bauernhof auf dem Land. Dort gibt es Kühe, Schafe, Ziegen und selbstverständlich auch Hühner. Die Hofkatze darf bei dieser Aufzählung natürlich auch nicht fehlen. Sie heißt Mautzi und Horst liebt sie. Er kann stundenlang damit verbringen, sie mit Streicheleinheiten zu verwöhnen. Mautzi ist wie alle Katzen sehr eigensinnig. Wenn sie sich streicheln lässt, dann kann man sich sicher sein, dass sie das auch wirklich selbst so möchte. Ist ihr etwas unangenehm, so ziemt sie sich nicht, dies ganz offen zu zeigen. Sie hat die Marotte, sich streicheln zu lassen, auch gerne mal stundenlang, doch plötzlich, ohne dass es jemals von Horst vorherzusehen gewesen wäre, möchte sie es plötzlich nicht mehr, fängt an zu fauchen, zu beißen und natürlich auch zu kratzen.
Die Eltern von Horst sind beide viel beschäftigt. Sie scheine nur wenig Urlaub zur Verfügung zu haben, weshalb er sich in den großen Ferien meistens bei seinen Großeltern aufhält. Das macht ihm aber im Grunde gar nichts aus. Er liebt die Zeit, die er hier verbringt. Sein Großvater hat mit seinem Bauernhof natürlich auch sehr viel zu tun, abends aber, nach dem gemeinsamen Abendbrot, nimmt dieser sich immer Zeit für ihn. Wenn es ein warmer Sommerabend ist, dann setzt er sich mit ihm draußen hin und erzählt ihm, währen hoch über ihnen langsam die Sterne am Firmament anfangen zu Funkeln; der Mond groß und Rund am Firmament schon zu sehen ist und währenddessen eine altmodische Öllaterne ihr flackerndes Licht spendet, am liebsten Geschichten, die er sich tagsüber während seiner schweren Arbeit auf dem Hof ausgedacht hat. Oft sind es Geschichten, die von dem schweren Leben eines Bauern erzählen, der mit seiner schweren Arbeit die Menschen im Land ernährt, und wie wenig er dafür von den „Schlipsträgern“, wie er sie zu nennen pflegt, gewürdigt wird, weil diese keine Ahnung haben, was für einen Wert sie selbst im Vergleich zu der Tätigkeit eines Bauern haben. Horst ist schon öfters aufgefallen, dass dieser Aspekt sehr oft in den Geschichten des Opas vorkommt, nur immer wieder etwas umgewandelt. Noch ist er zu jung, um zu verstehen, dass es vom Opa wohl jedes Mal als kleiner Seitenhieb gegen seine Tochter und vor allem gegen deren Mann gedacht ist. Irgendwann wird er es aber verstehen und schmunzeln, wenn er dabei an die Geschichten seines Opas zurückdenkt.
Am nächsten Tag streunert Horst Mal wieder über den Bauernhof. Das Wetter ist heute nicht so gut. Es ist bewölkt und es sieht irgendwie nach Regen aus. Vielleicht sogar ein Gewitter, denkt er mit voller Vorfreude bei sich. Horst liebt Gewitter. Besonders auf dem Bauernhof. Dann verkriecht er sich immer in der Heuscheune. Dort im oberen Stock gibt es ein Fenster. Das Heu reicht bis dorthin hinauf. Horst kann sich bequem auf das Stroh legen und auf die Rapsfelder blicken. Ein Gewitter ist von dort oben aus atemberaubend schön anzusehen. Die dunklen Wolken, die über die Felder ziehen, und die Blitze, die zwischendurch durch die Wolken blitzen! Seine Großeltern erlauben es ihm immer. Bestimmt haben sie selbst so was auch schon mal gemacht. Die Scheune hat einen Blitzableiter. Da sei bei Gewitter bisher noch nie etwas passiert. Allerdings seinen Eltern hat Horst noch nie davon erzählt. Und auch nicht seine Großeltern. Seine Eltern würden sich nur unnötig Sorgen machen; ihm einen alleinigen Besuch bei ihnen vielleicht sogar verbieten! Zutrauen würde er es ihnen. Nee, da hält er lieber seine Klappe. Ein kleines Geheimnis, das er sich mit seinen Großeltern teilt. Für heute hat sich auch noch Frank, ein Sohn vom Nachbarhof, angekündigt. Er ist 10 Jahre alt, also etwa ein Jahr älter als Horst. Sie verstehen sich prächtig. Sollte wirklich heute noch ein Gewitter kommen, dann würde er mit Frank zusammen die Scheune hoch zu diesem Fenster klettern. Sie würden sich vorher von seiner Oma auch jeweils noch ein volles Glas warme Milch geben lassen. Vielleicht lässt sich die Oma zur Feier des Tages sogar dazu überreden, einen kleinen Löffel Kakao rein zu rühren. Das wäre doch ein Fest! Und während Horst schon das erste Grummeln eines sich ankündigenden Gewitters vernimmt, rennt er Freude strahlend in Richtung Haupthauses des Hofes. Das Mittagessen müsste eigentlich nun schon fertig sein. Danach, so gegen 13 Uhr, hat sich Frank angekündigt. Diese Zeit könnte perfekt zu seinem Plan passen!
Ein Gewitter rollt heran. Beide, Frank und Horst, haben es sich oben in der Scheune am Fenster gemütlich gemacht. Es ist für beide hierfür groß genug. Die Oma von Horst hat ihnen auch noch jeweils eine Decke mitgegeben. Das große Glas mit der erwärmten Milch mit jeweils einem gehäuften kleinen Löffel gesüßtem Kakaos haben Sie vor sich auf einen relativ großen Sims des Fensters gestellt. Mit großen, erwartungsvollen Augen blicken sie über das Rapsfeld. „Mensch, das wird ein Gewitter!“, ruft Frank begeistert. Beide haben sie sich in ihre Decken eingekuschelt. Das Fenster haben sie weit nach innen geöffnet und mit einem Hacken die Fensterläden jeweils an den hölzernen Innenwänden der Scheune festgemacht. Noch gibt es windstill. Es fühlt sich aber wie die Ruhe vor dem Sturm an. Das hat Horst schon vorher so erlebt und es auch von seinem Opa erklärt bekommen. Er nimmt sich noch einmal einen großen Schluck seines warmen Kakaos, zieht sich die Decke noch etwas höher über die Schultern und schaut sich intensiv das sich vor ihm ausbreitende Naturschauspiel an. Kein Wind, fast etwas unheimlich, und kein einziges Blatt oder Blüte des Rapsfeldes rührt sich. War es heute Mittag nur dicht bewölkt aber hell, scheint es sich jetzt nach und nach immer dunkler werdend zu zuziehen. Eine erste Böe zieht über das Rapsfeld. Horst ist sich sicher, dass auch sein Opa nun gebannt und mit Sorgenfalten im Gesicht dieses Schauspiel durch eines der Fenster des Haupthauses ansieht. Schließlich steht hierbei seine gesamte Ernte für dieses Jahr auf dem Spiel. Ein heftiges Unwetter kann den Ertrag in einem Jahr deutlich verringern und damit auch den zu erzielenden Gewinn. Mehr als nur einmal hatte Horst ihn sich schon stundenlang nach einem Gewitter darüber beklagen gehört. Sollte heute wirklich ein ähnlich heftiges Gewitter kommen, wie es schon in der Vergangenheit stattgefunden hat, dann kann sich Horst jetzt schon auf ähnliche Klagen seines Opas einstellen. Eine zweite Böse fegt über das Rapsfeld, nur dieses Mal scheint sie von der anderen Seite zu kommen. Ungefähr in der Mitte treffen sie aufeinander und verursachen heftige Wirbel inmitten des Rapsfeldes. Die davon betroffenen Pflanzen werden wild in alle Richtungen gleichzeitig gezerrt. In diesem Moment haben sicher nicht wenige von ihnen diesen Naturgewalten nicht mehr standhalten können. Er kann das sorgenvolle Seufzen seines Opas förmlich hören, auch wenn dies völlig unmöglich ist. Die dunklen Wolken über ihnen ziehen sich noch weiter zu. Das Grollen des nun rasant sich herannahenden Gewitters wird deutlich lauter und die ruhigen Intervalle dazwischen immer kürzer. Weitere Böen ziehen durch die Pflanzen visualisiert über das Rapsfeld. Von jeder Seite in jede Richtung. An vielen Orten gleichzeitig entstehen, wo die Böen aufeinandertreffen, Wirbel. Es ist nun so viel Bewegung los, dass es Horst schwer fällt, weiterhin Details wahrzunehmen. Alles verschwimmt in seinem Geist zu einem riesig großen Durcheinander. Angesichts dessen fällt es nun sogar schwer, dass die Erinnerung an seine immer noch etwas warme Milch mit einem Schuss gesüßtem Kakao in sein Bewusstsein vordringt. Gerade so gelingt es selbst in dieser Situation dem Kakao aber doch. Er nimmt das Glas vom Sims, gönnt sich noch einmal einen großen Schluck daraus, und gerade als er es wieder an seinen Platz zurückstellen möchte, zuckt ein mächtiger Blitz direkt vor ihnen auf dem Feld auf. Durch die dunklen Wolken ist es schon sehr dunkel um sie geworden. Der Blitz lässt noch einmal für einen kurzen Moment alles um sie herum hell werden, wie bei einem Blitzlicht durch einen Fotoapparat. Sofort folgt auch ein so lautes Donnern, wie es Horst noch nie in seinem Leben gehört hat. Vor Schreck lässt er das Glas fallen und es segelt tief hinab an der Häuserwand herunter dem Boden entgegen. Nun ist das Glas vollständig aus seinem Bewusstsein entwichen. Der Blitz ist in den höchsten Baum am hinteren Rand des Rapsfeldes eingeschlagen. Dies erklärt auch die den krachenden Donner begleitenden knisternden Geräusche. Fast sieht es so aus, als habe der Blitz den Baum in der Mitte durch gespalten. Er scheint vor den aufgerissenen Augen der beiden Jungen nun in zwei lodernd brennende Teile zu zerfallen. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, setzt ein heftiger Platzregen ein. Durch ihn wird das Feuer am Baum fast sofort wieder gelöscht und es ist wieder etwas dunkler auf dem Rapsfeld, das immer noch durch die Böen, die sich nun anscheinend langsam zu einem Sturm ausweiten, wild hin und her in alle Richtungen gleichzeitig gezerrt wird. Auch über den beiden Jungen ist es deutlich zu hören, dass der Sturm die uralte Scheune mal wieder einem ordentlichen Stresstest aussetzt. Sie hat nun Gelegenheit, zu beweisen, dass sie nach über hundert Jahren immer noch im Stande ist, ernsthaft mit ihrer Bausubstanz den Naturgewalten entgegenzutreten. Auch Horst drückt der Scheune bei diesem Kampf still heimlich irgendwo ganz tief in seinem Hinterkopf die Daumen.
Ohrenbetäubender Lärm um sie herum. Der Sturm, der an dem Gebäude arbeitet, so als hätte er es sich zur Aufgabe gemacht, nach all diesen Jahren dieses Gebäude letztendlich doch noch zu besiegen; die Blitze, die immer heftiger und in kürzeren Abständen über dem Feld von einem fürchterlichen Donnern begleitet aufzucken, so als habe sich ein Gott dazu bereit erklärt, diese Welt nun doch noch untergehen zu lassen; der Platzregen, der unaufhörlich Wind gepeitscht vom Himmel herab prasselt und sich von einem Moment zum nächsten in eine Schlote verwandelt hat die mit ihrem Eisregen dem durch den Sturm eh schon gebeutelten Rapsfeld schlussendlich noch den Rest gibt. Ein Zusammenspiel, als würde ein überirdischer Regisseur den Weltuntergang inszenieren. Horst’s lange Haare werden durch den Wind wild durcheinandergewirbelt, wie die sprichwörtliche Sturmfrisur. Erst jetzt schaut er zu seinem Freund Frank herüber, von dem er lange nichts mehr gehört hat, und erkennt dabei, dass auch sein Glas mit warmer Milch und einem Schuss Kakao das gleiche Schicksal erlitten hat, wie seines zuvor. In solch eine verrückt gewordene Welt scheint so etwas heimeliges auch irgendwie gar nicht mehr hineinzupassen. Frank selbst hat sich, sehr wahrscheinlich aus Angst vor dem Unwetter, vom Fenster zurückgezogen und sich seine Decke über das Gesicht gezogen. Horst schreit mit wild im Wind flatternden Haaren durch das ganze Getöse um sie herum zu seinem Kumpel herüber: „He, Frank! Alles in Ordnung mit dir?! Mach dir keine Sorgen: um so heftiger das Unwetter, um so kürzer dauert es! Das hat mein Opa immer gesagt! Stimmt das, dann müsste dies hier das kürzeste Unwetter aller Zeiten sein!“ Bei Frank scheint sich nichts zu rühren. Nur seine Decke zittert etwas, und ruckelt bei jedem heftigen Donnern kurz ein klein bisschen mehr. Frank scheint tatsächlich vor Angst regelrecht zu zittern. Doch Horst weiß ganz genau, dass, haben sie beide das alles dann heile überstanden, das jetzige Verhalten seines Kumpels diesem sicherlich peinlich sein wird. Er zuckt mit seinen Schultern. Horst würde dann wie immer so tun, als sei nichts gewesen. Dies ist die gängige Vorgehensweise in solch einem Fall zwischen zwei Jungs. Frank würde es umgekehrt sicherlich genau so machen. Denn es ist die einzige Möglichkeit, dass sie vor dem jeweils anderen ihr Gesicht waren können, ist so etwas vor dem besten Freund geschehen. Allerdings kann es wirklich sein, dass der ganze Spuck schon bald zu Ende sein wird. Horst beschließt, sich wieder voll und ganz auf das Unwetter zu konzentrieren; sich alles ganz genau einzuprägen, um seinen Kumpel dann später damit aufzuziehen, was dieser alles verpasst hat, als er sich schlotternd unter seiner Decke verkrochen hat. Als er daran denkt, muss er kurz lächeln. Vorfreude ist eben doch die beste Freude. Dies ist aber dann auch schon alles, was er sich diesbezüglich später vor seinem Kumpel erlauben kann, möchte er ihn danach immer noch als Freund behalten. Er schaut wieder hinaus in das wahrscheinlich schon sehr geschundene Rapsfeld, wie es vom Sturm oder vielleicht jetzt schon von einem Orkan und der Schlote noch weiter und noch heftiger als zuvor malträtiert wird. Und dann passiert es.
So vieles kann man in diesem Moment wahrnehmen. So viele Reize treffen von außen auf die Sinnesorgane. Sowohl visuell als auch in Audio. Bewegungen und Geräusche, überall. Vor ihm, über ihm, hinter ihm, und auch links und rechts von ihm. Alles verschwimmt zu einem Gesamteindruck; zu einer regelrechten Symphonie der Zerstörung; des Untergangs. Lichtblitze zucken dazwischen; Donner und Getöse. Plötzlich brechen die dunkel schwarzen Wolken am Firmament auf. Blitze zucken um diesen Bruch in der Wolkendecke. Ein Donnern jagd das nächste. Über ihm knirscht das Gebälk heftiger und wilder denn je. Horst’s Haare flattern ihm wild vor dem Gesicht herum. Er versucht, sie verzweifelt mit seinen Händen zu zähmen, um ja nichts von diesem irren Schauspiel zu verpassen, und dann bricht durch den Bruch in der dicken, dunklen Wolkendecke etwas metallisch aussehendes durch. Und alles erscheint für Horst plötzlich wie in Zeitlupe zu geschehen. Er setzt mit dem Atmen kurz aus; auch sein Bewusstsein scheint jetzt ausgeschaltet; sein gesamter Wille plötzlich weg zu sein. Die Eindrücke überfluten einfach so sein Gehirn, ohne dass es in irgendeiner Weise von irgendetwas in ihm in diesem Moment interpretiert werden könnte. Das, was er sieht, benennt er noch nicht einmal, ganz einfach deshalb nicht, weil es dafür keine Begrifflichkeiten gibt. Oder zumindest ihm in diesem Moment zur Verfügung steht. Die Wahrnehmung der Zeitlupe verlangsamt sich noch weiter, bis zu einem Punkt, an dem alle Bewegung kurz vor dem Stillstand zu stehen scheint. Und plötzlich erwacht sein Bewusstsein wieder. Er kommt mit einem Donnerschlag wieder zu sich. Seine Wahrnehmung hat wieder normale Geschwindigkeit. Er hört auch wieder das Wilde Getöse um sich herum. Er wird geschüttelt und versucht, diese Wahrnehmung zu verstehen. Er erkennt seinen Opa vor sich, der ihn durch all diesen Lärm hindurch und mit pitschnassen Haaren und Gesicht anbrüllt. Tropfen laufen ihm dabei über das Gesicht. Horst, der wieder etwas zu sich gekommen ist, versucht in diesem Gebrüll etwas Verständliches herauszufiltern. Es fällt ihm aber sehr schwer. Doch es soll wohl so etwas heißen, wie, dass er mitkommen soll; dass hier zu bleiben sehr gefährlich sei. Sein Opa deutet wild gestikulierend nach oben. Horst schaut nach oben, und erkennt, dass es dort schon erschreckend große Löcher in der Holzdecke gibt und dass das Unwetter an diesen Löchern unaufhörlich und unerbittlich weiter nagt. Jetzt versteht er. Er nickt. Sein Opa holt nun auch Frank aus seiner Decke hervor. Als dieser mit wackeligen Beinen und über seinem Kopf verschränkten Armen zum Stehen kommt, wickelt der Opa von Horst die Decke um ihn herum. Er nimmt beide jeweils in eine seiner kräftigen und mit tiefen Schlieren durchzogenen Hände und macht sich hastig mit ihnen auf, die Scheune zu verlassen. Draußen tobt es immer noch ziemlich heftig, aber so langsam scheint das Unwetter doch nachzulassen. Der Wind legt sich etwas; das Gewitter ist nur noch in der Ferne mit einem dunklen Grollen zu hören, und auch die Schlote hat sich jetzt wieder in einen leichten Regen verwandelt. Der Boden draußen zum Haupthaus hin ist durch die Sturzbäche allerdings mehr als nur matschig. Frank verliert darin einen seiner Schuhe. Ansonsten schaffen sie es aber unbeschadet zu dem Haus hinüber zu gelangen.
Der Regen hört auf, während Horst nachdenklich aus dem Fenster schaut. Er hat seine Kleidung gewechselt und sich danach in das Zimmer, das ihm seine Großeltern für seinen Aufenthalt bei ihnen zur Verfügung gestellt haben, zurückgezogen. Sein Opa hat ihn zuvor noch gefragt, ob ihm irgendetwas fehlt; ob er in irgendeiner Weise Unterstützung benötigt. Er hat nur sachte den Kopf geschüttelt. Also wurde er, als er wieder trocken war, einfach von ihnen alleine gelassen. Sie haben sich dann um Frank gekümmert. Dieser scheint, im Gegensatz zu ihm, von ihnen getröstet werden zu müssen. Dies alles hat seinen Kumpel dann anscheinend doch mehr mitgenommen, als es Horst währenddessen bewusst gewesen war. Sicherlich würden die Eltern von Frank ihren Sohn bald abholen kommen. Horst schaut wieder gedankenverloren aus dem Fenster. Dabei bemerkt er, dass es draußen wieder heller wird. Er hat von seinem Zimmer aus keinen Blick auf das Rapsfeld. Das Fenster seines Zimmers ist in die andere Seite gerichtet. Er denkt darüber nach, was er wohl in den Wolken bei diesem seltsamen Moment gesehen haben könnte. Es war wie ein Erlebnis ohne Namen gewesen; wie Eindrücke, die keinen sinnvollen Zusammenhang ergeben können. Es waren Details, die unabhängig zu dem Unwetter gestanden hatten. Oder vielleicht doch nicht? Hängt vielleicht doch alles irgendwie miteinander zusammen? Was war das für ein metallisches Objekt am Himmel gewesen? In dem Moment war es für Horst einfach nur ein Ding gewesen; irgendetwas, das er noch nie zuvor in seinem Leben, und schon gar nicht bei einem Unwetter, gesehen hatte. Es hatte sich geöffnet und es war ein greller Lichtstrahl daraus hervorgegangen. Dieser Lichtstrahl hatte sich langsam zur Erde bewegt. Kurz bevor er unten angekommen war schien sich plötzlich die Erde zu öffnen, den Lichtstrahl einfach zu verschlucken, und dann ist zusammen mit ihm auch das metallische Objekt am Himmel wieder verschwunden. Danach schien alles wieder genauso gewesen zu sein, wie es zuvor gewesen war. So als sei nie etwas derartig unfassbares geschehen. Das seltsamste daran war aber nicht dieses Ding an sich gewesen, oder der Lichtstrahl, sondern die Wahrnehmung der verlangsamten Zeit währenddessen. Auf all dies kann er sich immer noch keinen so rechten Reim machen. Wem könnte er davon erzählen? Es würde ihm doch nur jemand glauben können, der das alles selbst mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Er nimmt sich entschlossen vor, auf eigene Faust der Sache auf den Grund zu gehen. Er hat das Gefühl, dass er dies einfach tun muss. Für sich selbst. Und für niemanden sonst. Dieses Erlebnis kann er einfach nicht auf sich beruhen lassen.
Am nächsten Tag ist das Wetter wieder schön. Die Sonne scheint. Doch in Ordnung ist erst einmal nichts. Das Unwetter hat verheerende Schäden auf den Feldern des Opas angerichtet. Am Morgen hat Horst mit seinen Großeltern noch einmal alles besprochen. Die Eltern hatten schon mitbekommen, dass es ein großes Unwetter gegeben hat. Sie hatten gestern schon angerufen und nachgefragt, ob alles in Ordnung sei. Der Opa hatte das Telefonat geführt. Er hatte ihnen nur von den Schäden bei den Feldern berichtet und dass es Horst gut gehe. Er hatte aber nichts von dem Heuboden erwähnt. Dies hätte die Eltern von Horst nur wütend gemacht, angesichts dieses Leichtsinns. Auch Horst selbst ist dies mehr als recht. Am Ende, wenn sie davon erfahren hätten, hätten sie ihn noch vorzeitig nach Hause gebracht. Da ist es mit dieser kleinen Notlüge doch viel besser. Nach dem Mittagessen macht er sich wieder mit alter Frische auf den Weg. Er hat zuvor noch einmal eindringlich eingeschärft bekommen, dass er bei einem weiteren Einsetzen eines Unwetters sofort zurück zum Haupthaus kommen soll. Er hat es versprochen. Zuvor ist er aber, obwohl er wusste, dass er es verboten bekommen hat, noch einmal die Scheune zum Fenster hochgeklettert. Das Dach hat ganz schön was abbekommen. Es würde aber sicherlich wieder repariert werden können. Er hatte sich von dort aus noch einmal genau eingeprägt, wo dieser Lichtstrahl die Erde berührt haben muss. Dann ist er wieder heruntergeklettert und hat sich durch die schöne Sonne genau zu diesem Punkt hin auf den Weg gemacht. Das will er sich jetzt mal etwas genauer ansehen. Er geht hierzu einfach durch das Rapsfeld durch, den direkten Weg. Es liegen eh schon mehr Pflanzen auf dem Boden, als noch welche stehen. In solch einem Zustand hat er dieses Feld noch nie zuvor gesehen. Ein Jammer. Der arme Opa. Eigentlich hätte Horst ihm alles erzählen sollen, was er vor hat. Aber dann hätte sich dieser nur unnötige Sorgen gemacht. Sein Opa hat sowieso schon genug Sorgen am Hals. Der Punkt, an dem der Lichtstrahl sehr wahrscheinlich den Boden berührt hat, müsste ein Stück hinter dem Feld fast exakt hinter dem Baum, der vom Blitz getroffen wurde, liegen. Eine gute Gelegenheit, sich auch den Baum anzusehen! So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen! Sehr gerne hätte er dieses Erlebnis mit seinem Kumpel Frank geteilt. Dies ist aber zur Zeit sicherlich noch nicht möglich. Sein Kumpel muss sich erst noch von dem gestrigen Erlebnis erholen. Nach einer kurzen Weile erreicht Horst den Baum. Wow! Es verschlägt ihm regelrecht den Atem. Der Baum wurde tatsächlich von dem Blitz in zwei Hälften gespalten und auch entzündet. Man sieht noch sehr deutlich die Rußspuren bei den beiden Hälften die nun zu beiden Seiten des verbliebenen Stammes liegen. Der Brand hatte sicher aufgrund des direkt danach einsetzenden Regens nicht lange andauern können. Dennoch riecht es hier immer noch sehr deutlich verkohlt. Es fällt ihm schwer, den Baum hinter sich zu lassen. Da gibt es einfach zu viel zu sehen. Irgendwann gelingt es ihm aber. Er kann ihn sich ja auf dem Rückweg noch einmal etwas genauer ansehen.
Hinter dem Feld ist ein kleiner Mischwald. Die Bäume stehen aber nicht allzu dicht beieinander. Horst peilt exakt jenen Punkt dort an, den er vom Fenster der Scheune aus zuvor ausgemacht hat. Er dreht sich zur Scheune um. Von hier aus ist sie zu sehen, und auch das Fenster ist auszumachen. Dann sucht er den Boden ab. Es ist nichts außergewöhnliches an dieser Stelle zu sehen. Er schaut nach oben in dem Himmel. Genau über ihm müsste gestern dieses metallische Objekt durch die Wolkendecke gebrochen sein. Aber auch am Himmel sieht alles genau so aus, wie es aussehen soll. Hatte er sich das alles etwa nur eingebildet? Schon möglich. Schade. Er hatte sich schon auf ein neues Abenteuer eingestellt. Dann bleibt ihm jetzt also nur noch übrig, den vom Blitz getroffenen Baum näher zu untersuchen. Er dreht sich um, will gerade wieder gehen, als ihm etwas auffällt. Irgendetwas ist anders, als zuvor. Er dreht sich wieder um, sehr langsam, obwohl er es gar nicht langsam machen will. Horst fühlt sich jetzt irgendwie sonderbar, ähnlich seltsam, wie es gestern bei diesem merkwürdigen Vorfall der Fall gewesen war. Es scheint immer noch die Sonne, wie zuvor. Doch scheint das Licht plötzlich irgendwie greller geworden zu sein. Er blickt sehr langsam nach oben. Oben ist das Licht genau so, wie es zuvor gewesen war. Er blickt sehr langsam, weil verzögert, nach unten. Und traut erst mal seinen Augen nicht. Dieses grelle Licht, das gleiche wie gestern, scheint tatsächlich von unten zu kommen; aus dem Erdboden heraus, oder nein: das grelle Licht ist der Boden. Plötzlich ist es überall um ihn herum; unter ihm; über ihm; links und rechts, einfach überall. Er versucht, etwas zu sagen, doch es gelingt ihm nicht. Er versucht, um Hilfe zu schreien, doch hört er selbst keinen einzigen Laut von sich. Was ist hier los? Wie kann dies alles sein? Wird er vielleicht verrückt? Fühlt sich so etwa Verrücktheit an? Er versucht, sich zu beruhigen. Panik würde ihm jetzt eh nichts bringen. Er versucht, einfach an nichts zu denken. Sofort wird alles ein klein wenig klarer. Ist er damit etwa auf dem richtigen Weg? Er versucht, sich auf das Licht einzulassen; es anzunehmen; es nicht zu bekämpfen. Sofort wirkt es nicht mehr so grell, sondern viel angenehmer. Auch scheint sich langsam so etwas wie Sinn oder zumindest Sinnhaftigkeit einzuschleichen, obwohl es nur Licht ist und ansonsten nichts zu sehen gibt. Er entwickelt ein wenig Verständnis zu der Situation. Sofort entsteht noch mehr Klarheit. Dann lässt er sich mit Haut und Haaren darauf ein und erfährt prompt mit all seinen Sinnen Kommunikation. Nicht nur über das Gehör; nicht nur über das Sehen oder Fühlen oder Schmecken oder Riechen, sondern alles zusammen und miteinander kombiniert. Dann wird auch noch die Geometrie hinzugezogen und die Zeit und es entsteht ein Austausch, wie er zuvor vielleicht noch nie mit einem menschlichen Wesen stattgefunden hat. Und dann ist er sich sicher, dass es so ist, denn er weiß nun, was sie wissen und sie wissen, was er weiß. Und beide sind sehr zufrieden damit. Das grelle Licht verblasst wieder und Horst steht an der gleichen Stelle, an der er zuvor gestanden hat. Doch der selbe Junge ist er nun nicht mehr.
Sein Opa war schon immer der Meinung gewesen, dass, umso schwieriger die Zeiten sind, umso mehr man vor allem als Familie zusammenrücken muss. Die Zeiten sind anscheinend gerade besonders schwer. Am Abend sitzt heute auch die Oma mit dabei, als bei flackerndem Licht der Opa mal wieder eine seiner Geschichten zum Besten gibt. Denn die Oma ist sonst nie dabei. Mal wieder kommen die Schlipsträger in der Geschichte vor, und selbstverständlich kommen sie auch dieses mal nicht wirklich gut weg. Horst hört gespannt zu, wie immer. Doch dieses Mal weitaus intensiver, als sonst. Jedes Wort nimmt er dabei in sich auf; saugt es förmlich ein; assimiliert es; macht es regelrecht zu einem Teil seiner Selbst. Er verknüpft die Wörter miteinander und mit dem, was er sonst noch weiß und das damit in irgendeiner Weise in Zusammenhang stehen könnte. Und er weiß viel mittlerweile. Seine Augen flackern im Licht der Öllaternr; in seinem Innern spinnt sich geradezu ein ganzes Universum zu einem Netzwerk zusammen, das miteinander kommuniziert und das, im Aussehen und der Atmosphäre einem Christbaum nicht unähnlich, auf diese Reize reagiert. Vierdimensional und sogar noch darüber hinaus. Die Klarheit des Verständnisses geht weit über das hinaus, wie es bei einem Neunjährigen eigentlich der Fall ist und auch bei einem Erwachsenen. Wenn sein Opa an ihm irgendeine Veränderung bemerkt haben sollte, so lässt er sich dies, zumindest rein äußerlich, nicht anmerken. Als die Geschichte zu Ende ist, wie immer hat sie mit einer Pointe geendet, die zum Nachdenken anregen soll, lacht die Oma kurz auf, erhebt sich dann langsam von ihrem Platz und geht wieder zufrieden hinein. Der Opa hingegen bleibt noch draußen sitzen und holt jetzt seine Pfeife und auch sein silbernes Etui, in dem er den Tabak aufzubewahren pflegt, aus seiner Westentasche, die er sich angezogen hat, weil es heute Abend schon etwas kühl geworden ist. Er öffnet das kleine Kästchen langsam und mit sehr viel Geduld, entnimmt ihm etwas des Inhalts, stopft damit seine alte Pfeife, zündet sie an, nimmt einen mächtigen Zug daraus und raucht eine kleine Wolke dem prächtigen Sternenhimmel entgegen. Währenddessen blickt Horst immer noch mit glänzenden Augen und etwas benommen in die flackernde Flamme der kleinen Öllaterne. Die Nachwirkung der erzählten Geschichte ist noch nicht weit genug in ihm abgeflaut, dass er sich wieder voll und ganz auf das Hier und Jetzt konzentrieren kann. Langsam, nur sehr langsam, kommt er in diesen Bereich wieder zurück. Als es geschehen ist, zwinkert er mit seinen Augen, reibt sie sich, und schaut erst dann wieder mit seiner vollen Aufmerksamkeit seinen Opa an. Dieser grinst etwas schief, zieht noch einmal genüsslich an seiner Pfeife, schaut ihn an, und sagt zu ihm, während er den Qualm aus seinen Nasenflügeln entweichen lässt: „Na, mein Junge. Wie geht es dir? Hast du das Unwetter heile überstanden?“
„Ja“, antwortet Horst mit ruhiger, fester Stimme.
„Und dein Kumpel?“
„Ich weiß nicht. Wie geht’s ihm denn?“
Sein Opa nimmt noch einmal einen kräftigen Zug an seiner Pfeife und pustet wieder eine kleine Wolke in Richtung Nachthimmel. „Er schien noch etwas irritiert gewesen zu sein. Als seine Eltern dann da waren, war aber alles wieder soweit in Ordnung, denke ich. Er ist ein zäher kleiner Bursche, wie sein Opa. Den kenne ich auch noch von früher.“ Eine weitere kleine Wolke wird gen Nachthimmel geschickt. „Doch was ist mit dir? Irgendwie scheint auch mit dir etwas los zu sein, stimmt’s?“
Horst sagt nichts. Es fällt ihm nichts ein, was er dazu sagen könnte.
„Schon gut. Ich möchte dich nicht bedrängen. Es kann dein Geheimnis bleiben, wenn du willst.“
Sie sitzen eine Weile schweigend einfach nur so da. Plötzlich sagt Horst unvermittelt: „Es hat sich etwas verändert.“ Und fügt kurz danach noch etwas leiser hinzu: „Mit mir.“
Sein Opa zieht eine Augenbrauen hoch. „Ach was“, sagt er nur.
„Wirklich, ich wünschte, ich könnte es dir erklären. Es geht aber nicht. Es ist nicht so einfach.“
„Was ist schon einfach auf dieser Welt oder in unserem Leben? Gerade jetzt, nach diesem unsäglichen Unwetter, kann ich dir darüber ein Liedchen singen.“ Wieder nimmt er einen großen Zug aus seiner Pfeife. „Ist die Veränderung, die mit dir vorgegangen ist, denn wenigstens etwas Gutes?“
„Ich weiß es nicht so recht. Es befindet sich weit außerhalb einer derartigen Kategorie.“
Sein Opa muss husten. Als er nach diesem Hustenanfall wieder reden kann, platzt es aus ihm heraus: „Junge, Junge, was kennst du denn für Wörter. Deine Eltern bringen dir aber früh schon Sachen bei, von denen habe ich selbst in meinem Alter noch nichts gehört.“
„Es geht wohl um Veränderung. Bald wird sich unser aller Leben auf diesem Planeten grundsätzlich wandeln. Wir werden in einer völlig anderen Welt leben, als jetzt.“
„Ach, weißt du, also, wenn du mich fragst, dann ist alles ständig irgendwie im Wandel. Schau dir doch nur mal meine Felder heute im Vergleich zu gestern an.“
Horst ist fast ein bisschen überrascht von dieser Aussage seines Opas. Er blickt hoch in den Sternenhimmel. Eigentlich freut er sich auf die Veränderungen, die sicherlich schon bald beginnen werden.
 
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