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4 Seiten

Tom

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Der Weg zum Sommer hin ist immer aufregend. Die Zeit des Erwachens ist vorbei; das Leben ist wieder da; alles ist grün; es gibt Wärme, Sonne und Freude. Das Licht strahlt in die Herzen der Menschen hinein. Das Leben fühlt sich wieder leicht an. Beschwingten Schrittes gehen die Menschen ihren Tätigkeiten nach; ihren Hobbys; ihren Neigungen. Sie lachen miteinander, und die Kälte des Winters scheint so fern zu sein; soweit weg, als sei es ein anderes Leben gewesen. Ein Leben, das nichts mehr mit dem Jetzigen zu tun hat. Der Weg in den Sommer hinein scheint wie eine Art Wiedergeburt zu sein, jedes Mal wieder aufs Neue. Und das Leben davor scheint vollständig vergessen. Man existiert nur noch im Hier und Jetzt; im Sein; in der Bewegung.

Tom erkennt, wie es den Menschen um ihn herum in dieser Jahreszeit geht. Er kann es nachfühlen; er kann es nachempfinden. Doch er kann es für sich nicht verwirklichen. Zu tief sitzt in ihm das Gefühl, das das Hinterfragen seiner Existenz – ja der Existenz überhaupt, hinterlassen hat. Es lässt ihn einfach nicht los. Es hält ihn in seinem eisigen Griff gefangen, egal, wohin er geht; egal, wohin er sich wendet. Sein Bewusstsein kommt davon einfach nicht weg. Es zerrt an ihm. Ständig. Es lässt ihn alles hinterfragen; stets nach einem Sinn suchen; ihn hinter die Dinge blicken; auch hinter das Sein. Doch es bleibt leer, sosehr er auch versucht, es zu füllen. Und er versucht es. Die Sehnsucht danach ist groß. Denn diese Leere fühlt sich für ihn wie eine Art Vakuum an, das gefüllt werden möchte; das alles um sich herum ansaugt; zu sich in seine Mitte zieht. Von sich aus.

Einem Monster gleich, das lauert; das mit den Hufen scharrt, und stets nur darauf wartet, endlich losgelassen zu werden, um endlich seine vernichtenden Fragen stellen zu können.

Tom sitzt an einem Badesee auf einem Steg. Heute ist es fast 30 Grad im Schatten. Er sitzt im Schatten. Dennoch fühlt er die Wärme in der Luft, so als befinde er sich in einem Backofen. Oder in der Hölle? Wie um alles in der Welt kann man hier Freude empfinden; kann man sich an solch einem schrecklichen Ort gehen lassen? Gar Spaß haben?

Nicht weit von ihm toben Teenager miteinander; lachen; ärgern sich gegenseitig; spritzen sich gegenseitig mit Wasser an. Es sind keine Kinder mehr, aber auch keine Erwachsenen. Irgend so ein Zwischending. Sie sind körperlich stark; haben sich geistig schon soweit entwickelt, dass sich ihr Bewusstsein vom Moment; vom Augenblick losgelöst hat; können planvoll handeln; werden langsam für das eigene Tun verantwortlich. Sie wollen jetzt wissen, was man mit diesen neuen Fähigkeiten so alles anstellen kann. Sie probieren sich aus. Messen sich untereinander. Fragen sich, wer der Stärkere von ihnen ist und was das überhaupt ausmacht. Doch wozu? Wohin soll dies alles führen? Was werden sie am Ende davon haben? Alles endet doch immer nur gleich: im Nichts. Höchstens die Erinnerung flackert noch eine Weile auf. Doch auch diese wird irgendwann vollständig erloschen sein.

Tom seufzt. Er schaut über das Wasser. Die Sonne spiegelt sich darin und blendet ihn. Er muss die Augen etwas zukneifen. Er überlegt sich ernsthaft, wo er von seinen vielen Fragen überhaupt jemals Ruhe finden könnte. Weshalb ist er überhaupt da? Was ist seine Aufgabe? Hier zu sitzen, sich das Treiben um sich herum anzusehen, und sich über Sachen Gedanken zu machen, die ansonsten kaum jemanden juckt? Was könnte die Gesellschaft davon haben, wenn sie es ihm Gleich täte? Eine kollektive Depression? Davon hätte doch nun wirklich niemand etwas.

Vergessen, täte ihm wahrscheinlich ganz gut. Doch wie kann er seine Fragen vergessen, die ihn überall hinbegleiten? Selbst hier an diesen Ort, von dem die meisten Menschen wohl sagen würden, dass es ein Ort zum Wohlfühlen ist; zum „Seele baumeln lassen“, wie man so schön sagt. Im Grunde möchte er gar nicht, dass ihn jemand dabei begleitet. Er möchte diese Reise alleine begehen. Vielleicht nicht unbedingt meistern, denn zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ist noch völlig unklar, wohin dies alles führen wird. Doch er möchte es be-stehen. Und das, ganz egal wohin es führt. Denn es ist seine Reise. Seine Aufgabe, die ihm sein Leben gestellt hat.

Plötzlich sieht er Hanna am Steg vorbeigehen, und wendet sich abrupt ab, weil es ihm einen seltsamen Stich ins Herz versetzt. Ein Schock. Ein inneres Reißen. Ein Ziehen. Ein Beben. Das Monster in ihm scheint ihm abrupt die Kehle zu zuschnüren; sein Gehirn zu zerdrücken; zu zerquetschen, bis es nur noch Matschepampe ist. Auf einen Schlag wird ihm klar, dass diese Frau schon immer ein Fehler in seinem System gewesen ist; ein ERROR mit ganz großen roten Lettern geschrieben. Etwas, das einfach nicht stimmig ist; nicht passt; nicht dazugehört – oder besser gesagt: nicht dazugehören darf. Etwas, das seine Ordnung ins Wanken bringt; sein Herz schlagen lässt; seine Gedanken umhüllt; ihn nicht mehr loslässt. Es war ein Lächeln, das sie ihm zugeworfen hat. Oder vielleicht jemand anderem? Schüchtern schaut er hinter sich. Nein, hinter ihm ist niemand. Das Lächeln hat ihm gegolten; ihm ganz alleine. Hanna hat ihn angelächelt, und es hat ihn zutiefst verunsichert. Zufällig ist sie hier vorbeigekommen. Er kennt sie noch von früher. Eine Frau, jetzt, die ihm wahrscheinlich aus irgendeinem Grund schon immer aufgefallen war, die er aber bisher anscheinend einigermaßen erfolgreich verdrängt hat.

Nur ganz langsam lässt das Monster in ihm wieder etwas lockerer; sein Gehirn wieder etwas freier. Ein Zeichen, dass die Gefahr jetzt langsam wieder vorüber geht – im wahrsten Sinne des Wortes.

Sind sich Frauen überhaupt darüber im Klaren, was sie im Stande sind, in uns auszulösen? Tom ist sich nicht sicher. Er fühlt sich noch immer erschöpft. Seine Schutzmauer, die er über all die Jahre in sich aufgebaut hat, hatte gerade einen erheblichen Riss erhalten. Es muss geflickt werden. Schnell. Ansonsten droht ein Dammbruch. Und wer weiß, wohin das führen kann? Er will schnellstmöglich wieder in seine alte Welt zurück. Vollständig. Ohne Risse. Ohne, dass diese in irgendeiner Weise von außen bedroht ist. Sie soll vollkommen sein. Er hat schon immer nach Vollkommenheit gestrebt. Es soll ein Schutzpanzer gegen die Bedürfnisse sein; gegen das Wollen – ja, gegen das Sein an sich. Denn er verachtet das Sein. Er will es nicht. Wollte es noch nie haben. Schon als Kind war er schüchtern gewesen. Introvertiert. Hatte in seiner eigenen Welt gelebt. Hatte diese sorgfältig aufgebaut und eine riesige Schutzmauer drumherum gezogen. Eine Burg. Eine uneinnehmbare Festung.

Er schaut über das Wasser und sieht einer Ente zu, wie sie gemächlich vorbeipaddelt. Sie hatte ihn wohl zuvor um einen Brotkrumen in der Hoffnung angebettelt, dass er so etwas, wie wohl viele andere Menschen auch, die vor ihm hier auf dem Steg gesessen haben, dabeihatte. Er hatte die Ente nicht bemerkt, weil er in einem Zustand gewesen war, in dem er nicht allzu viel um sich herum wahrnehmen kann. Doch jetzt kommt er langsam wieder zurück; zu sich; ist der Riss in ihm einigermaßen gekittet; ausgebessert und bald vielleicht sogar noch etwas gestärkt worden. Er kann sich nicht vorstellen, dass es irgendwie anderes sein könnte, als es ist. Seine Welt ist ihm vertraut. Er hat sie irgendwie auch liebgewonnen. Nirgendwo anders möchte er je wieder sein.

Hanna fühlt sich ganz ähnlich, wie er. Sie fühlte sich ihm schon immer verbunden. Deshalb hatte sie ihn angelächelt, als sie ihn zufällig hier am See auf dem Steg erblickt hatte. Doch Tom wird das niemals herausfinden.
 
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