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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 3/ Die Russen und die Neue Zeit/Episode 2/ Der verschlafene Schultag und die jungen Zicklein

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 2

Der verschlafene Schultag und die jungen Zicklein

Else holte den großen Eisentürschlüssel oben von der Ablage in Brühl 18. Vorsichtig schloss sie die Tür auf. Die blaue Tür öffnete sich mit einem leise knarrenden Geräusch.
„Pst.“ Else legte einen Finger auf ihren Mund. „Alles ist ruhig. Die schlafen alle schon“, sagte sie zu Rosi. „Du schläfst mal ausnahmsweise in der Kammer, damit du Jutti und Berti nicht störst. Heinzi schläft ja jetzt im Verschlag. Wie er wollte“, schmunzelte sie und fügte hinzu: „In der Kammer kannst du dich auch besser ausschlafen.“
„Gut“, war Rosi einverstanden, „aber weck mich beizeiten. Ich muss doch in die Schule. Und noch meinen Ranzen packen. Und andere Sachen zum Anziehen brauche ich auch. “
„Ja, ja“, sagte Else, während sie Rosi durch den Flur bis zur Treppe schob. „Und vergiss das Abendgebet nicht. Auch wenn es schon Nacht ist.“
Das Abendgebet. Wie konnte Rosi das vergessen? Sie konnte. Und weil sie es konnte, hatte sie jetzt ein furchtbar schlechtes Gewissen. In Wasungen brauchte sie nicht zu beten. Obwohl Karl ja Else zuliebe Adventist geworden war und immer gebetet hatte. Als er noch in Brühl 18 lebte. Aber mit Buttstädt und Brühl 18 und Else hatte er wohl das Beten und damit auch Gott vergessen. Und ihr war das Gleiche geschehen. Nicht einen Gedanken hatte sie an Gott und das Beten verschwendet. Und das Schlimmste war, dass es ihr nicht einmal aufgefallen war. Vielleicht war der Gott ja nur in Brühl 18? Obwohl sie ja manchmal gedacht hatte, dass hier der Teufel in allen Ecken hockte.

Vorsichtig drückte Rosi die Klinke der Kammertür nieder. In der Kammer war es stockdunkel. Es gab kein Licht. Nicht einmal einen Lichtschalter. Schnell kniete Rosi sich vor das Bett. Sie faltete die Hände und betete: „Lieber Gott. endlich bin ich wieder in dem Haus, in dem du wohnst. Obwohl Mama gesagt hat, dass du überall bist. Doch das kann nicht sein. Denn in Wasungen warst du nicht. Ich danke dir, dass du hier bist. Und ich will deinem Wort gehorchen. Amen.“
Zufrieden stand Rosi auf. So, wie sie war, legte sie sich angezogen ins Bett und schlief sofort ein.
*
Als Rosi am nächsten Morgen erwachte, schlug die Uhr in der Stube neun Mal. Panisch rannte sie die Treppe hinunter. Else saß ganz gemütlich auf dem alten Sofa. Die kleine Margitta schmatzte zufrieden an ihrer Brust. Else hatte sie in ihr Kleid gewickelt, so dass von ihr nur die schwarzen Haare zu sehen waren. Neben Else saß Bertraud Johanna mit einem großen Becher in der Hand. Genüsslich schlurfte sie ihre Milch. Als sie Rosi in der Tür stehen sah, sprang sie auf. Vor freudigem Schreck fiel ihr der Becher aus der Hand. Die kostbare Milch suchte sich auf den Dielen ihren Platz.
„Rosi! Rosi ist wieder da. Mama, Mama! Guck mal. Rosi ist wieder da.“ Stürmisch hängte sich Bertraud Johanna an Rosis Hals. „Ich habe so lange auf dich gewartet“, sagte sie. „Gehst du wieder fort?“
„Nein.“ Rosi nahm Bertrauds kleine Patschhand in ihre. „Nein“, wiederholte sie. „Ich bleibe jetzt hier.“
Eigentlich wollte Rosi Else ja fragen, warum sie sie nicht geweckt hatte. Sie wollte doch unbedingt in die Schule. Nun war es zu spät. Und zu spät kommen wollte sie auf keinen Fall.
„Die schöne Milch“, sagte Else. „Kannst sie ja gleich aufwischen. Bevor sie noch mehr in das Holz sickert.“
„Mach ich gleich.“
„Ich auch.“ Betraud Johanna hüpfte in die Küche und holte einen nassen Lappen aus dem Eimer hinter der Grude. „Ich bin doch schon groß“, freute sie sich. „Hier nimm.“
Rosi nahm den Lappen und wischte die Milch auf. Bertraud schmiss ihn in den Eimer hinter der Grude.
„Warum hast du mich nicht geweckt?“, fragte Rosi Else. „Du hast es versprochen. Und was man verspricht, muss man halten. Das hast du selbst gesagt.“
„Das schon“, erwiderte Else. „Aber es gibt auch Ausnahmen. Und die Ausnahme war, dass du dich ausschlafen musstest.“
Damit musste sich Rosi zufrieden geben. Vielleicht hatte ja Else auch recht. Auf den einen Tag kam es nun auch nicht an. So konnte sie wenigstens in Ruhe ihre Anziehsachen zusammensuchen und ihren schönen, alten, verknautschten Lederranzen packen.
*
Mittags saß die Familie wieder am Tisch. Wie eh und je. Und wie eh und je gab es Rosis Lieblingsessen. Pellkartoffeln mit Quark. Dazu frischer Kopfsalat. Mit Essig und Öl und Zucker.
Über dem Tisch schwankte die blaue Runterziehlampe mit den gelben Sonnenblumen und dem Fliegenfänger mit den toten und noch zappelnden Fliegen. Zu Rosis großer Verwunderung störte sie das überhaupt nicht mehr. Es kam ihr sogar vertraut und heimelig vor.
Jutta und Karlchen hatten Schulschluss. Richard hatte Mittagspause.
Natürlich waren die Kinder neugierig und wollten wissen, was Rosi in Wasungen erlebt hatte. Immer wieder bettelten sie:„ Erzähl doch mal. Mach schon.“
Doch Rosi hatte keine Lust, zu erzählen. Irgendwie fiel ihr auch nichts ein. Alles schien in weite Ferne gerückt. Vielleicht war die Zeit in Wasungen ja nur ein Traum. An ihre Träume konnte sie sich auch nicht immer erinnern.
„Träume sind Schäume“, sagte Else oft.
„Versteh ich nicht“, staunte Jutta. „Hier ist so viel passiert.“
Und ob. Zippi und Zappi hatten Junge bekommen. Und die jungen Zicklein tummelten sich mit ihren Eltern Zippi und Zappi im Ziegenstall im Hof.

„Wir müssen die Ziegen im Herbst zum Decken bringen“, hatte Richard mal gesagt. „Im Herbst sind sie alt genug. Und beim ersten Mal klappt es auch nicht immer.“
Also ist Richard mit Zippi und Zappi nach Rudersdorf und nicht nach Gutmannshausen, wo er zuerst hin wollte, zu Bauer Lange marschiert und hat die Ziegen von seinem Bock decken lassen. Das heißt, der Bock hat sie besamt. Damit sie Junge bekommen konnten. Und es hat geklappt.
Rosi wollte unbedingt die kleinen Zicklein sehen. Bisher hatte sie keine Zeit dazu gehabt. Die Zeit seit ihrem Aufstehen war wie im Fluge vergangen.
„So. Ich gehe jetzt in den Hof.“ Rosi stand auf. Schnell lief sie zur Tür. „Ich will jetzt endlich die Zicklein sehen“, sagte sie.
„Hiergeblieben“, wurde Else energisch. „Erst aufessen.“
Widerwillig kehrte Rosi zurück. Sie fischte die letzte Kartoffel von ihrem Teller und sagte: .Jetzt darf ich aber.“

Erleichtert rannte Rosi in den Hof. Der Pflaumenbaum vor Schmids Mauer hing voller kleiner, grüner Früchte. Darunter stand die lange Holzbank. Davor der große Tisch. Auf dem Rasenfleckchen blühten die Gänseblümchen. Zu Rosis Erstaunen hatte die Hühner sie nicht weggepickt. Wie im vorigen Jahr. Bestimmt hatten sie genug anderes zu fressen gefunden. Auf dem Mist stand der Hahn. Mit seinem bunten Gefieder. Dem glutroten Hahnekamm. Fehlte nur noch, dass er anfing, zu krähen. Und, als könnte der Hahn Gedanken lesen, reckte er sich großtuerisch. Fröhlich schüttelte er sein Gefieder und plustertet sich auf, wie ein selbstbewusster Gockel. Sein Hahnekamm schwoll rot an und er krähte mit heiserer Stimme: „Kikeriki! Kikerikie!“ Rosi erschien es wie ein Willkommenskikeriki.
Um den Hahn herum gackerten aufgeregt seine Hennen. Auch sie hießen mit ihrem Gegacker Rosi willkommen.
„So ein Lärm aber auch“, vernahm Rosi plötzlich Frau Schmids Stimme. „Da bist du ja endlich wieder, Rosi. Frau Schmids Kopftuchwuschelkopf wackelte auf der Mauer hin und her. „Es hatte sich ja schnell rumgesprochen, dass der Karl dich entführt hat. Und dass er jetzt eine neue Frau hat. Na ja, getratscht wird halt immer“, lachte Frau Schmids. „Nichts für ungut. Wir sehen uns ja nun wieder öfter.“
So plötzlich, wie er erschienen war, war Frau Schmids Kopftuchwuschelkopf wieder verschwunden.

Auf der dicken Wäscheleine baumelten Richards schwere Arbeitssachen. Natürlich auch die leichten Sachen der Kinder. Besonders die vielen Windeln von Margitta. Mullwindeln. Einlegewindeln. Große Umschlagewindeln. Gummihöschen. Jäckchen. Mützchen. Strampler. Alles einträchtig neben einander. Else musste also gerade ihren Großewäschetag gehabt haben. Rosi schüttelte sich. An die Großewäschetage erinnerte sie sich nicht so gern. Da hatte Else meistens schlechte Laune.
„Vielen Dank für die schöne Begrüßung“, wandte sich Rosi an den Hahn mit seinen gackernden Hennen. "Ich muss jetzt schnell in den Ziegenstall. Die jungen Zicklein begrüßen."
Gerade, als Rosi den Riegel vor der Ziegenstalltür zurückschieben wollte, standen Jutta und Karlchen neben ihr.
„Wir sind auch fertig“, sagte Karlchen. „Los, mach die Tür auf. Da wirst du aber staunen.“
Rosi staunte wirklich nicht schlecht. Kaum, dass sie die Tür geöffnet hatte, strömte den Kindern ein warmer Stallgeruch in die Nasen. Es roch nach frischem Heu. Warmen Ziegenkörpern. Und besonders nach frischer Milch. Ziegenmuttermilch. Diese roch irgendwie ganz anders als Kuhmilch. Irgendwie lieblicher. Kuhmilch mochte Rosi gar nicht. Und Ziegenmilch musste sie ja nicht trinken. Die war für die kleinen Zicklein.
Zippi und Zappi standen bewegungslos auf einem Berg Heu. Die kleinen, noch ganz flauschigen, weißen Zicklein saugten genüsslich an ihren Zitzen.
Auf Zehenspitzen lief Rosi zu Zippi und Zappi. „So“, sagte sie, während sie Zippi und Zappi abwechselnd streichelte, „ich bin wieder da. Ich habe euch so vermisst. Ihr seid jetzt nicht mehr klein. Ihr seid jetzt die Geißen. Also, die Eltern.“
Zippi und Zappi meckerten vor Freude, Rosi wiederzusehen. Sie hatte sie nicht vergessen. Zappi wagte sogar einen kleinen Hüpfer. Die jungen Zicklein störte das nicht. Sie saugten einfach weiter.
„Wie heißen die denn“, wollte Rosi wissen.
„Namen haben die noch nicht“, sagte Jutta. „Wir haben auf dich gewartet. Du hast doch immer die Ideen“, scherzte sie.
„Aber wir haben jetzt ein Ziegengeschirr. Von Onkel Metzner“, sagte Karlchen aufgeregt. „Damit können wir Zippi und Zappi vor den Handwagen spannen. Das heißt, wenn wir von den Wiesen wieder das Heu holen.“
„Das ist kein Heu“, widersprach Jutta. „Das sind doch die Blumen und die Gräser. Wir müssen sie nur trocknen. Damit es Heu wird.“
„Aber ich muss trotzdem lenken“, sagte Karlchen. „Sonst wissen die Ziegen doch gar nicht, wo sie hin sollen.“
„Na wir werden sehen“, sagte Rosi. „Bestimmt müssen sie erstmal noch eine Weile bei ihren Kindern bleiben.“

***

Fortsetzung folgt
 
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